DIE EHEZWECKE
Eine soziologische Analyse moraltheologischer Theorien
von Wigand Siebel und Bernhard Schach
Übersicht - Inhaltsangabe:
1. Die traditionale Lehre 2. Umdeutungen der traditionalen Lehre
a) moraltheologische Lehrmeinungen b) Pastoralkonstitution "Gaudium et spes"
3. Soziologische Kritik Übersicht
a) Funktionen der Familie b) Individuelle und systematische Standpunkte c) Die Familie als moralische Einheit
4. Schlußfolgerungen
1. Die traditionale Lehre
Die traditionale Lehre über die Ehezwecke wird nach allgeneiner Überzeugung in Can. 1013 § 1 des im Jahre 1918 in Kraft getretenen kirchlichen Gesetzbuches (CIC) zum Ausdruck gebracht. Es heißt dort: "Erster, vorrangiger Ehezweck (finis primarius) ist die Zeugung und Erziehung von Kindern (procreatio atque aducatio prolis); zweiter, zweitrangiger Ehezweck (finis secundarius) ist die gegenseitige Hilfe (mutuum adiutorum) und das Heilmittel für die Begehrlichkeit (remedium concupiscentiae)".
Diese Lehre wird von Dogmatikern als "sententia certa", d.h. als sichere kirchliche Glaubenslehre bezeichnet (1).
In Übereinstimmung damit betonte das 1944 vom Heiligen Gffizium herausgegebene "Decretum de finibus matrimonii" mit Nachdruck die Vorrangstellung der Weitergabe des Lebens (2). Den zweitrangigen Ehezwecken kommt gegenüber dem Hauptziel der Ehe eine "gewisse Unäbnängigkeit" (3) zu. Die traditionale kirchliche Eheauffassung gründet sich hauptsächlich auf Überlegungen zur Natur des Menschen und wird als eine Konsequenz der Bewertung der Geschlechtlichkeit innerhalb der Ehe entwickelt. So betrachtet Thomas von Aquin die Arterhaltung, d.h. die Erzeugung und Erziehung von Nachkommen, als ersten Zweck (finis principalis) der Ehe. Dieses Ziel teilt der Mensch mit allen Lebewesen, während der zweite Zweck (finis secundarius) der Ehe, die gegenseitige Treue, ein Spezificum des Menschen (im Gegensatz zum Tier) darstellt (4). Die Treue als sekundärer Zweck der Ehe ergibt sich nach Aristoteles aus der Gemeinsamkeit der lebensnotwendigen Tätigkeiten in der Ehe. Für den getauften, gläubigen Menschen liegt schließlich der dritte Zweck (finia tertius) der Ehe in ihrer Sakramentalität. Als sekundärer Zweck wird neben der gegenseitigen Hilfe auch das "remedium concupiscentiae" genannt (4a).
Die Lehre von den Ehezwecken stellt keinesfalls eine Beschreibung des Wesens oder eine ausreichende Definition der Ehe dar, bildet aber natürlich einen wichtigen Bestandteil für solche Überlegungen. Zur Definition der Ehe sei auf den römischen Katechismus verwiesen, der 1566 im Auftrag des Konzils von Trient zuerst veröffentlicht wurde. Dieser spricht von der ehelichen Verbindung (maritalis conjunctio) und der unzertrennlichen Lebensgemeinschaft (5). Das Wesen der Ehe besteht in diesem Bande (6), durch das die Menschen mehr als durch alle anderen menschlichen Verbindungen miteinander verknüpft werden und in dem Manne und Weib "durch die höchste Liebe und Zuneigung unter sich verbunden sind" (7).
2. Umdeutungen der traditionalen Lehre
a) Moraltheologische Lehrmeinungen
Die ersten Angriffe gegen die noch in einem Urteil der Rota vorn 22.1.1944 ausdrücklich bekräftigte Lehre über die Ehezwecke (8) wurden, wie Höffner darlegt, in der Mitte des vorigen Jahrhunderts geführt. Der Katholikenführer Peter Franz Reichensperger betrachtete dis "allseitige Beglückung und Veredelung des Menschen" als "innere, eigentliche Bestimmung" der Ehe, während die Weitergabe des Lebens nur als "akzessorischer, nicht absolut wesentlicher Zweck" der Ehe gedeutet wurde (9).
Nach Ratzinger handelt es sich bei der traditionalen Ehelehre um eine "rein finalistische, naturale, generative und institutionelle Sicht der Ehe", die "sich in der katholischen Moraltheologie bis ins 20. Jahrhundert behauptete". Die "personalistische Sicht" der Ehe vermochte sich erst seit dem Ende des ersten Weltkrieges stärker durchzusetzen (1O), Zu nennen sind hier neben Fidelis Schwendinger und Norbert Rocholl vor allem Herbert Doms (11), deren Gedanken von Bernhard Häring und Josef Reuß weitergeführt wurden (12). Rocholl wendet sich gegen die Ansicht der "älteren Theologie", die "aus zeitgeschichtlichen Bedingungen heraus die Erzeugung von Nachkemmenschaft und ihre Erziehung, als den hauptsächlichsten und ersten Zweck der Ehe" betrachtete, sie sei "in dieser Form nicht mehr haltbar", da sie "weder der ehelichen Gemeinschaft,noch der Frau" gerecht werde (13). Die von Schwendinger eingenommene personalistische Sichtweise der Ehe beruht auf der Grundannahme, daß die interpersonelle Beziehung zwischen den Ehepartnern ("Ich-Du-Gerneinschaft") "das Primäre" der Ehe sei. "Es ist nicht erst ein Drittes, außer Mann und Weib Gelegenes, worauf sie gemeinsam hinblicken, das sie erst zu einem Wir verbände. Ehe meint primär Liebesvereinigung zwischen Ich und Du unmittelbar (14). Daraus glaubt er die "Lebensgemeinschaft und Lebensbereicherung der Gatten selber als ersten Zweck und Sinn der Ehe (...), das Kind als zweiten" (15) erschließen zu können.
Herbert Doms geht es m erster Linie um die Frage nach dem finis operis des ehelichen Aktes, also nicht unmittelbar um die Ehezwecke. Er wendet sich mit Recht gegen die Auffassung, daß der finis primarius matrimonii auch zum finis operis primarius des ehelischen Verkehrs erklärt wird (16). Der eheliche Akt stellt vielmehr einen hohen personalen Wert dar, der sein Ziel in erster Linie im Ausdruck der Liebe der Ehegatten hat (17). Doms nimmt also nicht selbst eine Umdeutung der traditionalen Lehre vor, sondern wendet sich gegen deren unzulässige Verkürzung. Man kann, der Argumentation Joseph Höffners folgend, die in der Moraltheologie übliche gerechtfertigte Trennung zwischen finis operis und finis operantis zur Klärung der Ehezwecke einführen. Es fragt sich jedoch, ob man dann neben der "Weckung und Entfaltung neuen Lebens" ("finis operis primarius"), die "Lebens- und Liebesgemeinschaft" von Mann und Frau als "finis operis secundarius" bezeichnen darf (18). Die "Weckung und Entfaltung neuen Lebnes" ist sicher ein Ziel der Ehe, aber ist auch die Liebesgemeinschaft der Ehe ein Ziel der Ehe? Von den "fines operis'' losgelöst sind die "fines operantis". So wird das "finis operis primarius" zum "finis operantis secundarius" und das "finis operis secundarius" zum "finis operantis primarius". D.h. Hauptzweck der Ehegatten ist nach Höffner die gegenseitige innere Formung, an zweiter Stelle steht meistens der Wille zum Kind (19).
Um die Trennung zwischen den Zielen der Sozialeinheit (fines operis) und den Zielen der Mitglieder (fines operantium) zu begründen, argumentiert Höffner, daß "in der modernen Gesellschaft die Brautleute meistens ihren Lebensbund nicht an erster Stelle des Kindes wegen schließen "(20). Dabei wird übersehen, daß gerade heute ein beträchtlicher Prozentsatz der Ehen geschlossen wird, nachdem bereits ein Kind gezeugt worden ist, d.h. diese Ehen werden an erster Stelle des Kindes wegen geschlossen. Dies geschieht doch wohl aus der allgemein akzeptierten Überzeugung heraus, daß die Sozialisation des erwarteten Kindes am besten innerhalb des Schutzes der Familie vonstatten geht. Die Frage stellt sich jedoch, ob Höffner nicht unversehens die Ziele der Ehegatten, von denen er zuerst spricht, mit den Zielen der Heiratswilligen verwechselt. Damit könnte sich auch der merkwürdige Widerspruch in der Rangfolge der Ziele bei den beiden Zielarten erklären.
Auch in die Eheenzyklika "Casti connubii" Papst Pius' XI. vom 31. Dezember 1936 haben ähnliche Unklarheiten Eingang gefunden: "Die gegenseitige innere Formung der Gatten, das beharrliche Bemühen, einander zur Vollendung zu führen, kann man, wie der Römische Katechismus lehrt, sogar sehr wahr und richtig als Hauptgrund und eigentlichen Sinn der Ehe bezeichnen. Nur muß man dann die Ehe nicht im engeren Sinne als Einrichtung zur Zeugung und Erziehung des Kindes, sondern in weiteren als volle Lebensgemeinschaft fassen" (21), wobei nicht dargelegt wird, worin die Sinnziele jener "vollen Lebensgemeinschaft" bestehen.
War die traditionale Ehelehre immer schon von außerhalb der Kirche befindlichen Positionen heftig attackiert worden, so ist es seit Ende der 5Oiger Jahre geradezu kennzeichnend, daß diese Angriffe von namhaften Moraltheologen ausdrücklich geführt werden. Die bisherige Ehelehre erscheint dabei als überholt, einseitig und für die neuen Bedürfnisse der Zeit als unbrauchbar. Viele dieser Theologen handelten dabei wohl aus der Grundüberzeugung heraus, daß den immer stärker sichtbar werdenden Auflösungserscheinungen von Ehe und Familie (hohe Scheidungsrate, geringe Kinderzahl) nur durch eine Anpassung der kirchlichen Ehelehre an das konkrete soziale Klima begegnet werden könne. So meint z.B. Bernhand Häring: (22) "Eine einseitig am bloß biologischen Sachverhalt der Natürlichkeit der Ehe oder an den aristotelischen Kategorien 'Zweck und Mittel zum Zweck' orientierte 'Ehe-Zweck-Lehre', die im Grunde mit der ehelichen Liebe nicht viel anzufangen weiß, kann den Kampf gegen die modernen Sirenengesänge der Sinnlichkeit und des bloßen Nützlichkeitsstandpunktes nicht aufnehmen. Gelingt es dagegen der kirchlichen Moralverkündigung, alles, sowohl den Dienst als Leben wie die absolute Treue und die gegenseitige Heilsverantwortung, vom großen Geheimnis der Liebe her darzustellen, und so die fruchtbare und beglükkende Tiefe der sakramentalen Ehe aufzuzeigen, dann werden die Gläubigen leichter die Hohlheit und Gefährlichkeit jener vielgepriesenen 'Liebe' durchschauen, die den Dienst am Leben grundlos abweist und nur Treue auf stetigen Widerruf verspricht".
b) Die Pastoralkonstitution "Gaudium et spes"
In der Auseinandersetzung über die Ehezwecke stellt die von der Bischofsversammlung (1962-1965) im Vatikan erarbeitete Ehelehre, die als Teil der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt ("Gaudium et spes") erschien, einen wichtigen Einschnitt dar. Der vor Beginn erstellte Entwurf über die Frage dor Ehemoral hielt nach Ratzinger "in rigoroser Strenge die alte institutionalistische und naturalistische Position fest" (23). Jedoch setzten sich im Verlaufe der äußerst scharfen Diskussion unter den Bischöfen und Beratern die fortschrittlichen Kräfte durch.
Die Ehelehre wird in den Artikeln 47-52 behandelt. Nach den Artikeln über "Ehe und Familie in der heutigen Welt" und über die "Heiligkeit von Ehe und Familie" wird in Artikel 49 über die "eheliche Liebe" und erst in Artikel 50 über die "Fruchtbarkeit der Ehe" gesprochen. Am meisten Beachtung hat der Schlußabschnitt von Artikel 50 gefunden. Es heißt dort: "Die Ehe ist aber nicht nur zur Zeugung von Kindern eingesetzt, sondern die Eigenart des unauflöslichen personalen Bundes und das Wohl der Kinder fordern, daß auch die gegenseitige Liebe der Gatten ihren gebührenden Platz behalte, wachse und reife" (24). Allgemein ist festzustellen, daß die Aussagen der Pastoralkonstitution über die Ehezwecke äußerst vage und unscharf sind. Sowohl auf eine Definition als auch auf eine Hierarchisierung der Eheziele wird bewußt verzichtet, während die Bedeutung der personalen Liebe der Ehegatten deutlich herausgehoben wird, wie das Zitat aus Artikel 50 erkennen läßt.
Bemerkenswerterweise wird aber in dem über die eheliche Liebe behandelnden Artikel 49 nur wenig über die Liebe selbst gesagt. Es heißt dort, daß sich die Liebe "mit Wille und Gemüt von Person auf Person richtet", daß sie "das Wohl der ganzen Person" umgreift und daß sie zu "freiwilliger gegenseitiger Hingabe" führt. Schließlich wird festgestellt, daß diese Liebe durch den "eigentlichen ehelichen Vollzug in besonderer Weise ausgedrückt und verwirklicht werde". Was aber der eigentliche Inhalt der Liebe ist, wird überhaupt nicht zum Ausdruck gebracht. Es scheint, als habe man nur einen mehr oder weniger verschwommenen romantischen Liebesegriff vor Augen gehabt.
Die Pastoralkonstitution wird fast immer als Ausdruck eines Wandels des Ehebildes (25) interpretiert. Ganz besonders ist bemerkt worden, daß im Artikel 49 über die "eheliche Liebe" und erst in Artikel 50 über die "Fruchtbarkeit der Ehe" gesprochen wird, Jakob David versteht die Ehelehre der Pastoralkonstitution als gegen die Ausaagen des kirchlichen Gesetzbuches gerichtet. Die einseitige und allzu enge Sicht des kirchlichen Gesetzbuches, "die dem liebenden Gattenverhältnis keine Aufmerksamkeit schenkt, wird im neuen Konzilstext, in engen Anschluß an die Heilige Schrift, wesentlich ergänzt. An die erste Stelle der Ehezwecke - Sinngehalte der Ehe - tritt betont und ausführlich die Liebe. Nicht von der Nachkommenschaft, sondern von der Liebe zwischen Mann und Frau ist an erster Stelle und am ausführlichsten die Rede" (26).
An anderer Stelle heißt es vorsichtiger: "Der neue Konzilstext entscheidet die Frage nicht - dreht aber faktisch die bisher übliche Reihenfolge einfach um" (27). Auch Johannes Gründel versteht die Pastoralkonstitution als einen Angriff gegen das kirchliche Gesetzbuch. Er stellt fest, es sei in der Konstitution mehrmals "darauf hingewiesen, daß die Ehe eben nicht nur die Zeugung zum Ziele hat, sondern Liebesgemeinschaft ist" (28).
Nach Ratzinger ist zu bemerken, daß "die Deutung der Ehe von der partnerschaftlichen Liebe her der Einseitigkeit nicht entrinnt. Sie ist überhaupt nur auf dem Hintergrund der Kultur des Personalen, der vollen Emanzipierung des einzelnen verständlich, wie sie sich in Europa seit dem 19. Jahrhundert durchgesetzt hat. Die afrikanischen Bischöfe fanden auf dem Konzil diese Philosophie der Liebe schön, aber als Theologie der Ehe war sie innen unverständlich und irreal" (29).
Betrachtet man die Pastoralkonstitution genauer, so stellt sie ein Musterbeispiel für Unklarheit und Verschwommenheit dar. Besonders gut läßt sich das an dem oben zitierten Satz aus Artikel 50 nachweisen. Wenn die Ehe "nicht nur zur Zeugung von Kindern eingesetzt" ist, wozu ist sie dann noch eingesetzt? Der Satz gibt darauf keine klare Antwort. Denn die Ehe kann ja nicht zu dem Ziel eingesetzt sein, daß die gegenseitige Liebe der Gatten sich betätige. Wenn die Liebe der Gatten sich betätigt, dann ist die Ehe jedenfalls bereits da und kann nicht mehr zu diesem Zweck eingesetzt werden. Sollte aber gemeint sein, daß die Ehe eingesetzt sei, damit man sich überhaupt lieben könne, so widerspricht das aller Vernunft und Erfahrung. Jedenfalls muß aber aus dem Satz herausgelesen werden, daß die Liebe zu den Ehezwecken gerechnet werden soll.
Wenn also die Pastoralkonstitution weder eindeutig das Ziel (bzw. die Ziele) der Ehe angibt, noch deren Rangfolge, so bleibt zu untersuchen, ob überhaupt alle Ehezwecke der traditianalen Lehre in ihr genannt sind. Dabei zeigt sich bemerkenswerterweise, daß der dritte Ehezweck, nämlich Heilmittel der Begierlichkeit (remedium concupiscentiae) zu sein, vollständig verschwiegen wird. Ist dieser Ehozweck überflüssig oder gar falsch? Keinesfalls kann für die Weglassung argumentiert werden, dieser Ehezweck gehe in der gegenseitigen Unterstützung der Ehegatten oder in der ehelichon Liebe auf. Denn hier ist ja die Frage gestellt, wie erstrebenswert die Ehe überhaupt ist. Wenn sie ein rechtmäßiges und gutes Heilmittel gegen die Begierlichkeit ist, so ist es doch nicht ausgeschlossen oder sogar besser; die Begierlichkeit durch andere Heilmittel zu bekämpfen, wenn man der Heilmittel überhaupt bedarf. Hier sagt z.B. der römische Katechismus in aller Klarheit: Es "zwingt nicht nur kein Gesetz jemand, zu heiraten, sondern es wird vielmehr die Jungfräulichkeit aufs Höchste empfohlen und einem jeden in der Heiligen Schrift geraton, weil sie vortrefflicher ist als der Ehestand und größere Vollkommenheit und Heiligkeit in sich schließt".(30)
Die Pastoralkonstitution bemerkt zu diesem Thema nur: "Die Kinder sollen so erzogen werden, daß sie, wenn sie erwachsen sind, in voller Verantwortung ihrer Berufung, auch einer geistlichen, folgen und den Lebensstand wählen können, indem sie, wenn sie heiraten, eine eigene Familie gründen können". (31) Das Schweigen über diesen Sachverhalt in der Ehelehre bewirkt, daß die Ehe selbst von denen, die sie anstreben und von denen, die sie eingegangen sind, nicht mehr richtig gewertet wird.
Schließlich fällt bei einer weiteren Prüfung auf, daß die Ehelehre der Pastoralkonstitution in einem zusätzlichen wichtigen Punkt mit der traditionalen Lehre nicht mehr übereinstimmt: Es ist überhaupt nicht mehr erwähnt, daß der Mann das Haupt der Familie ist. Dies aber sagt die Heilige Schrift ausdrücklich und ist stets so gelehrt worden. Der Mann ist das Haupt der Frau wie Christus das Haupt der Kirche ist (32). Unter Hinweis auf Eph. 5,22 wird gesagt, daß die christliche Familie "das Bild und die Teilhabe an dem Liebesbund Christi und der Kirche ist" (33). Aber warum die christliche Ehe das Bild des Liebesbundes Christi und der Kirche ist, diese zentrale Idee wird nicht mitgeteilt.
Faßt man alle Umdeutungen, Verschiebungen und Unterlassungen in der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" gegenüber der traditionalen Lehre zusammen, so fällt es schwer, darin nicht einen zwar verdeckten, aber doch vehementen Angriff gegen das, was die katholische Kirche bis dahin auf dem Gebiet der Ehe gelehrt hatte, zu sehen. Jedenfalls ist es wohl keine kurzschlüssige Folgerung, wenn man annimmt, daß diese neue Ehelehre zur Zerrüttung des Glaubensbewußtseins in hohem Maße beigetragen hat.
3. Soziologische Kritik
a) Funktionen der Familie
Die Frage nach den "Ehezwecken" ist sicher ein legitimer Bestandteil moraltheologischen Denkens und Forschens. Soweit die "Ehezwecke" aber rein natürliche Zielsetzungen umfassen - und das ist in aller Regel ausschließlich der Fall - gehört dieser Gegenstand eigentlich und dem Schwergewicht nach in den Bereich der Soziologie hinein. Es wäre also durchaus naheliegend, wenn der Theologe sich bei der Soziologie über diesen Gegenstand informierte und ihn dann erst in seine eigene Wissenschaft einbrächte.
Die Theorie der "Ehezwecke" findet sich in der Soziologie unter dem Thema der "Funktionen" der Familie (bzw. der Ehe). Es ist verständlich, daß die Übereinstimmung der Soziologen untereinander über dieses Thema nicht so groß sind wie die der Moraltheologen, weil die Bedeutung des Themas für sie nicht gleiche Gewichtigkeit hat. Andererseits finden sich doch beträchtliche Gemeinsamkeiten. Es seien zwei solcher Funktionsaufzählungen genannt.
William J. Goode hat als Funktionen der Familie bezeichnet (34):
1. die Reproduktion, 2. die physische Erhaltung der Familienmitglieder, 3. die soziale Plazierung des Kindes, 4. die soziale Kontrolle,
Zu fünf Funktionen kommt Friedhelm Neidhardt (35):
1. Reproduktion, 2. Sozialisation, 3. Plazierungsfunktion, 4. Haushalt- und Freizeitfunktion, 5. Familiärer Spannungsausgleich.
Mit der Reproduktionsfunktion, die in beiden Besispielen an erster Stelle steht, ist nichts anderes gemeint, als die Erzeugung von Kindern zur Erhaltung der menschlischen Gesellschaft. Die Sozialisation, eng verbunden mit der Plazierungsfunktion, bedeutet die Erziehung des Kindes, damit es einen angemessenen Platz in der Gesellschaft einnehmen kann. Wo aber bleibt die Funktion der Liebe der Ehegatten untereinander? Es scheint fast so, als hätten die Soziologen noch nichts von den neueren Entwicklungen der Moraltheologie gehört und wären noch auf dem traditionalen Standpunkt stehen geblieben. Der Gerechtigkeit halber aber muß festgehalten werden, daß die Liebe für den Soziologen kaum ein Thema ist. Man weiß zwar, daß das Kleinkind eine "emotionale Fundierung" braucht, aber die "Liebe" in den einzelnen Sozialeinheiten geht unter in Begriffen wie "Funktionalität" oder "Integration", womit das Streben nach Einheit und die Erfüllung der zur Einheit führenden Ziele gemeint ist. In den Funktionsaufzählungen kann allenfalls der "familiäre Spannungsausgleich" dem Bereich der "Liebe", besser aber wohl dem der "gegenseitigen Hilfeleistung" zugerechnet werden.
Will man einen präzisen Funktionsbegriff für die Analyse von Sozialeinheiten, so bleibt wenig anderes übrig als die Funktion in einem Leistungsbeitrag der betrachteten Sozialeinheit zu der übergeordneten Sozialeinheit zu sehen. Was also leistet die Familie für die Gesellschaft (den Stamm, die Gemeinde, den Staat, die Menschheit)? Die Antwort ist eindeutig und begrenzt zu geben: Die Leistung der Familie besteht in der Erzeugung und Erziehung von Kindern. Weitere Funktionen in diesem präzisen Sinne hat die Familie nicht.
Erst wenn man das Innenverhältnis in der Familie betrachtet - also nicht die Leistungen, die die Familie an die umgebende Gesellschaft abgibt, sondern diejenigen Leistungen, die die Mitglieder erhalten - ergeben sich weitere Funktionen, wozu die physische Erhaltung und die geistig-moralische Erhaltung und Formung gehören.
Ist die Liebe eine Leistung, die die Familie, bzw. Ehe im Außen- oder Innenverhältnis erbringt? Die Frage ist ohne jeden Vorbehalt zu verneinen. Wenn die Liebe aber nicht zu den Funktionen und folglich auch nicht zu den "Ehezwecken" gehört, worin besteht sie dann? Die Liebe ist jedenfalls ein fundamentales Strukturmoment jedes Sozialsystems, d.h. jeder Sozialeinheit, die Mitglieder in vollem Sinn besitzt.
b) Individuelle und systematische Standpunkte
Die zu lösende Aufgabe besteht darin, die verschiedenen Standpunkte, die man im Hinblick auf eine Familie (bzw. Ehe) einnehmen kann, herauszuarbeiten. Dann dürfte sich die Stellung der Liebe deutlicher zeigen. Bevor man Standpunkte in einem oder zu einem Sozialsystem einnehmen kann, muß man das Sozialsystem als solches voraussetzen und seine Strukturen wenigstens in den wichtigsten Hinsichten kennen. Zur Struktur der Ehe gehört, wie zu jedem Sozialsystem folgendes (36):
Es sind wenigstens zwei Mitglieder gegeben, die ihre Gemeinsamkeit, d.h. ihr Sozialsystem, bejahen. Dies ist eine notwendige Voraussetzung, denn nur wenn wenigstens zwei Personen ihre Gemeinsamkeit wollen, werden sie zur Erhaltung und Stärkung der Sozialeinheit bereit sein. Gerade hierin liegt nun der entscheidende Inhalt der Liebe, sie strebt nänlich nach Vereinigung (37). Die Liebe im hier gemeinten Sinne besteht also in dem Willen, der auf die Bildung einer Einheit mit einer anderen Person oder mit mehreren abzielt. Alle Handlungen, die auf dieses Ziel und damit auf die Begründung oder Festigung der Sozialeinheit ausgerichtet sind, können der Liebe zugerechnet werden.
Aus dem Willen zur Erhaltung und Stärkung der Sozialeinheit ergeben sich die Normen, d.h. die Anforderungen an die Mitglieder, bestimmtes zu tun bzw. zu unterlassen, was der Aufrechterhaltung der Sozialeinheit dient bzw. ihr schadet. Die Sozialeinheit besitzt gegenüber den Mitgliedern eine relative Selbständigkeit. Während die Normen von der Sozialeinheit ausgehen, gehen umgekehrt die Interessen, d.h. die Anforderungen an das Sozialsystem, von den Mitgliedern aus. Sowohl kann das Sozialsystem berechtigte Forderungen an die Mitglieder als auch können die Mitglieder berechtigte Forderungen an das Sozialsystem stellen.
Die Liebe als Wille, eine Sozialeinheit mit anderen Personen zu bilden bzw. zu erhalten, ist danach ein derart vorwendiger Bestandteil eines Sozialsystems, daß es ausgeschlossen ist, über soziale Zusammenhänge zu sprechen, ohne die Liebe in irgendeiner Form vorauszusetzen. Das aber bedeutet zugleich, daß es ausgeschlossen ist, von der Liebe her ein Sozialsystem zu kennzeichnen. Die Liebe ist für die Freundschaft (Freundesliebe), für die Verwandtschaft (Verwandtenliebe), für das Vaterland (Vaterlandsliebe) ebenso unentbehrlich wie für die Ehe, ob man das nun zu sagen für opportun hält oder nicht. Von der Liebe als Strukturelement von Sozialeinheiten ist begrifflich zu trennen der Bereich der Liebeserweise, d.h. der Bereich der Ausdrucksformen und Bestätigungen der Liebe. Jede Liebe braucht, um erhalten zu bleiben, ständig immer wieder Liebeserweise. Sie drücken aus, daß man die Einheit mit den Geliebten nach wie vor will und daß man sich der Gemeinsamkeit und zugleich der anderen durch die Geschenke der Liebeserweise hingibt. Es handelt sich hier um Identifizierungsakte mit der Ehe und zugleich mit dem Ehegatten.
Zu diesen Liebeserweisen gehört in der Ehe in allererster Linie der eheliche Akt. Ihn primär als ein Mittel der Fortpflanzung anzusehen, bedeutet im Hinblick auf die Ehegatten dessen Pervertierung. Der eheliche Akt wäre dann als ein produktives Handeln, als Arbeit zu interpretieren, das der Produktion von Kindern gilt. Dagegen ist jeder Liebeserweis und besonders der eheliche Akt das gerade Gegenteil von Arbeit, nämlich ein ritueller Akt (38) par excellence. "Spiel" und Hingabe sind mit ihnen unaufhebbar verbunden. Das Entstehen des Kindes ist ein zusätzliches Geschenk, das aus der Darstellung der Einheit der Gatten fließt. Sind diese Vorfragen geklärt, so können die einzelnen Standpunkte gewonnen werden (39). Es gibt hiervon vier Arten:
1) Die individuellen Standpunkte im System, 2) den systematischen Standpunkt des betrachteten Systems, 3) den systematischen Standpunkt des Systems, das das betrachtete System umgreift und 4) den individuellen Standpunkt derjenigen, die erst in ein Sozialsystem als Mitglied eintreten wollen oder können.
Die individuellen Standpunkte im System sind die Standpunkte der Mitglieder des Systems. In der Ehe gibt es die Standpunkte des Ehemanns und der Ehefrau, in der Familie die Standpunkte des Vaters, der Mutter und der Kinder. Die individuellen Standpunkte können zusammengefaßt werden, z.B. kann man vom Standpunkt der Kinder, der Eltern oder der männlichen Mitglieder reden. Man hat dann Teilsysteme (Koalitionen). Von den individuellen Standpunkten aus werden vor allen Interessen formuliert.
Der systematische Standpunkt des betrachteten Systems bedeutet, sich an allen Teilen des Systens, den Mitgliedern, den Meinungen und Fähigkeiten, den sachlichen Mitteln, den Traditionen und an der Gesamtheit zugleich in einem hermeneutischen Prozeß zu orientieren und von hier aus zu handeln. Zwar kann und muß diesen Standpunkt jedes Mitglied wenigstens zeitweise einnehmen. Hauptsächlich ist die Einnahme dieses Standpunktes aber Sache der legitimen Autorität. Von hier aus sind auch die einzelnen Normen zu formulieren, die für die Mitglieder verpflichtend sein sollen. In der Familie ist die Einnahme dieses Standpunktes Sache der Eltern, besonders des Vaters.
Der systematische Standpunkt des Systems, welches das betrachtete System umgreift, ist bereits behandelt worden. Von hier aus können die Funktionen des betrachteten Systems und auch dessen Interesse im umfassenden Bereich formuliert werden, z.B. für die Familie deren Funktionen für die Gesellschaft.
Setzt man das System nicht als bestimmtes System, sondern nur als eine Möglichkeit voraus, so ergibt sich der vierte Standpunkt. Es ist der Standpunkt derjenigen, die ein bestimmtes System gründen oder in ein solches eintreten können. Von hier aus werden in der Regel die Interessen von Belang sein und damit die Überlegung, welche Vorteile die Mitgliedschaft bietet. Es kann jedoch eine Gründung bzw. ein Eintritt in ein Sozialsystcm auch aus der Befolgung einer übergeordneten Norm geschehen. Im Hinblick auf die Ehe sind hier die Ehefähigen und darunter besonders die Heiratswilligen gemeint.
c) Die Familie als moralische Einheit
Das Gewissen als diejenige Orientierung bzw. diejenige Instanz, durch die man zur Selbstbeurteilung gelangt, muß mit Normen gefüllt sein. Es ist selbstverständlich, daß diese Normen nicht allein vom Naturrecht und damit von der Menschheit vorgegeben sein können. Vielmehr sind im Gewissen Normen aller Sozialsysteme zu brücksichtigen, in denen der Handelnde Mitglied ist (40). Daraus folgt zweierlei:
a) Um die Normen eines Sozialsystems als für sich verpflichtend annehmen zu können, muß man zuvor das Sozialsystem und die eigene Mitgliedschaft darin ausdrücklich anerkennen. Solche Akte der Identifikation erfolgen vorzugsweise im rituellen Verhalten.
b) Um die verpflichtenden Normen klar zu erkennen, muß man sich auf den Standpunkt des eigenen Sozialsystems stellen. Nur von hier aus gelingt es auch, die eigene Rolle und die eigenen Taten zu beurteilen.
Keine Sozialeinheit fordert den keuschen - nicht nur das Kind - in gleicher grundlegender Weise zur Identifikation und zur Gewissensbildung so heraus, wie die Familie. Deshalb ist die Familie als eine fundamentale moralische Einheit zu begreifen. Die rituellen Akte des Mitglieds einer Familie bewirken aber nicht nur die individuelle Identifikation mit der Sozialeinheit, sondern sie sind zugleich auch gerichtet auf die Vereinigung von Personen, nämlich auf die Vereinigung von Mann und
Frau und der Kinder mit ihnen, ferner auf die Vereinigung der Herkunftsfamilien. Das rituelle Moment läßt sich in allen Bereichen der Familie finden, angefangen von den Begrüßungs- bis zu den Essensriten und den familialen Festen. Das gilt auch noch für die moderne Kleinfamilie (41). Wesentlicher Bestandteil des rituellen Verhaltens ist, wie bereits ausgeführt, der eheliche Akt.
Auch aus einem weiteren Grund ist das rituelle Handeln für die Familie von erheblicher Bedeutung. Betrachtet man die sexuelle Verbindung für sich, so wird sie in ihrer vereinigenden und damit gestaltenden Kraft durch die ihr zugehörige Ekstatik in Frage gestellt. Die ungeformte Sexualität stellt also eine Bedrohung für das Sozialsystem dar. Daher sind rituelle Ausdrucksformen und Begrenzungen (Tabus) für sie unbedingt erforderlich. An erster Stelle ist hier das Inzestverbot zu nennen. Neue Untersuchungen (42) machen es wahrscheinlich, daß ein grundlegender Zusammenhang zwischen Opferritual und Inzest besteht. Dieser ergibt sich aus dor Parallele der vereinigenden Kraft zwischen Opferkult und sexueller Verbindung. Zusammenfassend ist daher zu folgern, daß die Familie als ein Kultverband angesehen werden muß.
Für ein Sozialsystem als moralische Einheit und besonders für einen Kultverband ist es unbedingt nötig, daß das Sozialsystcm deutlich und klar durch eine Person repräsentiert wird. Diese hat ex officio den Allgemeinstandpunkt einzunehmen und von hier aus das Handeln der Gruppe zu ermöglichen, d.h. als Autorität zu wirken (43). Eine Repräsentation durch zwei Personen zugleich würde in der Ehe aus vielen Gründen zu Schwierigkeiten führen. So würde z.B. die Darstellung der Innenverhältnisse (Koalitionen) "Ehegatten", "Mutter-Kind" reduziert oder die Gewissensbildung der Kinder hintangehalten, weil sie den Gesamtstandpunkt nicht genügend erkennen können. Es muß also von daher die Überordnung des einen Ehegatten über den anderen (als primärer Repräsentant der Familie) als Strukturbestandteil einer Ehe, die ihrer Eigengesetzlichkeit entspricht, angesehen werden. Für die übergeordnete Rolle kommt in aller Regel in erster Linie der Familienvater oder jedenfalls eine männliche Person in Frage.
Alle Aufgaben des Familienvaters können zwar im Prinzip auch von der Mutter übernommen werden. Das zeigt sich allein schon bei Abwesenheit, Krankheit oder Tod des Ehemanns. Aber beide Reollen sind von der Mutter schwerlich zugleich angemessen zu spielen, so daß Kinder aus unvollständigen Ehen in der Regel in ihrer Erziehung und Personwerdung benachteiligt sind.
Es wäre dann an einen Rollentausch zu denken, der in manchen modernen Familien weitgehend verwirklicht ist. Dabei hat die Ehefrau einen Beruf, der Ehemann versorgt Haushalt und Kinder. Jedoch sind sich die Beteiligten wie die Zuschauer meistens einig, daß es sich hier nur um eine Ersatzlösung, nicht aber um eine Ideallösung handelt.
Das Ungenügen eines solchen Zustandes kann nicht voll erklärt werden durch Hinweis darauf, daß die Mutter rein biologisch stärker an den Prozeß der Menschwerdung des Kindes gebunden sei und daß daher der Mann (unterstrichen durch seine bessere Berufsausbildung) sich mehr auf den Allgemeinstandpunkt zu stellen vermöge. Ebensowenig hat der Hinweis auf die im Normalfall höhere Körperkraft dos Mannes ein größeres Gewicht.
Entscheidend ist vielmehr die Tatsache zu berücksichtigen, daß die Familie ein Kultverband ist. Sie kann deshalb keinesfalls für sich isoliert betrachtet werden. Ihre Beziehung zum Staat, der auch eine wesentliche - wenn auch heute vergessene - moralische Einheit zu sein hat, und zur Religion ist unbedingt zu berücksichtigen. Damit ergibt sich aber die Orientierung an der Tradition dieser Sozialsysteme, vor allem an der Religion. Die Nichtberücksichtigung oder Preisgabe der Tradition, wie sie heute sogar im religiösen Bereich alltäglich ist, stellt antirituelles Verhalten dar, schwächt die Sozialeinheit, also auch die Familie als Kultverband. Die Familie hat sich daher an Vorentscheidungen, besonders der Religion, auszurichten, um selbst voll funktionsfähig zu sein. Hier nun ist der Vorrang des Mannes von den meisten Religionen und Sozialeinheiten seit langem, oft seit ihrem Gründungsbericht, festgelegt.
Für das Christentum bedeutet das, daß der Familienvater nicht nur der Repräsentant der Familie nach innen und außen ist oder in der Familie der Repräsentant des Staates, sondern auch in der Familie der Repräsentant Gottes. Er erhält nach überlieferter katholischer Lehre die Stellung eines Priesters in der Familie, die selbst zur "ecclesiola", zur kleinen Kirche wird. Recht und Pflicht zur moralischen Formung der Familienmitglieder lassen sich für den Ehemann bzw. Familienvater nicht zuletzt hierin begründen.
Abgesehen von diesen Überlegungen bedeutet eine Vorentscheidung über die Rangfolge in der Ehe durch den Staat oder durch die Religion natürlich auch eine Orientierung und Lenkung der Eheschließungswilligen und der Ehepartner, die einen ständigen unerträglichen Machtkampf wenigstens teilweise zu neutralisieren vermag und Verhaltenssicherheit für alle Beteiligten gewährt. Diese Rangdifferenz besagt nun allerdings nicht sehr viel über die tatsächliche innere Machtverteilung in der Familie, die nicht nur mit den Personen wechselt, sondern auch mit dem Lebensalter und mit der Ablaufsphase der Familie (kinderlose Aufangsphase, Erziehungsphase, Nach-Erziehungsphase ohne Kinder). Die Repräsentativfunktion ist nicht notwendig an die Ausübung der stärksten Macht gebunden; das gilt auch für die Repräsentativfunktion des Mannes in der Familie. Allerdings ist es sinnvoll, wenn Repräsentativfunktion und stärkste Machtbefugnis aneinander gebunden sind. In der Ehe wird dann die Verpflichtung und die Möglichkeit für den Mann eröffnet, sich in höherem Maße um die moralische und darüber hinaus religiöse Führung und Ausrichtung der konkreten Familie und die gerechte Gestaltung ihrer Gemeinsamkeit zu kümmern.
Es ergibt sich von daher eine rangmäßige (Status-) Überordnung des Ehemannes über die Ehefrau in der Ehe, keinesfalls aber allgemein auch bereits eine Überordnung des Mannes über die Frau. Es ist also durchaus unhaltbar, mit der Ablehnung einer allgemeinen Vorrangstellung des kannes auch zugleich seine Vorrangstellung in der Ehe abzulehnen. Diese Argumentation macht sich die Dinge zu einfach (44). Wenn die Vorrangstellung des Mannes in der Ehe nicht mehr hervorgehoben wird, dann verliert sich in der Familie die priesterliche Aufgabe. Die repräsentativen Funktionen werden immer weniger gesehen, die Ehe entwickelt sich tendenziell zu einem bloßen Machtverhältnis, in der um ein (labiles) Gleichgewicht gerungen wird. Vor allem aber geht der Charakter der Familie als einer moralischen Anstalt zurück. Eine der schnell einzusehenden Folgen ist das Herabsinken ihrer Erziehungskraft. (45)
Das Ergebnis ist die Konsumentenehe, eine Eheform, die heute als vorherrschend anzusehen ist. Bei dieser ergibt sich faktisch eine weitgehende Gleichberechtigung, die an sich folgerichtig ist, wenn die Ehepartner die Ehe nur oder überwiegend als eine Einrichtung zur Befriedigung ihrer persönlichen Interessen (sexuelle Interessen, Sicherheitsbedürfnisse, Statusbedürfnisse, Verdienstinteresse usw.) ansehen. Es ist klar, daß die "Partner" einer solchen Ehe die Verpflichtungen des Hauptzieles der Ehe schwerlich mehr akzeptieren, ebensowenig die Normen, die sich aus der Erzeugung und Erziehung von Kindern ergeben, es sei denn wieder als Kittel zur Bedürfnisbefriedigung. Eine solche Ehe verfehlt ihr Ziel, gegenüber der Gesellschaft wirkt sie überflüssig und desintegrierend.
4. Schlußfolgerung
Aus den geführten kritischen Überlegungen ergibt sich zusammenfassend:
1) Einen "Ehezweck" (eine Funktion der Ehe) "eheliche Liebe" kann es nicht geben, weil die Liebe als unentbehrliches Strukturmoment der Ehe bei der Betrachtung der Funktion vorausgesetzt werden muß. Erweise bzw. Bestätigungen der Liebe zu empfangen ist dagegen ein legitimes Interesse jedes Ehepartners.
2) Je nach den ausgeführten vier Standpunkten ergeben sich verschiedene Zielsetzungen im Hinblick auf die Ehe bzw. der Ehe selbst.
a) Als Ziel der Ehe ist die Erzeugung und Erziehung von Kindern anzusehen.
b) Als Ziele der inneren Struktur der Ehe sind die Förderung der Einheit in der Liebe und die Gerechtigkeit in erster Linie zu nennen.
c) Als Ziel der Ehepartner kann die gegenseitige Unterstützung, worin der Empfang von Liebeserweisen eingeschlossen ist, hervorgehoben werden.
d) Als Ziele der Eheschließungswilligen sind die gesellschaftlich empfohlene Regelung des Geschlechtsverkehrs, die gegenseitige Unterstützung, das Unabhängigwerden von der Ursprungsfamilie sowie die Gewinnung von Sicherheit hervorzuheben,
3) Die traditionale Ehelehre hebt die wesentlichen "Ehe-Zwecke" richtig hervor, übersieht aber - wenigstens teilweise - die Standpunktgebundenheit der jeweiligen Aussage und ist damit auch Anlaß für eine Anzahl von Mißverständnissen gewesen. Demgegenüber sind die Aussagen der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" unvollständig und im ganzen gegen die traditionale Ehelehre der Kirche gerichtet. Insbesondere ist zu bemängeln, daß die Ehezwecke nicht in Klarheit benannt, daß der Liebe nicht der angemessene Platz gewährt, daß die Ehe im Hinblick auf den Stand der Jungfräulichkeit nicht relativiert und daß das für die Ehe als moralische Einheit grundlegende Moment des Vorrangs des Vaters verschwiegen wurde. Die neue "personalistische" Ehelehre führt folglich notwendigerweise zur Schwächung der christlichen Ehe und zur Stärkung der modernen Konsumentenehe. Die Ehelehre der Pastoralkonsiitution "Gaudium et spes" ist daher in ihrem Inhalt und in ihren Konsequenzen abzulehnen.
Anmerkungen: 1) So z.B. Ott, Ludwig: Grundriß der katholischen Dogmatik, 3ªAufl. Freiburg 1957, S, 552. Vgl. auch Schmaus, Michael: Katholische Dogmatik IV, 1,4.Aufl.1952, S. 634. 2) Decretum de finibus matrimonii AAS XXXVI (1944), S. 103; Denzinger 2295 (3838). 3) "Quandam independentiam", AAS XXXVI (1944), S. 193. 4) St. Themas von Aquin; Summa Theologica, Suppl. q. 65, a.1. 4a) Suppl. Q.41, a.1; q.49, a.1 ad 3: q.65, a.1 ad 7. 5) II, 8,3. 6) II, 8,4. 7) II, 8,15. 8) Sacra Romana Rota: Romana. Nullitatis matrimonii et dispensationis super rato, in: AAS XXXVI (1944), S. 179-200. 9) Reichensperger, Dieter Franz: Die Agrarfrage, Trier 18947, S. 257 f. Zustimmend zitiert von Höffner. Joseph: Sexualmoral im Licht des Glaubens, 4. Auflage, Köln 1973, S. 3. 10) Ratzinger, Joseph: Zur Theologie der Ehe, in: Heinrich Greeven et al. (Hrsg.): Theologie der Ehe, Rsgensburg 1969, S. 103. 11) Rocholl, Norbert; Die Ehe als geweihtes Leben, Dülmon 1935; Schwendinger, Fidelis: Um die Erlaubtheit der periodischen Enthaltung, in: Theologie und Glaube 25 (1933)f S. 724-735. Doms, Herbert: Gatteneinheit und Nachkommenschaft, Mainz 1965 und vorhergehende Veröffentlichungen. 12) Häring, Bernhard: Ehe in dieser Zeit, 3. Auflage, Salzburg I964; Reuß, Josef M.: Eheliche Hingabe und Zeugung, in: Tübinger Theologische Quartalsschrift 143 (1963), S. 125-132. Beide Autoren haben auf die Gestaltung der Ehelehre von "Gaudium et spes" Einfluß genommen. 13) Rocholl a.a.O., S. 61, zitiert nach Höffner, Joseph: Ehe und Familie, Wesen und Wandel in der industriellen Gesellschaft, 2. Auflage, Münster I965, S. 36. 14) Schwendinger a.a.O., S. 726. 15) Ebd. 16) Doms a.a.O., S. 20, 41ff. 17) Ebd., S. I38f. 18) Höffner 1965. S. 37ff. 19) Ebd., S. 39. 20) Ebd., S. 37. 21) Casti connubii, Authentische deutsche Übersetzung, Nr. 23. 22) Häring, Bernhard: Das Konzil im Zeichen der Einheit, Freiburg 1963, S. 85f. 23) Ratzinger a.a.O., S. 105. 24) "Matrimonium vero, non est tantum ad procreationem institutuia, sed ipsa indoles foederis inter personas atque bonum prolis axigunt, ut multuus etiam conjugum amor recto ordine exhibeatur, proficiat et maturescat". 25) Gründel, Johannes; Das neue Bild der Ehe in der katholischen Theologie, in: Helmut Harsch (Hrsg.): Das neue Bild der Ehe, München 1969; Friedrich E. Freiherr von Gagern: Dynamische Ehemoral gegen altes Gesetz. Der Mensch heute versteht sich anders, München 1969; David, Jakob, SJ; Neue Aspekte der kirchlichen Ehelehre, 3. Auflage, Frankfurt a.M. 1967. 26) David a.a.O., S. 30. 27) David, Jakob, SJ: Ehe und Familie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in: Sievers, Eberhard: Vollendung ehelicher Liebe, 2, Auflage, Recklinghausen 1967, S. 158. 2G) Gründel a.a.O., S. 63. 29) Ratzinger a.a.O., S. 1O5. 30) II, 8,12. 31) Art. 52. Auch an anderer Stelle der Beschlüsse findet sich keine klare Aussage über das Verhältnis von Ehestand und Stand der Jungfräulichkeit; weder das Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens noch die dogmatische Konstitution über die Kirche erwähnen den Sachverhalt. Allein in der Konstitution über die Kirche ist die Rede vom "Stand der Vollkommenheit" (Nr. 45) aber ohne Erklärung des Gemeinten. 32) 1.Kor.11,3; Eph. 5,22-24. Der Katechismus von St. Pius X. bezieht dies sogar in seine Definition des Ehesakraments ein (Nr.406); vgl. besonders Casti connubii, Authentische deutsche Übersetzung, Nr. 24. 33) Art. 48. 34) Goode, William J.: Soziologie der Familie, München I967, S. 18. 35) Neidhardt, Friedhelm: Die Familie in Deutschland, Opladen 1966, S. 59-70. 36) Vgl.dazu Siebel,Wigand: Einführung in die systematische Soziologie, München 1974, S. 44ff. 37) "Die Liebe erweckt das Verlangen nach der ehelichen Verbindung,diese Verbindung aber erhält und erweitert umgekehrt die Liebe; so ist es in jedem Sinne wahr, daß die Liebe nach Vereinbarung strebt" (St.Franz von Sales: Theotimus, 1.Bd., I.Buch, Kap. 10). 38) Siebel a.a.O., S. 69ff. 39) Siebel a.a.O., S. 53ff. 40) Siebel a.a.O., S. 156. 41) Boscard, James H.S. und Boll, Wleanor S.; Ritual in family living, 2.Auflage, Philadelphia 1956. 42) Wyß, Dieter: Strukturen der iioral, 2.Auflage, Göttingen I97O, S. 136ff. 43) Siebel a.a.O.: Abschnitt "Herrschaft", S. 207-262. 44) Vgl. z.B. Schnackenburg, Rudolf: Die Ehe nach dem neuen Testament, in; Heinrich Greeven et al.: Theologie der Ehe, Regensburg I969, S. 25f. 43a) St.Johannes Chrysostomus; Sermo 6,2 und 7,7 in Gen. - in: Patrologia Graeca Bd.54, S.607f. 45) Vgl. z.B. Bleistein, Roman: Religiöse Krise der Familie, in: "Stimmen der Zeit", Jg.100 (1975), S.73f. |