MODERNISMUS UND REFORMKATHOLIZISMUS
von
Eugen Golla
Das dem Spätlatein entlehnte Wort "modern" als Bezeichnung einer
Geisteshaltung, die das Gegenwärtige dem Vergangenen vorzieht, enthält
kein theologisches Werturteil, obwohl der Kirche ihrer ganzen Natur
nach eine konservative Haltung eigen ist, die ihren Ursprung in der
ewigen Geltung von Gottes Wort in Glaubens- und Sittenlehre hat. Aber
diese ewigen Wahrheiten sind nicht starr, ihre unerschöpfliche Fülle
ist einer reichen Entfaltung (allerdings nicht Änderung!) offen, genau
wie die Kirche als sichtbare Organisation einer Erneuerung - auch unter
sachlicher Kritik - bedarf. Schließlich können die Errungenschaften
eines jeden Zeitalters auf den Gebieten der Wissenschaften und Technik
- sofern sie bzw. ihre Anwendung nicht gegen Gottes Gebote verstoßen -
als Erfüllung des "Macht euch die Erde Untertan" angesehen werden.
Es mußte sich somit um etwas anderes handeln, als sich das oberste
kirchliche Lehramt entschließen mußte, unter der Bezeichnung
"Modernismus" ein System als Sammelbecken aller Häresien zu bezeichnen
und zu verurteilen.
Der Ursprung des Modernismus geht bis in das 18. Jahrhundert zurück;
seine Grundlagen sind einerseits der Deismus mit seiner Leugnung der
Offenbarung, der Personalität und der Einwirkung Gottes, andererseits
der Agnostizismus mit seiner Lehre von der Unerkennbarkeit des
absoluten Seins.
Kant postuliert zwar im sogenannten Moralischen Gottesbeweis das Dasein
Gottes, aber es gilt ihm nur als Forderung der praktischen Vernunft,
nicht als Wahrheit. Schleiermacher entwickelt dagegen eine Theologie,
die vom Gefühl ausging und für die daher die Religion weder Denken noch
moralisches Handeln sondern schlechthin Gefühl einer vollständigen
Abhängigkeit von Gott ist. Nicht zuletzt ist eine Wegbereiterin
modernistischer Ideen die Leben Jesu-Forschung der rationalistischen
protestantischen Theologie. An ihrem Anfang steht Hermann Samuel
Reimarus (1694-1768). Seine von Lessing verteidigte Schrift "Apologie
oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes" bezeichnet
Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft Christi als Erfindung der
Apostel, die Gott durch die Sünden zugefügten Beleidigungen und die
daraus sich ergebende Notwendigkeit eines Versöhnungsopfers als
Vorurteil.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließen das Anwachsen der
liberalen Strömungen, die Fortschritte auf dem Gebiete der
Wissenschaften und der Technik, das Aufkommen der sozialen Frage und
manchmal auch ein zu starkes Sichabschließen der Kirche den Ruf nach
deren Anpassung an die moderne Zeit immer lauter werden. Allerdings muß
hierbei unterschieden werden zwischen solchen, die neue Erkenntnisse in
die Theologie einbringen wollten ohne Veränderung des Glaubensgutes und
solchen, die eine Anpassung an die Gegenwart forderten unter Zerstörung
der Glaubenssubstanz. Ein Blick auf den Lebenslauf dieser
letztgenannten "Reformer" zeigt, daß es sich hierbei fast immer um
Theologen handelte, die seit ihrer Jugendzeit mit der Religion
zerfallen waren, daher ohne Berufung Priester wurden, vielfach
Schwierigkeiten mit dem Zölibat hatten oder mit ihren Vorgesetzten
zerstritten waren.
Der Ausgangs- aber auch Mittelpunkt des Modernismus wurde Frankreich,
sein Hauptvertreter der Exeget Alfred Loisy (1857-194o). Große Wirkung
erzielte zuerst sein Buch "L'Evangile et L'Eglise" (19o2). Hier ist
bereits der eschatologische Charakter der Evangelien klar
ausgesprochen. Da die Endzeit nicht kam, habe die Kirche die Aufgabe
übernommen, diese Erwartung zu fördern und zu organisieren - jeweils
zeit- und ortsbedingt -, was die Entwicklung der Dogmen, Riten und der
Hierarchie zur Folge hatte.
Als 1903 dieses Buch vom Erzbischof von Paris verboten wurde, erschien
das Buch"Autour d'un petit livre" in dem bereits das Programm des
Modernismus klar zu erkennen ist: "19 Jahrhunderte des Christentuns
haben zur feierlichen Verkündigung der päpstlichen Unfehlbarkeit
geführt. Ist es sehr kühn zu glauben, daß diese nicht der Abschluß der
christlichen Institution ist und daß der Papst nur deshalb mit einer so
großen Gewalt unkleidet werden konnte, um die geeinte Kirche mit um so
größerer Schnelligkeit und Leichtigkeit alle durch die Zeit geforderten
Reformen und Fortschritte verwirklichen zu lassen? Bedarf es mehr als
eines gesunden Menschenverstandes, um wahrzunehmen, daß eine so
furchtbare Gewalt nur bestehen kann als Werkzeug für den Dienst am
Sehnen der christlichen Welt, insofern diese Gewalt sich auf eine große
Zahl von starken und ehrlichen Gläubigen stützt, insoferne sie
sozusagen sich zerteilt und sich für die Wirksamkeit dezentralisiert,
insoferne sie wirklich allen alles wird, statt alles in sich
aufzusaugen?"(1 )
In seinem Werk "Das vierte Evangelium" will Loisy die
Ungeschichtlichkeit der Wunder und Reden Jesu nachweisen, ebenso die
Unmöglichkeit von deren Abfassung durch den Apostel Johannes.
Am 16.12.1903 kamen 5 seiner Bücher auf den Index; Loisy unterwarf sich
zwar schließlich, aber er war nicht nur der Kirche entfremdet, sondern
bereits mit ihr zerfallen und ersehnte sogar seine Exkommunikation, die
19o8 erfolgte. In seinem nächsten Werk, "Les Evangiles synoptiques"
geht Loisy noch radikaler vor: Die Kindheitsgeschichte Jesu wird als
legendär bezeichnet, die jungfräuliche Empfängnis als spätere Zutat.
Das letzte Abendmahl ist nur ein einfaches Abschiedsmahl, verklärt
durch die Gewißheit einer baldigen Zusammenkunft im Himmel; die
Stiftung der Sakramente lag nicht in Jesu Absicht, die Einsetzungsworte
sind von Paulus, die Auferstehungsberichte bloße Zeugnisse der
Gemeinden zur Verteidigung des Auferstehungsglaubens gegenüber
Außenstehenden.
Die bedeutendste Gestalt des englischen Modernismus war der stark vom
Irrationalismus geprägte Jesuit George Tyrrell (1861-19o9). In seinem
Werk "The Church and the Future" vertritt er die Anschauung, "die
Kirche sei nur als eine 'Schule der göttlichen Liebe hienieden'
anzusehen und ihre Aufgabe sei es, lediglich die Inspirationen, die das
göttliche Leben in den Herzen seiner Glieder bewirkt, in stets
provisorische Formeln zu übersetzen"(2). 19o6 wurde Tyrrell aus der
Gesellschaft Jesu ausgestoßen, 1907 exkommuniziert.
Vielfältig waren die Formen des Modernismus in Italien. Der
Schriftsteller und Senator Antonio Fogazzaro (1842-1911) bringt in "II
santo" Reformideen in Romanform. Der Held des Romans verkörpert einen
Apostel der Nächstenliebe in allen Bereichen des kirchlichen und
sozialen Lebens. "Den Höhepunkt des Werkes bildete jedoch ein großer,
an den Papst gerichteter Reformdiskurs, in dem die vier bösen Geister,
die in die Kirche eingedrungen seien, gebrandmarkt wurden: der Geist
der Lüge, der die Augen vor dem Licht der modernen Wissenschaft
verschließt und die besten Verteidiger der Wahrheit unter Anklage
stellt; der Geist der unumschränkten Macht, der die väterliche
Autorität in die Ausübung einer entsetzlichen Diktatur verwandelt; der
Geist des Geizes, der ein Hohn auf die evangelische Armut ist;
schließlich noch der Geist des Festhaltens am Alten, der jeden
Fortschritt fürchten läßt und der die jüdischen Rabbis dazu trieb,
Jesus abzulehnen und zu verurteilen (dieser Vergleich stammte von
Tyrrell)"(3).
Über die Ziele des Modernismus sprechen besonders deutlich die anonym
erschienenen "Lettere di un prete modernista" (19o8) des Priesters
Ernesto Buonaituti (1881-1946), Professor für Kirchengeschichte am
römischen Priesterseminar, von dem er 1906 abberufen wurde, Führer des
Widerstands gegen den Antimodernismus, obwohl es ihm auf Grund seiner
Geschmeidigkeit gelang, bis 1926 in der Kirche zu verbleiben. Der
Verfasser gibt zu, daß der Weg zur Totalreform noch weit ist (wegen der
Wachsamkeit der Päpste) - aber er ist davon überzeugt, daß junge
Priester und idealistische Laien getarnt dadurch, daß sie sich der
traditionellen Formen des Christentuns bedienen, auf friedlichem Wege
eine neue Kirche frei von Dogmatismus, Pietismus und Mittelalter
errichten werden. Diese wird auf das Diesseits ausgerichtet sein, sich
begeistern für die Schönheit dieser Welt und alle menschlichen
Wirklichkeiten und ihr Papst wird als wahrer Hirt der Völker die
moderne Welt dann ungehindert segnen können.(4)
Deutschland wurde von diesen radikalen Formen des Modernismus kaum
berührt. Allerdings gab es auch hier viele Spannungen, die zu einem Ruf
nach einer Kirche führten, die sich aufgeschlossen gegenüber den
Problemen der neuen Zeit zeigt. Vielfach stand im Mittelpunkt dieser
Auseinandersetzungen die Zentrunspartei, die zwar nach Abschluß des
Kulturkampfes positive Arbeit im Kampfe für die Gleichberechtigung der
Katholiken geleistet hat, aber als politisch-konfessionelle Partei
einer heftigen Kritik - auch aus den Reihen der Katholiken - ausgesetzt
war. Mit Schlagworten wie Integralismus und Ultramontanismus wollte man
allerdings oft nicht nur die Partei treffen, sondern auch die Kirche.
Diese Richtung, die nicht bis zur Apostasie gehen wollte, erhielt den
Namen Reformkatholizismus. Dessen bedeutendster Vertreter war Hermann
Schell (1850-1906), Professor in Würzburg. 1897 veröffentlichte er
"eine Broschüre mit dem Titel 'Der Katholizismus als Prinzip des
Fortschritts1 in der er betonte, die Kirche müsse sich unbedingt mit
dem Fortschritt in jeder Gestalt verbinden, und für die Katholiken das
Recht forderte, sich nicht wie 'geistige Eunuchen' verhalten zu
müssen"(5). Sein Versuch einer Synthese zwischen Glauben an die
Schöpfung und der Theorie der biologischen Volution macht ihm zum
Vorläufer Teilhards de Chardin. (6) 1898 wurden seine Schriften
indiziert; da er sich aber unterwarf, konnte er seine Lehrtätigkeit
fortsetzen.
Viel Aufsehen erregte auch das Werk des Professors der
Kirchengeschichte Albert Ehrhard (1862-194o) "Der Katholizismus und das
zwanzigste Jahrhundert" dessen Anliegen ebenfalls eine Versöhnung des
Katholizismus mit der modernen Kultur war. Hierbei verurteilt Ehrhard
besonders die Hinneigung der Kirche zura Mittelalter und empfiehlt u.a.
auch mehr Berücksichtigung der Muttersprache im Kult.
1902 griff der Bischof von Rottenburg Paul Wilhelm von Keppler in diese
Bestrebungen ein mit seiner Rede "Wahre und falsche Reform". In seinen
Ausführungen wies er auf die Verschwommenheit der Ziele und Begriffe
des Reformkatholizismus hin, auf die Unmöglichkeit einer Rückkehr zun
Urchristentum und betonte, daß die wahre Reform immer eine Reform von
Grund auf, von innen heraus sei, nicht von außen nach innen.(7)
Nach der Verurteilung des Modernismus und der Forderung auf Ableistung
des Antimodernisteneides schlugen diejenigen Reformkatholiken, welche
sich nicht unterwerfen wollten radikalere Töne an, die zeigen, daß man
auch vor Zerstörung des Glaubensgutes nicht mehr zurückschreckte.
Es seien in diesem Zusammenhang genannt die Schrift "Eine deutsche
Abrechnung mit Rom" des Priesters Konstantin Wieland, in der behauptet
wird, daß die Schuldogmen viele Zusätze den Dogmen hinzugefügt hätten
(so im Gottesbegriff, in der Lehre von der Erbsünde und vom
Meßopfer)(8).
In der Broschüre des Pfarrers Franz Mertens "Dürfen die Katholiken
denken?" wird verlangt, der Papst solle "nur mehr Ehrenprimas sein, der
Beicht- und Zölibatszwang solle verschwinden, die Leitung der Diözese
durch den Bischof unter Zuziehung von Laien erfolgen, das
Koalitionsrecht dem Klerus eingeräumt und der katholische Christ
lediglich auf den Wortlaut der Dogmen verpflichtet werden"(9).
In den 4 Broschüren gegen den Ultramontanismus des Pfarrers Johann
Blatt ist die Rede von der Vergöttlichung der kirchlichen Autorität
durch den Syllabus von 1864 und das Vatikanische Konzil und von einem
ultramontanen Priestertun, dessen Kennzeichen die Veräußerlichung ist
(Brevier, lat. Messe)(lo).
Das kirchliche Lehramt verurteilte die theologischen und
philosophischen Grundlagen des Modernismus bereits unter Pius IX. im
Syllabus und im Vaticanum. 1899 verurteilte Leo XIII. die dem
Modernismus verwandte Theorie des Amerikanismus, die für große
individuelle Freiheit gegenüber der kirchlichen Autorität eintrat,
sogar unter Nichtbeachtung der definierten Dogmen.
Nachdem schon einige Jahre zuvor Bischöfe Italiens und Frankreichs
gegen einzelne Modernisten vorgegangen waren, erließ Pius X. im Juli
19o7 einen neuen Syllabus (Lamentabili sane exitu), in welchem 65 Sätze
- meist handelt es sich um solche, die den Schriften Loisys entnommen
sind - verurteilt werden.
Die Sätze 1-5 behandeln Irrtümer bezüglich des kirchlichen Lehramtes.
Nur wissenschaftliche Textkritik könne den Sinn der hl. Schriften
feststellen, dogmatische Entscheidungen seien hierzu gänzlich
ungeeignet.
Hier handelt es sich um Leugnung von Entscheidungen der Konzile von
Trient und Vatikan.I, daher formelle Häresie. Vielmehr hat die Kirche
den Sinn einer Reihe biblischer Texte bindend festgestellt, z.B.:
"Gehet hin und lehret..." (Taufe), "Das ist mein Leib..."
(Eucharistie), "Empfanget den hl. Geist..." (Bußsakrament), "Du bist
Petrus..." (Primat). In den Sätzen 9-19 wird die göttliche
Urheberschaft der Hl. Schrift in Abrede gestellt, die Inspiration
entwertet. Gott rede in diesen Büchern zwar durch Gläubige, aber bloß
durch Immanenz (religiöses Gefühl). Inspiration könne daher nur
bedeuten, daß gewisse Männer den Antrieb fühlten, ihre religiösen
Erfahrungen niederzuschreiben. Hieraus muß dann auch zwingend gefolgert
werden, daß sich nach den Modernisten die Hl. Schriften nicht
wesentlich von den "heiligen Büchern" anderer Religionen unterscheiden.
Demgegenüber lautet die kirchliche Lehre, daß das Alte und das Neue
Testament unter Gottes Einfluß entstanden und er daher auch als der
eigentliche Urheber zu bezeichnen ist.
Die Irrtümer 2026 sind eine Zusammenfassung der modernistischen
Religionsphilosophie. Den Begriffen Offenbarung, Glaube, Dogma u.s.w.
wird ein neuer Sinn unterstellt. So oft ein Mensch von der Gottheit
innerlich berührt werde, "offenbart" sich ihm Gott. Dieses Innewerden
wird "Glaube" genannt, der somit kein Fürwahrhalten auf Grund eines
Zeugnisses ist. Dies widerspricht der kirchlichen Lehre, gemäß welcher
die göttliche Offenbarung nicht auf die Beziehung Gott-Mensch eingeengt
ist; Gott gewährt uns vielmehr durch sie auch einen - gewiß
beschränkten Einblick - in die Geheimnisse wie Trinität, Erlösung,
Gnade, Sakramente, beseligende Anschauung Gottes.
Die Sätze 27-38 behandeln die Lehre über Christus, dessen Gottheit die
Erfindung späterer Generationen sei; folgerichtig seien die Lehren
Jesu, wie sie Paulus, Johannes und die Konzile der ersten Jahrhunderte
darstellen nicht identisch mit den wirklichen Unterweisungen Jesu,
sondern es handelt sich um Lehren, die sich im christlichen Bewußtsein
in Bezug auf ihn gebildet haben; ebenso habe sich aus diesem
"Bewußtsein" allmählich auch Christi Auferstehung entwickelt.
Die folgenden Sätze sind den Sakramenten gewidemet. Nach
modernistischer Anschauung sind auch sie nicht von Christus eingesetzt
worden, sondern verdanken ihre Entstehung vielmehr dem im Menschen
innewohnenden Drange, die Religion unter Symbolen zu betätigen.
Das ist einen Leugnung der Wirksamkeit ex opere operato, des objektiv
gültigen Vollzugs der Sakramente kraft des vollzogenen sakramentalen
Zeichens auf Grund der Anordnung Christi, unabhängig von der
Disposition des Spenders und Empfängers.
Besonders aufschlußreich ist Satz 49:"indem das christliche Abendmahl
allmählich die Gestalt einer liturgischen Handlung annahm, erlangten
die, welche dem Abendmahl gewöhnlich vorzustehen pflegten, den
priesterlichen Charakter".
Die letzten Irrtümer handeln von der Gründung der Kirche. Die
Modernisten glauben, daß nach Christi Meinung das Weltende unmittelbar
bevorstand, weshalb er nicht beabsichtigte eine Kirche zu gründen, die
lange auf Erden bestehen sollte; folgerichtig sei daher die Entwicklung
der römischen Kirche zum Haupt aller Kirchen nur eine Folge politischer
Umstände. Die kirchliche Gewalt mit ihren Lehräußerungen sei
infolgedessen nur aus der christlichen Gemeinschaft hervorgegangen.
Daher sei "die Wahrheit" nicht unveränderlicher als der Mensch selbst,
sie entwickelt sich mit ihm, in ihm, durch ihn.
Drei Monate später erschien die Enzyklika "Pascendi dominici gregis"
als feierliche Verurteilung. Gleich zu Beginn wies der Papst darauf
hin, daß es sich nicht mehr ausschließlich um offene Feinde handle;
"nein, zu Unserem größten Schmerze und zu Unserer Beschämung müssen Wir
es sagen, am Busen und im Schöße der Kirche lauern sie und sind un so
viel gefährlicher, je weniger man sie kennt".(11)
Da es unmöglich war, das Gedankengut der einzelnen Modernisten einzeln
darzustellen, bediente sich die Enzyklika der Abstraktion; es wurde -
zweifellos den Kern der Wahrheit treffend - das Modell eines
Modernismus dargestellt, der als philosophische Grundlage den
Agnostizismus und den Immanentismus hat. Nachdem das System des
Modernismus mit seinen Folgen für den Glauben dargestellt worden ist,
hebt das Päpstliche Rundschreiben noch einmal die Bedeutung der
Tradition hervor: "Die Tradition suchen sie nach ihrer Bedeutung und
ihrem Wesen in schlauer Weise zu verdrehen, um ihr so jegliches Gewicht
zu nehmen. Aber für Katholiken wird die Entscheidung des zweiten
Konzils von Nicäa stets ihre Geltung behalten, wonach diejenigen
verurteilt sind, 'die es wagen ... nach dem Beispiel verworfener
Häretiker die kirchlichen Überlieferungen zu verachten und irgendwelche
Neuerung auszusinnen ... oder in arger List etwas zu erdenken, un ein
Stück der rechtmäßigen Überlieferungen der katholischen Kirche zu Fall
zu bringen'. Es bleibt in Geltung das Bekenntnis des vierten Konzils
von Konstantinopel: 'Wir bekennen also, daß wir die Vorschriften halten
und bewahren wollen, welche teils von den großen heiligen Aposteln,
teils von den allgemeinen sowie besonderen Konzilien der Rechtgläubigen
oder auch von irgendeinem gottbegnadeten Vater oder Lehrer der
heiligen, katholischen und apostolischen Kirche überliefert worden
sind'. Darum wollten auch die Päpste Pi us IV. und wiederum Pius IX. im
Glaubensbekenntnis beigefügt wissen: 'Die apostolischen und kirchlichen
Überlieferungen und die übrigen Gewohnheiten und Verordnungen dieser
Kirche nehme ich fest und freudig an'".(12) Der Schlußteil ist
disziplinären Maßnahmen zur Bekämpfung des Modernismus gewidmet,
hauptsächlich Vorschriften für das theologische Studium, insbesondere
soll die scholastische Philosophie die Grundlage der Studien sein. Die
in diesem Rundschreiben dargestellten Auffassungen wichen so stark von
den Wahrheiten des Glaubens ab, daß sich der größte Teil der
progressistisch Denkenden von ihnen löste.
Von den polemischen Schriften gegen die Enzyklika wurde am berühmtesten
"II Programma dei modernisti", dessen Hauptautor der vorerwähnte
Ernesto Buonaiuti war. Seine Schrift will beweisen, daß der Modernismus
falsch dargestellt worden ist, insbesondere daß durch die
Zusammenfassung verschiedener seiner Lehren vorgetäuscht werde, es gäbe
ein einheitliches System.
Pius X. begnügte sich nicht, praktische Maßnahmen zur Bekämpfung
anzuordnen; hauptsächlich um geheimen Modernisten das Bleiben in der
Kirche unmöglich zu machen, schrieb er 1910 als zusätzliche Sicherung
den Antimodernisteneid vor. Dieser setzt sich zusammen
a) aus 5 Grundfragen der Theologie, meist Entscheidungen Pius IX. und des Vatikanischen Konzils und zwar:
1. Erkennbarkeit Gottes aus der Natur und die Beweisbarkeit seines Daseins.
2. Die äußeren, den Menschen aller Zeiten angepaßten Beweise für die Offenbarung.
3. Die von Christus eingesetzte Kirche als Hüterin der Wahrheit.
4. Die Unwandelbarkeit der Glaubenslehre.
5. Der wahre Begriff von der Tugend des Glaubens.
b) dem Eid, mit Bezug auf die in "Lamentabili" und "Pascendi" enthaltenen Verurteilungen, Erklärungen und Vorschriften.
Gefordert wurde der Eid von den Klerikern vor Empfang der höheren
Weihen, von den theologischen Lehrern vor Übernahme ihres Amtes, von
den Pfarrern, den kirchlichen Würdenträgern und Obern vor der
kanonischen Einsetzung.
Pius XI, hat in seiner Konstitution "Deus Scientiarum" vom 14.5.193!
die Ablegung des Eides für die Lehrer der kirchlichen Hochschulen und
für die Erlangung der akademischen Grade an ihnen besonders
vorgeschrieben.
Da die "Konzilskirche" den Modernismus teils akzeptierte oder zumindest
ihn verharmloste,wurde konsequenterweise dieser Eid 1967 aufgehoben.
Zusammenfassend erscheinen somit als typische Merkmale des Modernismus:
Leugnung der vernünftigen Grundlagen des übernatürlichen Glaubens, der
übernatürlichen Offenbarung, der Gottheit Christi, der Göttlichkeit der
Kirche, der Unveränderlichkeit ihrer Lehren und der übernatürlichen
Kraft ihrer Sakramente. Wenn die Kirche solche Anschauungen
verurteilte, war das nicht, wie Liberale und Modernisten aller
Schattierungen es zu sagen pflegten, ein Zeichen des Absolutismus und
der Lieblosigkeit. "In Wirklichkeit war es Papst Pius X. darum zu tun,
den Offenbarungscharakter der christlichen Religion gegen einen
nivellierenden Rationalismus und einen historischen Relativismus zu
wahren bzw. wieder zur Geltung zu bringen - eine notwendige, aber
chmerzliche Aufgabe".(13)
Mit diesem Rundschreiben war die grundsätzliche Lösung für das Problem
der Konfrontation mit der modernen Wissenschaft und Philosophie
gegeben. Daß sich die Kirche in den nächsten Jahrzehnten dieser Aufgabe
weiter stellen mußte zeigt die Enzyklika "Humani generis" Pius XII.
(195o). Warnend erhebt in ihr der Papst seine Stimme gegen die neue
Theologie mit ihrer Anpassung an die Lehren des Evolutionismus und des
Existentialismus. "Ratzinger nannte dieses Weltrundschreiben ein
letztes Wetterleuchten der antimodernistischen Krise". (14)
Anmerkungen:
(1) Zitiert nach Friedrich Heiler "Alfred Loisy, der Vater des katholischen Modernismus", S.57.
(2) Handbuch der Kirchengeschichte Band Vl/2, herausgegeben v. Hubert Jedin, Herder 1973, S.465.
(3) Ebenda., S.473.
(4) Anton Holzer, Vatikanum II, S.89ff.
(5) Handbuch der Kirchengeschichte Band Vl/2 ... S.442.
(6) Brockhaus Enzyklopädie Bd.16 (197) Artikel Schell Hermann.
(7) August Hagen; Der Reformkatholizismus in der Diözese Rottenburg, Stuttgart 1962, S.26.
(8) Ebenda, S.82.
(9) Ebenda, S.205/06.
(10) Ebenda, S.206/07.
(11) Enzyklika Pascendi ... Freiburg 1908, S.5.
(12) Ebenda., S.93.
(13) Aug. Hagen: Der Reformkatholizismus .... S.69.
(14) Schuchert-Schütte: Die Kirche in Geschichte und Gegenwart, Thomas-Verlag Kempen, S.500.
Benützte Literatur:
Bessmer J.: Philosophie und Theologie des M. Erklärung des Lehrgehaltes
der Enzyklika Pascendi, des Dekrets Lamentabili und des Eides wider die
Modernisten (Fr.1912).
Brockhaus Enzyklopädie, Band 16 (197 3) Artikel Hermann Schell.
Hagen August: Der Reformkatholizismus in der Diözese Rottenburg, Stuttgart 1962.
Handbuch der Kirchengeschichte, hrsg. v. Hubert Jedin, Bd. VT/2, Freiburg 1973.
Heiler Friedr.: Der Vater des Modernismus Alfr. Loisy, München 1947.
Holzer Anton: Vatikanum II., Basel 1977.
Lexikon für Theologie und Kirche 7. Bd., Artikel Modernismus, Freiburg 1935.
Lexikon für Theologie und Kirche 7. Bd., Artikel Modernismus, Freiburg 1962.
Programm der italienischen Modernisten, Jena 1908.
Rundschreiben Unseres Heiligsten Vaters Pius X. über die Lehren der Modernisten, Freiburg 1908.
Sacrament un Mundi, Theol. Lexikon für die Praxis III. Band, Artikel Modernismus, Freiburg 1969.
Schuchert-Schütte: Die Kirche in Geschichte und Gegenwart, Kempen 1970.
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