Diaspora
von
Eberhard Heller
Es ist eine höchst erstaunliche Tatsache, daß sich die Juden trotz
ihrer staatlichen Zerschlagung und der Entvölkerung Jerusalems
spätestens im Jahre 135 n.Chr. durch Hadrian 1), wodurch sie endgültig
gezwungen waren, sich in Kleinasien, Griechenland, Italien und
Nordafrika anzusiedeln, um sich später über die ganze Welt zu
zerstreuen, sich weder als Volk in den Gastländern assimilierten noch
von diesen absorbiert wurden, sondern daß sie ihre religiöse,
kulturelle und völkische Identität - trotz großer innerer
Auseinandersetzungen - bis heute bewahrt haben.
Betrachtet man hingegen unseren Widerstand gegen die sog.
'Konzils-Kirche', die im wesentlichen den Absolutheitsanspruch Gottes
und der durch Christus gegründeten Kirche aufgegeben hat, um sich der
Welt "gleichförmig" zu machen, so muß man feststellen, daß dieser nach
gut einer Generation fast zum Erliegen gekommen ist und eigentlich nur
noch von einzelnen, verstreut lebenden Christen wahrgenommen wird. Die
Situation wurde bereits häufig geschildert: anstatt kirchlich-pastorale
Strukturen mit intensiver katechetischer Unterrichtung und Aufklärung
aufzubauen, um so ein Fundament für den Wiederaufbau zu legen, haben
sich die jungen Kleriker, die sich vorgeblich für diese
geistig-geistliche Auseinandersetzung haben ausbilden lassen, fast
ausnahmslos darauf be-schränkt, 'orthodoxe' Sekten zu bilden und
Zentren zur sakramentalen Versorgung zu bilden. Und gerechterweise muß
man hinzufügen, daß die meisten Gläubigen nicht mehr eingefordert
haben. D.h. man muß nüchtern konstatieren, daß unser Widerstand an
klerikaler Anmaßung und heilsegoistischem Opportunismus der Gläubigen
fast zum Erliegen gekommen ist.
Aber selbst diejenigen, die den "Weg durch die Nacht" bis zu Ende gehen
wollen, d.h. die um eine orthodoxe Glaubensposition Ringenden, scheinen
den bitteren Ernst der Situation und deren Gefährlichkeit zu
unterschätzen.
Wir durchleben z.Zt. eine Entwicklung, wo selbst die Grenzen zwischen
Modernismus und Orthodoxie zu schwimmen beginnen. Häufig werden
konservative Attitüden und die Rückbesinnung auf traditionelle Momente
bei den Modernisten als deren Konversion mißverstanden. Sieht man auf
das Verhalten der Intellektuellen unter den Gläubigen, so stellt man
allgemein fest, daß an einer Aufarbeitung der konziliaren Ideologien
und/oder am Festhalten rechtgläubiger Positionen immer weniger
Interesse besteht. Auch wenn der Nachweis vorliegt,
Ratzingers/Benedikt's XVI. Positionen seien häretisch oder apostatisch,
wenn er z.B. äußert, Juden, Christen, Muslime glauben "an den einen
Gott", so bleibt das unberücksichtigt, es ist belanglos. Benedikt XVI.
verkörpert den gebildeten Theologen, der in seiner konservativen
Selbstdarstellung sogar vielen Gläubigen eine gewisse innere Stabilität
vermittelt und in der Tat als geistliches Oberhaupt fast unumstritten
ist. Nicht von ungefähr darf der von den Econern gewählte, intrigante
Assistent des Generaloberen Fellay Pfluger ungestraft seine
angeblich katholischen Gläubigen auffordern, für die Bekehrung des "Hl.
Vaters" zum wahren Glauben zu beten, d.h. der auch von Pfluger als
oberster Lehrer anerkannte 'Papst' muß erst noch "gesund gebetet"
werden, damit er es auch ist! Eine solche Aufforderung markiert
hinsichtlich des Papstamtes eine Position, die unübersehbar den
geistig-theologischen Tiefstand nicht nur des Autors, sondern auch den
seiner Anhänger, die eine solch absurde Zumutung nicht mit aller
Vehemenz zurückweisen.
Neben dieser völligen Aufweichung dogmatischer Positionen scheint mir
aber der Rest der wahren Gläubigen, die nun mehr oder weniger
priesterlos überall in der Diaspora auf sich gestellt, teils vereinsamt
und verstreut leben, nicht begriffen zu haben, was es heißt, in der
"Vereinzelung" geistig zu
leben. Denn nicht anders kann ich verstehen, daß sich für ein Treffen
gerade dieses Teils der Gläubigen, auf dem Konzepte zur Überwindung
dieser geistig-religiösen Vereinsamung entwickelt werden sollten, nicht
genügend Interessenten gemeldet haben. Entweder traut man uns die
erfolgreiche Durchführung einer solchen Veranstaltung nicht zu (wegen
mangelnder theologisch-pastoraler Kompetenz) oder man unterschätzt, was
es heißt, einsam, ohne Unterstützung "durch die Nacht" geistiger
Wirrnisse zu wandern - oder man hat resigniert ... und desertiert...
und nistet sich ein im religiösen Ein-Topf der Post-Modernisten.
Um was geht es? Als getaufte und gefirmte Christen ist und bleibt es
unsere Pflicht, unseren Glauben ungeschmälert zu bekennen. Wir sollen
Zeugen für ihn sein. Es ist klar, daß die es nicht sein können, die als
angeblich 'sedisvakantistische' Kleriker ihren Auftrag nur darin
erblicken, sekten-ähnliche Gebilde zu schaffen, anstatt an dem
Wiederaufbau der Kirche als Heilsinstitution zu arbeiten... diese haben
ihren Auftrag gründlich mißverstanden. Wir können aber diese
Vereinzelung, in der wir für Christus und Seine Kirche Zeugnis ablegen
sollen, nur dadurch aushalten, indem wir uns gegenseitig stützen. Wenn
wir das nicht bewerkstelligen (wollen), nähern wir uns einer Situation,
von der der Evangelist Matthäus schreibt: "Es wird nämlich dann 'eine
große Drangsal sein, wie dergleichen nicht gewesen ist seit Anfang der
Welt bis jetzt' (Dan. 121) und auch nicht mehr sein wird. Und würden
jene Tage nicht abgekürzt, würde kein Mensch gerettet werden; doch um
der Auserwählten willen werden abgekürzt werden jene Tage." (Matth. 24,
21-22)
Wenn wir - jeder für sich - dieser schrecklichen Gefahr, die der
Evangelist als Vision vor uns hinstellt, entgehen wollen, können wir
das nur tun, indem wir uns demutsvoll dieser Diaspora-Situation
stellen, sie annehmen als Zulassung Gottes, versuchen für einander
Hilfe zu sein und zumindest dafür beten, daß Er uns alle - sich selbst und "seine Brüder" im Glauben stärke.
Anm.:
1) Nachdem überzogene messianische Hoffnungen die Juden im Jahre 66
n.Chr. zu einem Aufstand gegen die römische Besatzung verleitet hatten,
wurde dieser in den Vespanianischen Kriegen niedergeschlagen. Im Jahre
70 n.Chr. wurde Jerusalem durch Titus, den Sohn Vespasians, zerstört.
Der Tempel ging in Flammen auf. Der jüdische Grundbesitz wurde an
römische Soldaten verteilt. Der Historiker Josephus Flavius, selbst
Jude, der Titus als Unterhänder diente, schildert den Untergang
Jerusalems weitgehend als Selbstzerfleischung der jüdischen Bewohner,
zumal die Kapitulationsangebote von Titus abgelehnt wurden. Die
Eroberung und Zerstörung Jerusalems wurde aus christlicher Sicht als
gerechte Bestrafung dafür angesehen, daß die Juden bei der Kreuzigung
Christi auf den Ausruf des Pilatus: "Ich bin unschuldig am Blut dieses
Gerechten!" noch gehöhnt hatten: "Sein Blut komme über uns und unsere
Kinder." (Matth. 27,24-25) Ein letztes Aufflackern nationalen
Bewußtseins waren die von Bar Kochba und Rabbi Akiba geschürten
Aufstände in den Jahren 132 bis 135 n.Chr., die von Hadrian blutig
niedergeschlagen wurden. Danach war Jerusalem den Juden verschlossen,
welches fortan den Namen Aelia Capitolina führte. - Interessant zu
wissen ist, daß die religiös orthodoxen Juden gegen die Gründung des
israelischen Staates waren und sind, weil sie die Auffassung vertreten,
sie hätten nur Anrecht auf ein staatliches Territorium, wenn der
Messias gekommen sei.
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