54. Jahrgang Nr. 3 / März 2024
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1. Mitteilungen der Redaktion
2. Meine Begegnung mit S.E. Erzbischof Pierre Martin Ngô-dinh-Thuc
3. My Time with His Excellency, Archbishop Pierre Martin Ngô-dinh-Thuc
4. Ma rencontre avec S.E. Mgr. Pierre Martin Ngô-dinh-Thuc
5. Mi encuentro con Su Excelentísimo y Reverendísimo Arzobispo Pierre Martin Ngô-dinh-Thuc
6. Il mio incontro con S.E. l´Arcivescovo Pierre Martin Ngô-dinh-Thuc
7. DECLARATIO
Wir lieben immer zu wenig!
 
"Wir lieben immer zu wenig!"

Interview mit Ida Friderike Göres (1901-1971)

Warum ist die Liebe zueinander in Ehe und Familie von so grundlegender Bedeutung?

Ida F. Görres: Ich betone und wiederhole immer wieder, was nicht oft genug gesagt werden kann: dass nämlich die menschliche Liebe uns als ABC, als Gehschule für die Liebe zu Gott gegeben ist. In der echten Liebe lernt der Mensch ja meist zum erstenmal, aus dem engen Ring seiner Selbstsucht auszubrechen, sich an die zweite Stelle setzen, lernt Rücksicht, Treue, Hingabe, Großmut, Vertrauen.

Und warum muss diese Liebe letztlich im Glauben an Gott gründen?

Ida F. Görres: Weil auch das Umgekehrte zutrifft: dass nämlich der Umgang mit Gott die große Schule ist für den Umgang mit Menschen. Der Bund des einzelnen mit Gott ist das große Urbild und Vorbild für den Bund von Mensch zu Mensch. In der neuen Wirklichkeit des Lebens mit Gott hat der abendländische Mensch die Möglichkeit einer absoluten Liebe, einer unwiderruflichen, rückhaltlosen, ausschließlichen und niemals welkenden Liebe geschaut und gelernt: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Gemüt und aus allen deinen Kräften!" Christliche Ehe scheint mir auch der gewaltig kühne, atemversetzende Versuch, solche Liebe in die Liebe der Geschlechter zu "übersetzen". Aber hören Sie richtig: ich sage übersetzen, nicht gleichsetzen!

Wenn zwei Menschen beginnen sich zu lieben und sich die sakramentale Ehe versprechen, warum soll dann diese Liebe unbedingt ein Leben lang bestehen bleiben?

Ida F. Görres: Oft erwacht die Liebe, jenes Entzücken am anderen, dem sich nun unser Wesen "zuneigt", mit allen Fasern, in all seinen vielfältigen Schichtungen des Gefühls, Gemeinschaft des Leibes wie der Seele verlangend und begehrend in einem "Augenblick". Die Entscheidung für einen anderen kann also in einem Augenblick fallen, verwirklicht wird sie in der Langsamkeit eines ganzen Lebens. Denn auch der andere "ist" ja noch nicht, was er dennoch "ist", aber nur wie im Keim. Er muss es werden, und es braucht unser ganzes Leben, bis unser innerster Kern alle oberflächlichen und ungültigen Schichten unseres Ich durchdringt und beherrscht, bis ein Mensch wahrhaft er selbst wird und seine Wahrheit darstellt. Dass dieses innerste Selbst das Selbst im anderen erkennt, sich ihm verbindet und verbündet und beide zusammen zu einer Verwirklichung helfen: auch das bedeutet Ehe. In anderen Worten: Ja, im andern, im Geliebten ist etwas, das "solche" Liebe verdient. Etwas, das man gar nicht genug, geschweige denn zu viel lieben kann. Wir lieben immer zu wenig. Wir bleiben immer etwas schuldig. Ach, und wie sehr liegt es an unserem Zuwenig, wenn das Bild des anderen sich im erfahrbaren Bereich nicht zu der überzeugenden Liebenswürdigkeit entfalten kann! Auch der Mensch bedarf der Wärme und des Lichts, um auszureifen. Kann man überhaupt einen anderen zu sehr lieben? Ich glaube nicht.

Warum braucht es dazu die "Unauflöslichkeit" der Ehe?

Ida F. Görres: Ein alter weiser Landpfarrer hat mir einmal gesagt: Die Ehe ist der Regenbogen, sie enthält alle "Farben" menschlicher Beziehungen: Eheleute sind einander Vater und Mutter, Sohn und Tochter, Bruder und Schwester, sie sind Freunde und Kameraden, Gatten und Liebende. Je höher eine Ehe an menschlichem Rang steht, desto deutlicher und voller spielen alle diese Farben in ihr, desto weniger ruht sie ausschließlich auf dem Geschlecht, so sehr sie auch darin wurzelt. Und darin zeigt sich, warum sie ein ganzes Leben und die Ausschließlichkeit der Einheit braucht, um sich zu erfüllen: ein solches Ausschöpfen aller Möglichkeiten erwirbt und vollzieht sich nicht in flüchtiger Berührung oder "auf Kündigung". Es zeigt sich aber auch, dass Ehe eine Fülle in sich birgt, anders als die Fülle, welche die "Abwechslung" verspricht: dass sie mehr bietet, nicht weniger, als alle anderen stückhaften Formen der Geschlechterverbindung.

Im Zeitalter des Individualismus und der Selbstverwirklichung stellt sich aber für viele die Frage, wie sehr Ehe und Familie das eigene Leben einschränken.

Ida F. Görres: Ehe ist nicht mein Leben und dein Leben, sondern unser Leben, ein Neues. Jede Ehe ist ihre eigene erste Frucht, noch vor dem Kind. Das heißt aber nicht Selbstaufgabe und Versuch einer vollkommenen Verschmelzung zu unmöglicher "Einheit" .

Also doch keine vollkommene Einheit?

Ida F. Görres: Zur Liebe gehören immer zwei, Liebe gibt es gar nicht ohne einen Gegen-Stand, ein Gegenüber. Nicht einmal die mystische Gottvereinigung bedeutet Auflösung des Selbst in Gott, "wie der Tropfen im Ozean" - solche Auffassung ist stets von der Kirche verworfen worden. Echte Liebe ist nur möglich von Person zu Person: dazu gehört Abstand im Einklang, Ehrfurcht, dem Anderssein des Anderen Raum geben und lassen können. Aber diese beiden müssen ohne Vorbehalt zur ganzen Hingabe aneinander und gemeinsam an Gott bereit sein.

Überfordert das katholische Eheverständnis den Menschen in unserer heutigen Gesellschaft nicht?

Ida F. Görres: Natürlich verlangt Ehe mehr von uns, als wir leisten können - und wie wir einmal sind. Das heißt, sie verlangt, dass wir unablässig wachsen und uns unablässig um dieses Wachstum bemühen. So heißt es immerfort und unerbittlich an sich arbeiten, dass man liebesfähig bleibt und damit ehefähig.

Ist man das "von Natur aus"?


Ida F. Görres: Der Anlage nach - gewiss. Aber "von Natur aus" entwickelt sich diese Anlage nicht, wenn Du darunter "mühelos" und "von selbst" verstehst. Von Natur aus ist jeder von uns ein gut entwickelter unersättlicher Egoist - Mann wie Frau. Die Frau ist, was immer sentimentale Verlogenheit behauptet, ebensowenig "von Natur aus mütterlich" wie der Mann ritterlich. Beide werden es erst, wenn der Egoist erschlagen ist - und wie sehr wehrt er sich! Er hat nicht neun Leben wie die Katze, sondern aberhundert, und Franz von Sales hatte schon recht: "Die Selbstsucht stirbt erst eine halbe Stunde nach unserem Tod!" Sie ist es, die uns unfähig zur Ehe, weil unfähig zur Liebe macht - und wer dürfte behaupten, dass sie in ihm nicht beständig nachwüchse, wie Nägel und Haar?

Kein Wunder also, wenn auch sakramentale Ehen immer wieder zu scheitern drohen?


Ida F. Görres: Wir können immer wieder aus der Liebe zueinander fallen, wie wir aus der Liebe zu Gott fallen. Wir können einander verraten, wie wir Gott verraten. Wir können einander die Treue brechen, offen oder geheim, wie wir sie, immer wieder, Gott brechen. Es gibt nicht nur den krassen Bruch, es gibt hier wie dort die schleichende Entfremdung, den verborgenen Abfall, das heimliche Erkalten, das innerste Sichverschließen, Sichverweigern und Abwenden.

Und dennoch glauben Sie an die christliche Ehe?


Ida F. Görres:
Die christliche Ehe, die christliche Treue hat immer wieder an der Auferstehung teil, wie unser ganzes Leben mit Gott: Sie kennt Reue und Buße. Sie kennt Wiederholung und Vergebung. Jede gute Ehe kennt hundertfachen Anfang.

"Gute Ehen werden in der Hölle geschlossen" hat Hugo Ball einmal gesagt.

Ida F. Görres: Glaubt nur nie den Unsinn von der Hochzeit als dem "schönsten Tag" des Lebens. Die echte Ehe wird jeden Tag schöner. Sie kann ja nicht stehenbleiben, wie alles Lebendige muss sie wachsen oder absterben. Menschen ändern sich und wachsen und auch hier gilt Newmans tiefes Wort: "Leben heißt sich wandeln und vollkommen sein heißt, sich oft gewandelt haben." Die Fähigkeit zur Liebe wächst ständig, wie das Vertrauen wächst, die Zusammengehörigkeit, die gemeinsamen Erinnerungen, die Dankbarkeit und der Humor. Rückschauend wundert man sich, wie klein der Anfang war und auf welch winzigem und schwachem Ansatz hin man einst das Ganze zu wagen sich unterfing. Freilich steht die Ehe des Christen immer im Advent, trägt das Zeichen des Vorläufigen und Unvollendeten an sich.

Was sollten Kinder in einer katholischen Ehe lernen, außer das ihre Eltern Sorge tragen um die täglichen Bedürfnisse und Anliegen?


Ida F. Görres: "Daran, wie eine Mutter tröstet, sollte das Kind lernen, was es heißt: Gott tröstet", schrieb einst eine vorbildliche Mutter. Daran, wie ein Vater verzeiht, sollte das Kind lernen, was es bedeutet, dass Gott die Sünde vergibt. Wissen nicht auch deshalb so viele Menschen nichts von Gottes Wirklichkeit, lehnen sie nicht darum die Botschaft als leeres Wortgeklingel ab, weil sie niemals unter Menschen das ABC der Liebe und damit der Religion, das heißt doch: der Gottverbundenheit, gelernt haben? Wie soll einer Gott zu bitten wagen, der mit Bitten bei den Menschen nur schlechte Erfahrungen gemacht hat?

(zitiert nach PUR spezial 3/2015)

 
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