DIE HAUPTIRRTÜMER DER GEGENWART
NACH URSPRUNG UND URSACHEN
- Denkschrift an Seine Eminenz Kardinal Fornari
vom 19. Juni 1852 -
von
Donoso Cortés
Vorwort der Redaktion:
Seit sich die illuminatischen Ideen zur Erhebung gegen Thron und Altar
zunächst im politischen Be-reich in der Französischen Revolution, die
u.a. in der Enthauptung des Königs zugleich einen symbolischen
Höhepunkt errreichte, vulkanartig ausgetobt haben, kam und kommt
Europa, kommt die Welt politisch nicht mehr zur Ruhe, ist auch die
Kirche mit in diesen revolutionären Strudel geraten: Kriege, Revolten,
Bürgerkriege, die kommunistische Revolution, zwei Weltkriege ziehen
eine blutige Spur hinauf bis in unsere Tage... bis vor unsere Haustür.
Heute spielt sich zudem der "Greuel der Verwüstung" im Allerheiligsten
ab.
Nicht erst seit Oswald Spenglers Geschichtsanalyse "Der Untergang des
Abendlandes", die in 2 Bänden 1918-1922 erschien, haben Mahner und
Propheten, zu denen auch Juan Donoso Cortés 1) gehört, diesen
offensichtlich programmierten Auflösungsprozeß zu beschreiben und zu
erklären versucht, haben die Ursachen erforscht und die wahren Gründe
für diesen Zusammenbruch offengelegt. Selbst die Mutter Gottes hat
versucht, beschwörend und mahnend in dieses dramatische Geschehen
einzugreifen. Sechs Jahre vor der Abfassung nachfolgender Analyse war
sie den Hirtenkindern Melanie und Maximin in der Bergeinsamkeit von La
Salette erschienen und hatte über sie Botschaften an die Welt verkünden
lassen: der Ungehorsam gegen Gott zu allererst ist die Ursache des
allgemeinen Desasters... dessen unheilvollen Endpunkt sie zugleich
prophezeite: "Rom wird den Glauben verlieren und Sitz des Antichrist
werden", eine Weissagung, die sich vor unseren Augen erfüllt.
Im Gegensatz zu Spengler, der den Untergang des Abendlandes aus einer
den jeweiligen Kulturen zugrunde liegenden, lebensgesetzlichen
Entwicklungsgang zu erklären versucht, zeigt Cortés auf, daß den
verheerenden politischen Entwicklungen religiöse Entscheidungen
vorhergehen, daß der Ablehnung bestimmter religiöser Positionen, d.s.
Häresien, bestimmte Fehlpositionen (mit teils katastrophaler
Auswirkung) im gesellschaftlich-politischen Leben korrespondieren. So
zeigen seine theologisch-politischen Reflexionen, deren logische
Stringenz nicht nur für die Menschen der damaligen Zeit bestechend war,
gewisse Parallelen zu den Mahnungen der Mutter Gottes in La Salette.
Der österreichische Gesandte Hübner schreibt in seinem Tagebuch über
Cortés: "Ein in den dürren Steppen der Diplomatie verlorener
Einsiedler, ein Apostel, der den kulturlosen Wilden in den Salons
predigte, ein Asket unter dem goldbestickten Brokat eines Gesandten."
(Cortés, Drei Reden, S. 9)
Wir veröffentlichen Cortés' Analyse, nicht um an dessen wuchtige
prophetische Worte zu erinnern, sondern um durch sie Transparenz für
eigenes Handeln zu geben, da im heutigen allgemeinen Abfall das
Bekenntnis zum christlichen Glauben - ohne die Schutzmauern der
kirchlichen Institution - uns in eine Situation stellt, in der dieses
Bekenntnis zugleich politische Dimensionen erhalten muß.
E. Heller
* * *
Eure Eminenz!
Devor ich Eurer Eminenz die kurzen Auskünfte, um die Sie mich in Ihrem
Schreiben vom letzten Mai gebeten haben, zum freundlichen Studium
unterbreite, erscheint es mir nötig, bereits hier die Grenzen
festzulegen, die ich mir selbst bei der Abfassung dieser Denkschrift
gesetzt habe.
Unter den heute vorherrschenden Irrtümern gibt es keinen einzigen, der
sich nicht aus einer Häresie ableiten ließe. Unter den modernen
Häresien gibt es keine einzige, die nicht auf eine andere
zurück-zuführen wäre, die schon von altersher von der Heiligen Kirche
verurteilt wurde. Mit den seinerzeitigen Irrtümern hat die Kirche auch
die gegenwärtigen und die zukünftigen verworfen. Obwohl sie
untereinander völlig gleich sind, wenn man sie ihrem Wesen und ihrem
Ursprung nach betrachtet, so bieten diese Irrtümer dennoch das
Schauspiel eines gewaltigen Unterschiedes; wenn man sie nach ihren
Anwendungen beurteilt. Ich nehme mir nun heute vor, sie mehr von der
Seite ihrer Anwendungen zu betrachten, als von der ihres Wesens und
ihres Ursprungs; und zwar noch mehr vom politischen und sozialen
Standpunkt aus gesehen, als von dem rein religiösen. Auch möchte ich
hier mehr das, was an ihnen verschieden ist, als das, was ihnen allen
gemeinsam ist, erwägen; und schließlich auch das, worin sie andauerndem
Wechsel unterworfen sind, als das, worin sie beständig bleiben.
Zwei Gründe haben mich bestimmt, diesen Weg zu beschreiten: Der eine
liegt in meinen persönli-chen Verhältnissen, der andere im
eigentümlichcn Charakter des Jahrhunderts, in dem wir leben. Was mich
selbst betrifft, sohabe ich immer geglaubt, daß ich als Laie, aber auch
als Mann des öffentlichen Lebens, die unbedingte Verpflichtung habe,
meine eigene Zuständigkeit zu verneinen, um die heiklen Fragen, die
über verschiedene Gegenstände unseres Glaubens und des Dogmas
gegenwärtig erörtert werden, zu lösen. Was andererseits das Jahrhundert
betrifft, in dem wir leben, so braucht man es nur ein wenig zu
betrachten, um zu erkennen, daß das, was es so traurig berühmt unter
den Jahrhunderten macht, nicht gerade darin liegt, daß es in anmaßender
Weise seine Häresien und Irrtümer theoretisch in alle Welt
hinausposaunt, sondern vielmehr daran, daß es eine satanische Anmaßung
aufbringt, in der Art, wie es die Häresien und die Irrtümer, in die
vergangene Jahrhun-derte gefallen waren, auf die gegenwärtige
Gesellschaft anwendet.
Es gab einmal eine Zeit, in der die menschliche Vernunft sich in
verrückten Spekulationen gefiel und sich schon damit zufrieden gab,
wenn sie es durchgesetzt hatte, im intellektuellen Leben eine
Verneinung einer Behauptung gegenüberzustellen, in der Philosophie
einen Irrtum einer Wahrheit oder in der Religion eine Häresie einem
Dogma. Heute aber gibt sich die gleiche Vernunft nicht damit zufrieden,
wenn sie nicht auch gleichzeitig in die politische und soziale Welt
hinabsteigen kann, um auf diese Weise alles in Unordnung zu stürzen.
Und so bringt sie es zuwege, daß, wie durch eine Zauberei, sich aus
jedem Irrtum ein Zwist ergibt, aus jeder Häresie eine Revolution und
aus jeder ihrer stolzen Negationen ein ungeheurer Zusammenbruch.
Der Baum des Irrtums scheint heute zur vollen, von der Vorsehung
zugelassenen Reife gekommen zu sein, gepflanzt durch das erste
Geschlecht verwegener Irrlehrer, begossen nachher immer wieder und
wieder von neuen Geschlechtern im Irrglauben, zeigte er sich in seinem
Blätterschmuck zu den Zeiten unserer Großväter, in seinen Blüten zur
Zeit unserer Väter, und heute steht er vor uns handgreiflich und mit
Früchtcn behangen. Seine Früchte sollen auf ganz besondere Weise
verwünscht und verflucht sein, wie es in den früheren Zeiten seine
duftenden Blüten waren, wie es die Blätter waren, die ihn bedeckten,
wie es der Stamm war, der sie trug, und wie es schließlich auch die
Menschen waren, die ihn pflanzten. (...)
Nachdem einmal auf diese Weise die rein theologischen Fragen für mich
ausscheiden, habe ich mich ausschließlich mit jenen anderen
beschäftigt, die, wenn sie auch theologisch ihrem Ursprung und ihrem
Inhalt nach waren, doch allmählich infolge langsamer und steter
Umwandlungen zu politischen und sozialen Fragen geworden sind. (...)
Aus den gleichen Gründen, nämlich den allzuvielen Beschäftigungen und
der allzu kurzen Zeit, die mir dafür zur Verfügung steht, war es mir
leider auch nicht möglich, noch einmal die Bücher der modernen
Häretiker durchzulesen, um mir aus ihnen diejenigen Sätze anzumerken,
deren Inhalt bekämpft und verurteilt werden muß. Gleichwohl habe ich
darüber besonders aufmerksam nachgedacht und bin dabei zu der
Überzeugung gekommen, daB dies in den früheren Zeiten weitaus nötiger
war als heute. Denn zwischen damals und heute ist, genau betrachtet,
folgender bemerkenswerter Unterschied: In den vergangenen Zeiten waren
die Irrlehren in den Büchern derart verborgen, daß, wenn man nicht in
diesen Büchern nach ihnen suchte, man sie sonst nirgends finden konnte.
Hingegen ist der Irrglaube in den Zeiten, die wir durchleben, sowohl in
den Büchern wie auch außerhalb derselben anzutreffen; denn er ist
sowohl in ihnen wie auch überall sonstwo. Er ist in den Büchern, in den
gesellschaftlichen Einrichtungen, in den Gesetzen, in den Zeitungen, in
den Reden, in den Gesprächen, in den Lehrsälen, in den Vereinen, im
eigenen Heim und in der Öffentlichkeit, kurz in allem, was gesagt, aber
auch in allem, was verschwiegen wird. (...)
Die modernen Häresien sind zahllos; doch haben sie alle, genau
genommen, ihren Ursprung, aber auch ihr Ende in zwei höchst wichtigen
Verneinungan: die eine bezieht sich auf Gott, die andere auf den
Manschen. Die Gesellschaft verneint, daß Gott sich um seine Geschöpfe
sorge. Beim Menschen aber stellt sie in Abrede, daß er in der Erbsünde
empfangen sei. Sein Stolz hat dem Menschan von heute zwei Sätze
zugeflüstert und beide hat er geglaubt, nämlich,
- daß er keinen Makel habe und daß er Gott nicht benötige;
- daß er stark sei und daß er schön sei.
Deswegen sehen wir ihn auf seine Macht so eingebildet und in seine Schönheit so verliebt.
Wenn man aber die Erbsünde verneint, so verneint man unter vielem anderen auch folgende grundlegenden Lehren:
- daß das zeitliche Leben nur ein Leben
der Sühne ist, und daß die Erde, auf der sich dieses Leben abspielt,
einem Tränental gleicht;
- daß ferner das Licht der Vernunft nur schwach und flackernd ist;
- daß der Wille des Menschen vielfach kränklich und schwach ist;
- daß der Genuß uns nur als Versuchung gegeben ist, damit wir uns seines Anreizes erwehren und uns von ihm befreien;
- daß der Schmerz etwas Gutes ist, wenn er aus einem über natürlichen Beweggrund freiwillig angenomman wird;
- daß uns schließlich die Lebenszeit zu unserer Heiligung gegeben ist,
und daß der Mensch dessen bedarf, nämlich heilig zu werden.
Wird dies alles aber geleugnet, so kommt man neben vielen anderen zu folgenden Behauptungen:
- daß das irdische Leben uns zu dem
Zwecke gegeben sei, um uns durch eigene Kraft und mittels eines
unaufhörlichen Fortschrittes zur höchgan Vollkommenheit zu erheben;
- daß der Ort, an dam wir dieses Leben verbringen, von Grund auf durch
den Menschen umgewandelt werden kann und umgewandelt werden muß;
- daß der Mensch bei gesunder Vernunft sei, und es daher keine Wahrhat
gebe, die er nicht begreifen könne, und daß es andererseits auch keine
Wahrheit gebe, die über die Fassungskraft seiner Vernunft hinausgehen
könnte;
- daß es kein Übel in dieser Welt gebe, das nicht die Vernunft als
solches erkenne, noch auch eine andere Sünde, als jene, von der uns
unsere Vernunft sagt, daß sie Sünde sei;
- das heißt, daß es weder ein Übel noch eine Sünde gibt als jene, die die Philosophie als eine Sünde oder ein Übel anerkennt;
- daß ferner der Wille des Menschan an und für sich schon gesund sei und es daher nicht nötig habe, berichtigt zu werden;
- daß wir den Schmerz fliehen und den Genuß suchen sollen;
- daß die Lebenszeit uns gegeben ist, um sie zu genießen,
- und daß schließlich der Mensch aus sich heraus gut und unverdorben sei.
Diese Verneinungen und diese Behauptungen in Bezug auf den Menschen
führen zu anderen Vernei-nungen und zu anderen Behauptungen in Bezug
auf Gott. Unter der Voraussetzung, daß der Mensch nicht in Sünde
gefallen sei, ergibt sich die Leugnung - und es wird auch geleugnet -,
daß der Mensch wiedergeboren wurde. Unter der Voraussetzung, daß der
Mensch nicht wiedergeboren wurde, ergibt sich die Leugnung - und es
wird auch geleugnet - der Mysterien der Erlösung und der
Menschwer-dung, des Dogmas vom fleischgewordenen Logos und des Logos
selbst. Wenn man einerseits die natürliche Unversehrtheit des
menschlichen Willens voraussetzt und andererseits sich weigert,
anzu-erkennen, daß es ein anderes Übel oder eine andere Sünde gebe, als
was die Philosophie dafür aus-gibt, so folgt daraus die Leugnung - und
es wird auch geleugnet - des Einflusses der heiligmachen-den Gnade auf
den Menschen und damit gleichzeitig des Dogmas von der dritten
göttlichen Person, des Heiligen Geistes. Aus allen diesen Verneinungen
ergibt sich die Leugnung des erhabenen Dog-mas von der Heiligsten
Dreifaltigkeit, Eckstein unseres Glaubens und Fundament aller
katholischen Dogmen.
Daraus entspringt das umfassende System des Naturalismus, der den
gründlichen, allgemeinen und vollkommenen Widerspruch aller unserer
Glaubenssätze darstellt. Als Katholiken glauben und be-kennen wir, daß
der sündige Mensch immerwährend hilfsbedürftig ist, und daß Gott ihm
diese Hilfe ständig mittels eines übernatürlidhen Beistandes gewährt,
in dem seine unendliche Liebe und seine unendliche Barmherzigkeit
zugleich in wunderbarer Weise wirksam sind. Für uns ist das
Übernatür-liche die Atmosphäre des Natürlichen, das heißt, jenes
schließt dieses gleichzeitig ein und erhält es, ohne sich fühlbar zu
machen.
Zwischen Gott und dem Menschen gab es einen unergründlichen Abgrund.
Der Sohn Gottes ist aber Mensch geworden und dadurch, daß in ihm beide
Wesenheiten wahrhaft vereint sind, wurde dieser Abgrund ausgefüllt.
Zwischen dem fleischgewordenen Worte Gottes, Gott und Mensch zu
gleicher Zeit, und dem sündhaften Menschen gab es noch eine
unermeßliche Entfernung. Um diese unermeß-liche Entfernung zu
überbrücken, setzte Gott zwischen seinen Sohn und sein Geschöpf die
Mutter seines Sohnes, die allerseligste Jungfrau, das Weib ohne Sünde.
Zwischen diesem Weib ohne Sün-de und dem sündigen Menschen war die
Entfernung immer noch sehr groß, und Gott setzte in seiner unendlichen
Barmherzigkeit zwischen die allerseligste Jungfrau und den sündigen
Menschen die "heiligen Sünder".
Wer würde nicht eine so erhabene und herrliche, eine so wundervolle und
so vollkommene Anord-nung bewundern? Der größte Sünder braucht nicht
mehr, als seine sündige Hand auszustrecken, um den zu finden, der ihm
hilft aus dem Abgrund seiner Sünde auf der Himmels leiter von Sprosse
zu Sprosse bis zu den Höhen des Himmels emporzugelangen.
Aber dies alles ist nur die sichtbare und äußere Form und, da diese nur
äußerlich uns sichtbar ist, bis zu einem gewissen Grade auch
unvollkommene Form der wunderbaren Wirkungen jener übernatür-lichen
Hilfe, mit der Gott dem Menschen beisteht, damit er sicheren Fußes auf
dem rauhen Pfad des Lebens voranschreite. Um sich eine Vorstellung von
dieser wunderbaren Übernatürlichkeit zu ma-chen, ist es notwendig, mit
den Augen des Glaubens in die höchsten und verborgensten Regionen
vorzudringen; es ist nötig, das Augenmerk auf die Kirche zu richten,
wie sie ständig durch die ge-heimnisvolle Wirksamkeit des Heiligen
Geistes geleitet wird. Es ist notwendig, in das geheime Hei-ligtum der
Seele einzudringen, um dort zu sehen, wie die Gnade Gottes sie umwirbt
und sie sucht, und wie die Seele des Menschen ihr Ohr jenem göttlichen
Ruf verschließt oder öffnet, und wie eine stille Unterredung zwischen
dem Geschöpf und seinem Schöpfer sich anknüpft und ständig fort-setzt.
Es ist aber auch nötig, einen Blick auf die Gegenseite zu werfen, auf
das, was dort geschieht, auf das, was dort gesprochen wird und auf das,
was dort der Geist der Finsternis sucht.
Wir müssen aber auch erkennen, wie die Seele des Menschen hin- und
herschwankt, wie sie sich müht und ermüdet zwischen zwei ewigen Welten,
um schließlich je nach dem Geist, dem sie folgt, im Reich des Lichtes
oder im Abgrund der Finsternis zu versinken. Es ist nötig, zu sehen und
zu erkennen, wie uns zur Seite der schützende Engel schreitet und mit
einem leisen Hauche die bösen Gedanken vertreibt, damit sie uns nicht
bedrängen und wie er seine Hände vor unsere Füße hält, damit wir nicht
straucheln. Man muß aber auch einen Rückblick auf die Geschichte
machen, um zu erfassen, in welch wundervoller Weise Gott die Schicksale
der Menschen lenkt zu seinem eigenen Ruhme, aber auch zum Heile seiner
Auserwählten. Trotzdem er also der Herr über die Geschicke ist, bleibt
dennoch der Mensch zugleich Herr über seine Handlungen. Es ist
erforderlich, daß wir erkennen, wie er zur rechten Zeit die Eroberer
und ihre Eroberungen, die Feldherren und ihre Schlachten auf den Plan
ruft. Und wie er wieder alles aufrichtet und befriedet in einem
Augenblicke, in dem er den Kriegsgeist vernichtet und den Hochmut der
Eroberer zu Fall bringt; wie er zuläßt, daß sich Tyrannen gegen ein
schuldbeladenes Volk erheben, und wie er zugibt, daß aufsässige Völker
manchmal zur Zuchtrute ihrer Tyrannen werden. Wie er ferner die Stämme
miteinander vereint und andererseits die Klassen voneinander trennt
oder sogar die Menschen in alle Winde zerstreut. Wie er die Reiche
dieser Erde ganz nach seinem Willen sich bilden und wieder zerfallen
läßt, wie er sie zu Boden schmettert und wie er sie bis zu den Wolken
hinauf erhebt. Und wir müssen wohl endlich auch sehen. wie die Menschen
verloren und blind durch dieses Labyrinth der Geschichte wandern, einer
Geschichte, die die Nationen der Menschen sich selbst schreiben, ohne
daß auch nur eine dieser Nationen erklären könnte, wie ihr Aufbau ist,
wo ihr Beginn und wo ihr Ende.
Dieses ganze umfassende und großartige System der Übernatürlichkeit,
das den richtigen Schlüssel und die richtige Erklärung für alle
menschlichen Verhältnisse abgibt, wird ausgesprochen oder
un-ausgesprochen von allen denen geleugnet, die behaupten, daß der
Mensch ohne Sünde empfangen worden sei. Und die solches heute
behaupten, sind nicht etwa bloß einige Philosophen, nein, es sind auch
die Führer der Völker, die herrschenden Klassen, ja, sogar die
Gesellschaft selbst, die vom Gift dieser zersetzenden Häresie
angesteckt ist.
Hier ist die Erklärung für all das, was wir erleben und was uns in
jener Lage berührt, in die wir nach der Logik dieser Häresie geraten
sind. Wenn das Licht unserer Vernunft nicht verdunkelt ist, dann genügt
dieses Licht, um die Wahrheit ohne Hilfe des Glaubens zu erkennen. Wenn
der Glaube nicht notwendig ist, dann ist der Verstand ein unabhängiger
Herr. Die Fortschritte in der Wahrheit sind dann abhängig von den
Fortschritten des Verstandes; die Fortschritte des Verstandes aber sind
ab-hängig von dessen beständiger Übung. Diese Übung vollzieht sich am
besten in der Diskussion. Darum ist die Diskussion das wahre
Grundgesetz der modernen Gesellschaft und der einzige Schmelztiegel, in
dem sich, einmal geschmolzen, die Wahrheiten von den Irrtümern
scheiden. Auf diesem Grundsatz beruhen die Freiheit der Presse, die
Immunität der Abgeortneten und die wahre Oberhoheit der Parlamente.
Ferner, ist der Wille des Menschen nicht angekränkelt, dann genügt ihm
schon die Anziehungskraft des Guten, um seiner Spur zu folgen, ohne den
übernatürlichen Beistand der göttlidlen Gnade. Wenn der Mensch dieses
Beistandes nicht bedarf, dann benötigt er weder die heiligen
Sakramente, die ihm einen solchen Beistand gewähren können, noch auch
die Gebete, die ihm dazu verhelfen.
Wenn das Gebet nicht erforderlich ist, dann ist es also müßig. Wenn es
müßig ist, dann ist auch das kontemplative Leben nur Müßiggang. Ist
aber das kontemplative Leben müßig und unnütz, dann sind es zum größten
Teil auch die religiösen Orden und Genossenschaften. Damit erklärt sich
aber auch, warum überall dort, wo diese Auffassung Platz gegriffen hat,
auch jene Orden aufgelöst wurden. Wenn der Mensch nicht mehr die
heiligen Sakramente benötigt, dann braucht er natürlicherweise auch
niemanden, der sie ihm spendet; und wer Gott nicht benötigt, der bedarf
auch nicht seiner Mittler auf diescr Welt. Daraus entspringt die
Verachtung und die Vertreibung der Priester dort, wo diese Ideen Wurzel
gefaßt haben. Die Mißachtung des Priestertums läuft überall auch auf
eine Mißachtung der Heiligen Kirche hinaus; und die Mißachtung der
Kirche kommt einer Mißachtung Gottes selbst überall gleich.
Wenn man den Einfluß Gottes auf den Menschen leugnet und wenn man
dadurch auch neuerdings - soweit es überhaupt möglich ist - zwischen
dem Schöpfer und seinem Geschöpf einen unergründlichen Abgrund
aufreißt, dann trennt sich auch in einem Augenblick die Gesellschaft
instinktiv von der Heiligen Kirche im gleichen Maße. Darum ist dort, wo
Gott in seinen Himmel verbannt wird, auch die Kirche in ihr Heiligtum
verbannt; und umgekehrt, dort, wo der Mensch der Herrschaft Gottes
unertan ist, unterwirft er sich auch selbstverständlich und
gefühlsmäßig der Herrschaft seiner Heiligen Kirche. Alle Jahrhunderte
bezeugen diese ewige Wahrheit, und davon legt ebenso das gegenwärtige
Jahrhundert wie die vergangenen ein beredtes Zeugnis ab.
Nachdem aber auf diese Weise alles, was übernatürlich ist, beseitigt
und die Religion in einen unkla-ren Deismus umgewandelt wurde, wendet
der Mensch, der ja nun nicht mehr der Kirche, die in ihrem Heiligtum
vcrschlossen wird, bedarf, noch auch Gottes bedarf, der in seinem
Himmel gefangen ist, so wie der Gigant Enkelados unter seinem Felsen, -
dann wendet also dieser Mensch sein Augenmerk der Erde zu und widmet
sich ausschließlidh der Pflege seiner materiellen Interessen. Das ist
das Zeitalter der Utilitätsprinzipien, der Expansion des Handels, des
Industrialisierungsfiebers, des Übermutes der Reichen und des Unwillens
der Armen. Diesem Zustand des materiellen Reichtums und der religiösen
Dürftigkeit folgt immer eine jener ungeheuren Katastrophen, die
Überlieferung und Geschichte für ewig dem Gedächtnis der Menschen
einprägen. Zu ihrer Beschwörung kommen dann die Klugen und Schlauen im
Rate zusammen. Die Sturmflut aber stürzt unaufhaltsam einher, wirft
ihre Pläne mit einem plötzlichen Stoß über den Haufen und verschlingt
alle samt ihren Beschwörungen.
Damit will ich sagen, daß es völlig ausgeschlossen ist, den Ausbruch
von Revolutionen wie auch das Auftreten von Tyrannen zu verhindern.
Denn beides ist ja im Grunde ein- und dasselbe, da beide sich nur auf
eine Gewaltherrschaft stützen, die allein noch zu regieren vermag,
nachdem man die Kirche in ihr Heiligtum und Gott in seinen Himmel
verbannt hat. Der Versuch, das Vakuum auszufüllen, das ihre Abwesenheit
in der Gesellschaft erzeugt, und zwar dadurch, daß man die öffentliche
Gewalt auf künstliche und wohlberechnete Art aufteilt, ist eine
törichte Anmaßung und bleibt vergeblich. Er gleicht hierin dem
Unterfangen, da die Lebensgeister schon gewichen sind, auf künstlichem
Wege und durch rein mechanische Mittel das Wunder des Lebens wieder
hervorbringen zu wollen. Ebenso wie weder die Kirche noch auch Gott
eine Form sind, so könnte auch nicht irgendwelche formalistische
Konstruktion die große Leere, die sie zurücklassen, ausfüllen, wenn sie
sich beide einmal von der menschlichen Gesellschaft zurückgezogen
haben; und umgekehrt, es gibt keine Regierungsform, die von Grund auf
gefährlich werden könnte, solange sich unter ihr Gott und die Kirche
frei bewegen können, das heißt, wenn die Sitten und Gebräuche ihnen
entsprechen und die Zeiten günstig sind.
Es gibt keinen Vorwurf, der merkwürdiger wäre als jener, daß man
einerseits den Katholizismus beschuldigt, die Herrschaft der Massen zu
fördern, andererseits behauptet, daß derselbe Katholizismus die
Erringung der Freiheit behindere, ja sogar die Ausbreitung des
Absolutismus begünstige. Gibt es etwas Widersinnigeres, als das erstere
jenem Katholizismus vorzuwerfen, der nicht aufge-hört hat, die blutigen
Revolutionen zu verurteilen und den Gehorsam als heilige Verpflichtung
für alle Menschen einzuschärfen? Gibt es aber auch etwas
Widersinnigeres, als die zweite Behauptung der einzigen Religion auf
Erden vorzuwerfen, die die Völkcr lehrt, daß kein Mensch ein Recht über
den anderen habe, da jede Autorität von Gott kommt? Die weiterhin
erklärt, daß keiner Größe besitzen werde, der sich nicht in seinen
Augen als klein erscheint? Daß die Regierungen für das Wohl des
Menschen eingesetzt sind? Daß Befehlen in Wahrheit Dienen heißt, und
daß schließlich die Ausübung der höchsten Gewalt ein Dienst ist, und
damit auch ein Opfer beinhaltet? Disee Grundsätze, die uns von Gott
geoffenbart und von seiner Heiligen Kirche ganz und unversehrt bewahrt
wurden, bilden das öffentliche Recht aller christlichen Nationen.
Dieses öffentliche Recht ist die fortwährende Bekräftigung der wahren
Freiheit, weil es einerseits die fortwährende Verurteilung jenes
Anspruches ist, den sich die Völker anmaßen, wenn sie, statt zu
gehorchen, sich empören; und andererseits auch die Verurteilung jenes
anderen Anspruches, den die Herrscher erheben, indem sie ihre Macht in
eine Tyrannei umgestalten. Die Freiheit besteht ja gerade in der
Verwerfung dieser beiden Ansprüche, und dies ist von solcher Bedeutung,
daß damit die Freiheit unvermeidlich und daß ohne diese Erkenntnis die
Freiheit unmöglich ist. Die Bejahung der Freiheit und die Verwerfung
jener Ansprüche sind, genau betrachtet, nur zwei verschiedene
Ausdrucksweisen für ein und dieselbe Sache. Daraus ergibt sich aber,
daß der Katholizismus weder den Tyranneien noch den Revolutionen
günstig gesinnt ist. Vielmehr, daß er allein sie bekämpft hat. Nicht
nur, daß er kein Feind der Freiheit ist, hat er allein mit jener
doppelten Verurteilung den wahren Begriff der wirklichen Freiheit
enthüllt.
Nicht weniger widersinnig ist die Unterstellung einiger, daß die
Religion, die wir bekennen, und die Heilige Kirche, die diese Religion
darsellt und lehrt, die freie Nutzung des nationalen Reichtums, eine
gute Lösung der wirtschaftlichen Fragen und die Förderung des
materiellen Wohlstandes aufhalten wollten, oder sie zumindestens nur
ungern sähen. Wenn es auch gewiß ist, daß die Religion sich zur Aufgabe
stellt, nicht die Völker mächtig, sondern glücklich, nicht die Menschen
reich, sondern heilig zu machcn, so ist es ebenso gewiß, daß einer
ihrer vornehmsten und erhabensten Lehrsätze dem Menschen seine ihm von
der Vorsehung übertragene Aufgabe offenbart, nämlich die ganze Natur
umzuwandeln und durch seine Arbeit in den Dienst seiner Zwecke zu
stellen. Was die Heilige Kirche sucht, ist ein gewisses Gleichgewicht
zwischen den materiellen, den moralischen und den religiösen
Interessen. Was sie mit diesem Gleichgewicht will, ist, daß jedes Ding
seinen ihm zukommenden Platz einnimmt unt daß es Platz für alle Dinge
gibt. Und was sie letzten Endes noch zu erreichen sucht, ist, daß der
Vorrang den moralischen und religiösen Interessen zukommt, denen daher
die materiellen Interessen nachstehen müssen. Das aber nicht nur
deswegen, weil es so die Grundsätze der Ordnung fordern, sondern auch,
weil uns die Vernunft sagt und die Geschichte lehrt, daß jenes
Übergewicht der moralischen und religiöscn Interessen unbedingt für die
Harmonie des Lebens notwendig ist. Denn nur auf diese Weise können und
werden auch gewiß die großen Katastrophen beschwören werden, die
jederzeit dort ausbrechen können, wo das Übergewicht und das
ausschließliche Überhandnehmen der materiellen Interessen die Begierden
der Masse in Gärung versetzt.
Andere wieder sind heute wohl davon überzeugt, daß die Welt, wenn sie
nicht zugrunde gehen will, der Hilfe unserer Religion und unserer
Heiligen Kirche bedarf. Allein sie scheuen sich, diesem Joch sich zu
unterwerfen, das, wenn es auch für die Demütigen sanft ist, doch für
die Stolzen nur schwer zu ertragen ist. Und so suchen sie denn einen
Ausweg in einer Zwitterstellung, in dem sie gewisse Lehren und
Forderungen der Religion und der Kirche wohl annehmen, aber dafür
andere, die sie als übertrieben betrachten, verwerfen. Solche Leute
sind umso gefährlicher, als sie sich mit einer gewis-sen unparteiischen
Miene, die zur Täuschung und Verführung sehr geeignet ist, zum
Schiedsrichter aufwerfen und den Irrtum und die Wahrheit zwingen, vor
ihrem Gericht zu erscheinen; und mit ver-stellter Zurückhaltung tun
sie, als ob sie weiß Gott was für eine Vermittlerrolle zwischen beiden
spielten. Gewiß, die Wahrheit findet sich zwischen den
entgegengesetztesten Irrtümern. Jedoch zwi-schen der Wahrheit und einem
Irrtum kann es niemals eine Ver mittlung geben! Denn zwischen die-sen
beiden Gegenpolen gibt es nichts, aber auch gar nichts! Nichts als eine
unendliche Leere. Wer sich in diesen leeren Raum begibt, ist von der
Wahrheit ebenso weit entfernt wie der, der sich auf die Seite des
Irrtums schlägt. Denn in der Wahrheit ist nur derjenige, der mit ihr
völlig eins geworden ist. (...)
Unter der Voraussetzung der unbefleckten Empfängnis des Menschen und
damit der Unversehrtheit des menschlichen Wesens stellen manche wohl an
sich selbst die Frage: Wenn unsere Vernunft so klar ist und unser Wille
so recht schaffen und vortrefflich, warum sollen da unsere
Leidenschaften, die in uns herrschen, wie unser Wille und unser
Verstand nicht ebenfalls gut sein? Andere wiederum fragen sich: Wenn
die Diskussion dazu dient, um zur Wahrheit zu kommen, warum soll es da
Dinge geben, die ihrem entscheidenden Richterspruch entzogen werden?
Andere hingegen können nicht be-greifen, daß, unter den besprochenen
Voraussetzungen, die Freiheit des Denkens, Wollens und Schaffens nicht
eine unbedingte sein soll. Diejenigen, die sich mit religiösen
Streitfragen befassen, legen sich die Frage vor, warum Gott, wenn er
für die Gesellschaft nicht gut genug ist, noch der Himmel zugebilligt
wird, und warum der Kirche, die ja zu nichts mehr taugt, noch das Recht
auf ein Heiligtum zustehen soll? Wieder andere stellen sich die Frage,
warum man nicht den Versuch wagen könne, den Genuß bis zur vollen
Befriedigung der Begierden zu steigern und so dieses Tränental in einen
Garten der Freude zu verwandeln, umso mehr, da doch der Fortschritt im
Wohlergehen ein unendlicher sein soll? Die Philanthropen zeigen sich
entrüstet, wenn sie einem Armen auf der Straße begegnen; sie können
nicht begreifen, wie ein Armer, der doch so häßlich ist, überhaupt ein
Mensch sein kann, ja vielmehr, wie der Mensch, der doch so schön ist,
überhaupt arm sein kann.Worin sie aber alle in dieser oder jener
Formulierung übereinstimmen ist, daß sie es unbedingt für erforderlich
halten, die Gesellschaft zu unterwühlen, die Regierungen abzuschaffen
und den Reichtum aufzutei-len, und so mit einem Schlage alle
menschlicben und göttlichen Gesetze aufzuheben.
Wiewohl man es kaum für möglich halten würde, so gibt es noch einen
Irrtum, der, wenn auch bei weitem nicht so verwerflich, für sich allein
betrachtet, dennoch durch seine Folgen schwerwiegender ist als alle
diese Verirrungen selbst. Ich meine damit die Blindheit jener, die den
Zusammenhang zwischen diesen Irrtümern und jenen Häresien nicht sehen
wollen und sich dagegen sträuben, daß jene aus diesen notwendig und
unvermeidlich hervorgehen müssen. Wenn die Gesellschaft sich nicht bald
von diesem Irrtum befreit und wenn sie, einmal davon frei, nicht die
einen als Folgen und die anderen als ihre Voraussetzungen verurteilt,
und zwar mit einer gründlichen und endgültigen Verurteilung, dann ist
diese Gesellschaft, menschlich gesehen, für immer verloren.
Derjenige, der die höchst unvollkommene Aufzählung, die ich eben von
diesen furchtbaren Irrtü-mern gemacht habe, liest, wird feststellen
können, daß die einen von ihnen unbedingt zu einer all-gemeinen
Auflösung führen und unfehlbar auf eine Anarchie hinauslaufen müssen,
die anderen hingegen zu ihrer Verwirklichung einen Despotismus in
unerhörten und riesigen Ausmaßen benötigen. Die erste Gruppe umfaßt
diejenigen Irrtümer, die sich eine Übersteigerung der menschlichen
Freiheit und die gewaltsame Zerstörung aller Einrichtungen zum Ziel
setzen. Zur zweiten Gruppe gehören diejenigen, die eine völlige
Umwälzung propagieren. In der politischen Wissenschaft werden die
Anhänger der ersteren Art von Irrtümern als Sozialisten, diejenigen,
die für deren zweite Art eintreten, als Kommunisten bezeichnet. Was
jene vor allem anstreben, ist die unbegrenzte Ausdehnung der
individuellen Freiheit, und zwar auf Kosten der Staatsobrigkeit, die
beseitigt werden soll. Die anderen dagegen erstreben die völlige
Unterdrückung der menschlichen Freiheit und eine Ausdehnung der
Staatsgewalt ins Kolossale. Die ausführlichste Darlegung des ersten
dieser Lehrsätze findet sich in den Schriften des Herrn Emile de
Girardin und im letzten Buche des Herrn Proudhon. Jener hat die
Zentrifugalkraft, dieser die Zentripedalkraft der künftigen
Gesellschaft entdeckt, einer Gesellschaft, die von den sozialistischen
Ideen beherrscht sein und zwei einander vollkommen entgegengesetzten
Bewegungen ausgliefert sein wird; und zwar einer zentrifugalen
Bewegung, die durch die unbeschränkte Freiheit, und einer zentripedalen
Bewegung, die durch den Wust von Papier und Akten hervorgerufen wird.
Was den Kommunismus betrifft, so besteht er in der Beseitigung aller
Freiheiten und alles Eigentums zugunsten eines Überstaates.
Das Erstaunliche und Ungeheuerliche aller dieser sozialen Irrtümer ist
letzten Endes auf die religi-ösen Häresien zurückzuführen, aus denen
sie sich allein erklären lassen. Die Sozialisten geben sich nicht
zufrieden, Gott in den Himmel zu verbannen; sie gehen vielmehr weiter,
bekennen sich offen zum Atheismus und leugnen das Dasein Gottes
überhaupt. Wenn man aber Gott, die Quelle und den Ursprung jeder
Autorität, verleugnet, dann ergibt sich daraus logisch die Leugnung der
Autorität selbst, und zwar bedingungslos und vollständig. Die Leugnung
der weltumfassenden Vaterschaft Gottes bringt mit sich die Verneinung
der Vaterschaft in der Familie. Die Leugnung der religiösen Autorität
hat ebenso logisch die Leugnung der politischen Autorität zur Folge.
Wenn einmal der Mensch ohne Gott auskommen will, dann sofort auch der
Untertan ohne König und der Sohn ohne Vater. (...)
Das sind die Ausführungen, die ich meiner Ansicht nach verpflichtet
bin, über die verderblichsten Irrtümer der heutigen Zeit vorzulegen.
Aus dieser objektiven Untersuchung ergeben sich meiner Meinung nach
zwei Erkenntnisse als bewiesen:
1. daß alle Irrtümer ein und denselben Ursprung haben und den gleichen Mittelpunkt besitzen und
2. daß sie alle, mögen sie nun nach ihrem Mittelpunkte oder nach ihrem Ursprung betrachtet werden, religiöser Natur sind.
Das ist so gewiß, daß die Leugnung audl nur einer einzigen göttlichen
Eigenschaft zur Unordnung auf allen Gebieten führt und die menschlichen
Gesellschaften der Gefahr des Unterganges ausliefert.
Anmerkung:
1) Cortés, Juan Donoso, * 6.5.1809 in der span. Provinz Badajoz, +
3.3.1853; studierte ab 1820 in Salamanca, Cáceres, später auch in
Sevilla Jura, Geschichte, Philosophie und Literatur; mit 19 Jahren
Dozent für Literatur und Ästhetik in Cáceres. Geht 1832 nach Madrid,
publiziert politische Artikel. Er führt eine kurze, aber intensive Ehe,
seine Frau verstirbt früh, er ist Witwer mit 26 Jahren. Es folgt seine
Berufung an das "Ateneo", wo er Vorlesungen über Staatsrecht hält. Er
wird Abgeordneter zu den Cortes und Sekretär der Königin, geht mit der
Königin-Mutter von 1840-43 ins Pariser Exil. Nach der Rückkehr nach
Spanien Erhebung zum "Marques de Valdegamas". Cortés kritische
Darstellungen sind zugleich auch eine Auseinandersetzung mit dem
Theoretiker des Sozialismus, Proudhon, der im gleichen Jahr wie er
geboren ist.
|