Betrachtungen über das Gebet
von
Evagrius Ponticus (+390)
Das Gebet ist die Frucht der Freude und der Dankbarkeit. Das Gebet ist
frei von Traurigkeit und Mutlosigkeit. Gehe hin und verkaufe alles, was
du besitzest, und gib es den Armen; dann nimm dein Kreuz auf dich und
verleugne dich selbst, damit du beten kannst ohne Zerstreuung.
Willst du recht beten, so verleugne dich selbst jeden Augenblick.
Erträgst du alle Prüfungen, dann wirst du aus Liebe zum Gebet Weisheit
erlangen. Von jeglicher Mühe, die du in Weisheit auf dich genommen
hast, wirst du in der Stunde des Gebetes die Frucht ernten.
Willst du recht beten, so betrüge niemanden; handelst du aber nicht so,
ist dein Bemühen vergeblich. Groll im Herzen schwächt die
Selbstbeherrschung des Beters und wirft Schatten über sein
Gebet. Bekämpfe die Aufregung, und du wirst dein Begehren
beherrschen; denn Begehren nährt die Aufre-gung. Sie aber trübt das
Auge des schauenden Geistes und stört das Gebet.
Begnüge dich beim Gebete nicht mit äußerer Körperhaltung, sondern lenke
deinen Geist mit größter Sorgfalt auf das bewußte geistige Gebet. Bete
nicht um Erfüllung deiner Wünsche; denn sie stim-men nicht ohne
weiteres mit Gottes Willen überein. Nach des Herren Belehrung bete
vielmehr: "Dein Wille geschehe in mir." Bitte Gott in jedem Falle, daß
Sein Wille geschehe; denn Er will das Gute und das Heil deiner Seele.
Von dir ist das nicht ohne weiteres zu sagen. Was für ein Gut gibt es
außer Gott? Überlassen wir ihm alle unsere Angelegenheiten, und wir
finden dann das wahre Gut. Weil er aber das wahre Gut ist, so ist er es
auch, der wahre Güter schenkt. Sei nicht traurig, wenn deine Bitte von
Gott nicht sofort erfüllt wird. Er will dir dann das höhere Gut des
längeren Verweilens mit ihm im Gebete schenken. Ist es denn nicht
wertvoller, mit Gott zu verkehren, als seines freundschaftlichen
Verkehrs zu entbehren ?
Das Gebet ohne Zerstreuung ist die höchste Leistung des Verstandes. Das
Gebet ist die Erhebung des Geistes zu Gott. Bitte zuerst um die
Freiheit von Leidenschaften, zweitens um die Befreiung von Unwissenheit
und drittens, um frei zu sein von jeglicher Versuchung und
Verlassenheit. Suche im Gebet einzig das Reich Gottes und seine
Gerechtigkeit, d.h. Tugend und Weisheit, und alles andere wird dir
hinzugegeben werden (Matth. 6,33). Wenn du gemeinsam oder allein
betest, zwinge dich, nie gewohnheitsmäßig, sondern bewußt zu beten.
Schweift dein Geist während des Gebetes ab, dann betet er noch nicht
innerlich frei. Er steht noch mit einem Fuß in der Welt und sucht sein
äußeres Zelt zu schmücken. Während deines Gebetes wache sehr sorgfältig
über dein Gedächtnis, damit es statt Erinnerungen wachzurufen, dich
bewußt auf deine Gebetsübung hinlenkt. Der Geist zeigt nämlich eine
gefährliche Neigung, sich während des Gebetes durch das Gedächtnis
ablenken zu lassen. Was bezwecken wohl die Teufel, wenn sie uns zur
Eßlust, zur Unkeuschheit, zur Begierlichkeit, zum Zorn, zur Rachsucht
und anderen Leiden-schaften reizen? Unser Geist soll durch sie
beunruhigt, unfähig zum Gebete werden. Gewinnen nämlich die
Leidenschaften die Oberhand über deine sinnlichen Fähigkeiten, so
hindern sie die Entscheidung des Geistes nach der Vernunft, und er kann
dann nicht zur höchsten Vernunft, zu Gott, emporsteigen. Wir gelangen
zur Tugend, wenn wir der Natur uns vernunftgemäß bedienen. Es ist der
erste Schritt oder das tätige Leben. Beherrschen wir die Natur aus
Liebe zu dem, der sie geschaffen, so tun wir den zweiten Schritt und
erlangen die untere Stufe des beschaulichen Lebens. Offenbart sich uns
aber der Schöpfer selber im Gebete, wie er es nach den gewöhnlichen
Gesetzen der Gnade tut, so erlangen wir die Erkenntnis Gottes. Das ist
der dritte Schritt.
Das Gebet ist ein leidenschaftsloser Zustand, der durch die starke
Liebe des schauenden Geistes über die höchsten Erkenntnisse des
Verstandes hinwegreißt und ihn erfüllt mit Gotteserkenntnis. Wer Gott
liebt, verkehrt ohne Unterlaß mit ihm wie mit einem Vater, indem er
sich befreit von allen leidenschaftlichen Gedanken. Nicht jeder, der
zur Leidenschaftslosigkeit gelangt ist, hat damit schon das wahre Gebet
erreicht. Man kann nämlich bei einfachen Gedanken stehenbleiben, d.h.
bei solchen, die von sinnlichen Trübungen frei sind, sich aber durch
ihre Erwägung zerstreuen und so fern von Gott sein. Zugegeben, daß der
Verstand sich nicht aufhält bei einfachen Gedanken, so hat er trotzdem
noch nicht die Höhe des Gebetes erreicht. Er kann nämlich von diesen
Gedanken ergriffen sein und unter ihrem Eindrucke stehen. Ja, diese
einfachen Anschauungen können mit ihren Bildern den schauenden Geist so
beeindrucken, daß er sich von Gott entfernt. Nehmen wir einmal an, der
Verstand habe sich erhoben über die Betrachtung der körperlichen Welt;
aber damit ist noch nicht die vollkommene Gottesschau erreicht. Es ist
nämlich möglich, daß der Geist das Erkennen nach Art der reinen Geister
erlangt hat und von seinem Reichtum ergriffen wird.
Wenn du recht beten willst, dann brauchst du Gottes Hilfe; denn er
schenkt die Gebetsgnade. Zu ihm rufe im Gebete mit den Worten des
Herrn: "Geheiligt werde Dein Name; Dein Reich komme zu uns", d.h. Dein
Heiliger Geist und Dein Eingeborener Sohn (Matth. 6,9-10). So hat uns
ja der Herr selbst gelehrt, daß wir "den Vater im Geiste und in der
Wahrheit anbeten sollen" (Joh. 4,24). Wer im Geiste und in der Wahrheit
betet, der schöpft nicht mehr von den Geschöpfen das Lob, das er dem
Schöpfer darbringt, sondern Gott selbst ist sein Beweggrund im
Gotteslob. Bist du ein Gotterfüllter, dann betest du recht; betest du
recht, dann bist du ein Gotterfüllter. Ist deine Seele von glühender
Liebe zu Gott erfüllt, dann verläßt sie sozusagen allmählich den
Körper, der ja alle sinnlichen Gedanken verursacht. Sie trennt sich vom
Gedächtnis und ihrer eigenen Charakterprägung, wird ergriffen von
Ehrfurcht, und so schreitet sie langsam den lichten Auen des Gebetes
entgegen. Der Heilige Geist kommt unserer Schwachheit zu
Hilfe und sucht uns heim, bis wir rein sind. Sieht er, wie unser
Verstand inbrünstig zu ihm fleht, dann senkt er sich nieder auf ihn und
vertreibt die Wolke der störenden Gedanken und Bilder. Dadurch befähigt
er den Verstand, nach dem reinen Gebete zu verlangen. (...)
Wenn du betest, stelle dir nicht Gott unter einem sichtbaren Bilde in
dir gegenwärtig vor. Laß deinen Verstand auch nicht die Spur
irgendeines Gedankens fassen, sondern sei körperlos vor dem
Körperlosen, und du wirst erkennen. Hüte dich vor den Täuschungen des
Teufels. Während deines von keinem Gedanken getrübten Gebetes kommt er
und stellt vor deinen Geist ein unbekanntes, überraschendes Bild. Er
will dich dadurch veranlassen, daß du dir Gott körperlich vorstellst,
um Gott zu schauen als ein Wesen mit materiellen Zügen. Gott aber hat
keine Ausdehnung noch Gestalt.
Wenn der hinterlistige Teufel vergeblich versucht hat, dein Gedächtnis
während des Gebetes zu trüben, dann bestürmt er deine körperliche
Veranlagung, um in deiner Seele ein unbekanntes Phantasiegebilde zu
erwecken und ihr dadurch irgend einen Gedankeninhalt zu vermitteln. Der
Verstand ist ja gewohnt, bei Gedanken zu verweilen und steht gar leicht
unter ihrem Eindruck. Wenn er sich aber in seinem Streben nach
körperloser Gottesschau und ohne jedes Gedankenbild ablenken läßt, dann
nimmt er den Rauch anstatt des Feuers. (...) Gott aber, der Erbarmen
hat mit den Unwissenden, wird dich reich machen durch das Geschenk des
Gebetes.
(aus "Kleine Philokalie - Belehrungen der Mönchsväter
der Ostkirche über das Gebet" Einsiedeln 1956, S. 35 ff. - Evagrius war
Schüler des hl. Basilius und des hl. Gregor von Nazianz; die letzten 20
Jahre seines Lebens verbrachte er als Einsiedler in der sketischen
Wüste in Unterägypten)
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