DIE SÄULE DER WAHREN DREIEINIGKEIT
nach den Visionen
der hl. Hildegard von Bingen 1)
- zur Erinnerung an ihren neunhundersten Geburtstag -
ES BEGINNT DES DRITTEN BUCHES SIEBENTE SCHAU
"Alsdann sah ich am Westwinkel des geschilderten Gebäudes eine
wunderbare, geheimnisvolle und überaus starke Säule. Schwarzpurpurn war
sie und so in die Mauerecke eingebaut, daß sie sowohl innerhalb als
auch außerhalb des Gebäudes gesehen werden konnte. Sie war von so
überragenden Maßen, daß weder ihre Größe noch ihre Höhe meiner
Erkenntnis zugänglich war. Ich sah nur, daß sie ganz wundersam
ebenmäßig und ohne jede Rauheit war. An ihrer Oberfläche hatte sie drei
Kanten vom Fuße bis zur Spitze, stahlfarbig und schneidend wie ein
scharf geschliffenes Schwert. Eine dieser Kanten richtete sich gegen
Süden. Viel trockenes Stroh lag dort, von ihr hingemäht und zerstreut.
Die andere Kante schaute nach Nordwesten. Viele Federchen, die sie
abgeschnitten hatte, waren dort zu Boden gesunken. Die mittlere Kante
zeigte nach dem Westen. Dort lagen, von ihr abgesägt, viele morsche
Hölzer. Alle diese waren wegen ihrer Verwegenheit von den Kanten der
Säule abgeschnitten worden. Und wiederum sprach der, den ich auf dem
Throne sitzen sah, und der mir alles dieses zeigte: Die Fülle
geheimnisreicher, wunderbarer und unbekannter Gnaden, die dir,
erleuchteter Mensch, hier im wahren Lichte erscheinen, zeige und
übergebe Ich dir, daß du sie kundtuest und darlegest, damit Feuersglut
in den Herzen der Gläubigen entbrenne. Denn diese sind die ganz reinen
Steine zum Aufbau des himmlischen Jerusalem. Die heilige und
unaussprechliche Dreifaltigkeit der Einen höchsten Einheit war denen,
die das Joch des Gesetzes trugen, verborgen. Durch die neue Gnade wurde
sie den von der Knechtschaft Befreiten kund und muß nun mit einfältigem
und demütigem Herzen im Glauben als der Eine und wahre Gott in drei
Personen erkannt werden. Niemand darf sich vermessen, Sie ergründen zu
wollen. Wer, unzufrieden mit der Gabe des Heiligen Geistes, mehr zu
erforschen sucht, als er darf, wird stürzen, und ob der Verwegenheit
seines Hochfluges um so tiefer fallen, je ungeziemender sein Begehren
war. Dies kündet das Gesicht, das du jetzt schaust.
DER SOHN BRACHTE KUNDE
Die Säule, die du im Westwinkel des geschilderten Gebäudes siehst, ist
das Sinnbild der wahren Dreieinigkeit. Der Vater, das Wort und der
Heilige Geist sind der Eine Gott in der Dreifaltigkeit und die
Dreifaltigkeit in der Einheit, die vollkommene Säule alles Guten, die
die Höhen und Tiefen durchdringt und den ganzen Erdkreis beherrscht. Im
Westen steht sie, denn als die Zeiten sich dem Untergange zuneigten,
nahm der Sohn Gottes Fleisch an. Er gab dem Vater die volle Ehre und
verhieß seinen Jüngern den Heiligen Geist. Nach dem Willen des Vaters
unterwarf Er Sich dem Tode und wurde dadurch zum Vorbild für die
Menschen, auf daß auch sie im Gebäude des höchsten Vaters wandeln und
wahre und gerechte Werke im Heiligen Geiste vollbringen. Wunderbar,
geheimnisvoll und überaus stark ist diese Säule. Gott ist so wunderbar
in seinen Geschöpfen, daß sie Ihn nie ausdenken können, so
geheimnisvoll, daß keines Geschöpfes Forschen oder Tasten Ihn tollkühn
untersuchen darf, und so stark, daß all ihre Stärke von Ihm ausgeht und
seiner Kraft nicht verglichen werden kann. Daß aber die Säule
schwarzpurpurn und so in die Mauerecke eingebaut ist, daß sie sowohl
innerhalb als auch außerhalb des Gebäudes erscheint, das bedeutet, daß
der eingeborene Sohn Gottes nach dem Willen des Vaters sein
purpurfarbenes Blut um der Sündenschwärze der Menschen willen vergoß.
Er erlöste die Welt durch sein Leiden und brachte den sich Ihm
Öffnenden den wahren und rechten Glauben.
So ging der Alte Bund zu Ende, und es erhob sich die Heiligung des
Neuen Bundes. Und nun wurde das Geheimnis der heiligen Dreieinigkeit
weithin kund. Es leuchtete auf in der Glaubenserkenntnis, daß der
himmlische Vater seinen Sohn, der vom Heiligen Geist empfangen wurde,
in die Welt gesandt habe, den Sohn, der nur die Ehre des Vaters und
nicht die seine suchte und den tiefen Trost des Heiligen Geistes
fließen machte. Nun blieb das Geheimnis nicht mehr verborgen. Allen
wurde es offenbar, den Gläubigen, die in das Werk - das Gebäude -
Gottes eingegangen sind, und den Ungläubigen, die außerhalb des
Gebäudes bleiben. Überragend sind die Maße dieser Säule. Weder ihre
Größe noch ihre Höhe ist deiner Erkenntnis zugänglich. Denn die
göttliche Dreifaltigkeit ist so unaussprechlich in ihrer Macht und
Herrlichkeit, daß die Weisheit des menschlichen Geistes, wenn sie auch
noch so weite Kreise zieht und noch so sehr über sich hinausschreitet,
keine Grenzen für die Größe dieser Majestät und für die der Gottheit
finden kann. Wunderbar ebenmäßig und ohne jede Rauheit ist sie, denn
höchsten Staunens würdig ist die sanfte Kraft ihrer Gnade und das
beständige gütige Ebenmaß ihrer Milde, womit sie sich allen denen
zuneigt, die der Gerechtigkeit entgegen streben und keine Rauheit
irgendwelcher Ungerechtigkeit wird in ihr erfunden. Aber stahlhart und
schneidend wie ein scharf geschliffenes Schwert sind die Kanten dieser
Säule für die, die sich in Herzenshärte und Geistesblindheit durch
ihren Unglauben dem Geheimnis des in der Menschwerdung geoffenbarten
dreieinen Gottes verschließen. Sie werden abgeschnitten von dem Urquell
des Lebens und fallen in ihr eigenes Nichts zurück. Wie trockenes
Stroh, das dem Feuer überliefert werden soll, so liegen hingemäht am
Fuße der ersten Kante die treulosen Christen, die das keimkräftige
Korn, den in Werken lebendigen Glauben, von sich geworfen haben. Wie
leichte Federchen, die vom Winde in die Höhe geblasen werden, aber in
sich haltlos sind, waren die stolzen Juden, die ihre Gerechtigkeit in
sich selbst und nicht in Gott suchten. Sie vertrauten auf sich und
wollten in eigener Kraft die Höhe der Himmel überfliegen. Aber die
Macht der Gottheit schnitt sie ab und sie sanken in sich zusammen und
wurden in alle Winde zerstreut. Wie morsches Holz sind die Heiden, die
lieber teuflischem Trug als dem Gebote Gottes folgen. Unnütz sind sie,
dem Moder verfallen. Durch die dritte Kante werden sie von der Freude
des Lebens abgesägt. Ihr Los ist ewige Vergessenheit. So schneiden die
scharfen Kanten der Säule alle, die sich vermessen, sie brechen zu
wollen, und die hartnäckig den Glauben verweigern, von sich ab. Die
heilige und wahrhaftige Dreieinigkeit läßt es zu, daß diese Menschen
ins Verderben gehen, weil sie in ihrem Wahnwitz und ihrer Unwissenheit
sich an der Gottheit vergreifen, da sie sich dem Glauben, den der Sohn
Gottes gebracht hat, nicht unterwerfen wollen.
DREI SIND, DIE ZEUGNIS GEBEN
Dieser Glaube wurde durch die Apostel in alle Welt getragen. Der
Heilige Geist, der in feurigen Zungen auf sie herabgekommen war,
übernahm von da an die Ausgestaltung des vom Vater und vom Sohne
begonnenen Werkes. An die Stelle des Alten Bundes trat der Neue, an die
Stelle der Verheißungen die Erfüllung. Wie einst die Beschneidung das
Zeichen der Zugehörigkeit zum auserwählten Volke gewesen war, so wurde
die Taufe nicht nur das äußere Zeichen, sondern das in der Kraft des
Heiligen Geistes wirkende Mittel zur Eingliederung in Christus. Durch
sie wird der Mensch auf E-den zum lebendigen Zeugnis der wahren
Dreieinheit, die durch die Offenbarung ihrer Dreipersönlichkeit von
sich selber Zeugnis gibt im Himmel, wie das Wort der Schrift beweist,
da sie spricht: "Drei sind, die Zeugnis geben auf Erden: der Geist, das
Wasser und das Blut, und diese drei sind eins" (1 Joh 5, 8). Und "Drei
sind, die Zeugnis geben im Himmel: der Vater, das Wort und der Heilige
Geist, und diese drei sind eins" (1 Joh 5, 7). Das will besagen:... Der
Geist des Menschen trägt aus Mir in sich das Zeugnis, daß er das volle
Leben des wieder hergestellten Heiles nicht besitzt, wenn er nicht
durch Mich im Wasser der Wiedergeburt ersteht. Denn er hat aufgehört,
in dem Lichte zu sein, das in Mir leuchtet. Er ist durch die verderbte
Empfängnis der Sünde, die sich im Blute weiterleitet, aus der Seligkeit
verstoßen.
Das Wasser gibt dadurch Zeugnis, daß es allen Schmutz abwäscht und daß
in ihm das mordende Verderben des Todes durch die lauterste Reinigung
zugrunde geht. Hier wird das Wasser vor dem Blute gleich nach dem
Geiste als Zeugnis genannt, weil, wie der Geist geistig ist, so das
Wasser eine geistige Heiligung gewährt. Und es wird zwischen Geist und
Blut angeführt, weil es Seele und Leib durch die geistige Neugeburt mit
Kraft ausrüstet und ins Leben entsendet.
Aber auch das Blut gibt Zeugnis. Wenn es seine vergifteten Pfade durch
das Wasser der Erlösung zum Hause der Heiligung zurückwendet, offenbart
es die heilende Kraft, die in meinem Sohne beginnt und in Ihm zum Leben
wirksam bleibt. Denn im Blute steckt viel strafwürdige Schuld und die
Unruhe der Ungerechtigkeit. Seit dem Genuß (der verbotenen Frucht im
Paradiese), der auf die Einflüsterung des heimtückischen Teufels
geschah, wandelt es auf Irrpfaden in der qualvollen Süßigkeit, die der
brennenden Lust dienstbar ist, und die die Unschuld durch entsetzliche
Laster erstickt.
UND DIESE DREI SIND EINS
Denn der Geist ist kein lebendiger Mensch ohne den vom Blute erfüllten
Körper. Aber auch dieser ist kein lebendiger Mensch ohne die Seele, und
beide können nur durch das Wasser der Wiedergeburt zum Gnadenleben des
neuen Gesetzes erstehen. So sind sie eins in der Erlösung. Ihr Heil ist
nicht vollendet, solange sie von dem segenspendenden Wasser geschieden
sind. Denn die Ehre des Lebens, die den erlösten Menschen zu ständigem,
vollkommenem Lobpreis vor das Angesicht dessen stellt, der ihm die
Vernunft verliehen hat, ist nicht schon mit der Vernunft gegeben. Und
doch hat Gott aus eigenem Wollen den Menschen zu der Ehre erschaffen,
vollendet zu werden im [mystischen] Leibe seines Sohnes zu ewigem
Leben. Erlöst in Gott, erwacht der verlorene Mensch zur Ehre des Lebens
durch die heilbringende Gnade.
Der Geist, der körperlichen Augen unsichtbar lebt, ist ein Sinnbild des
Vaters, der von keinem Geschöpfe abgeschätzt werden kann. Das Wasser,
das vom Schmutze reinigt, bedeutet das Wort, den Sohn, der durch sein
Leiden die Makel der Menschen tilgte, und das Blut, das im Menschen
kreist und ihn erwärmt, stellt den Heiligen Geist dar, der die
herrlichsten Tugenden in den Menschen erweckt und entzündet.
So sind also der Geist, das Wasser und das Blut drei in einem und eins
in dreien. Eins in der Erlösung, die sie gemeinsam wirken, deuten sie
in ihrer Dreizahl auf die Dreifaltigkeit in der Einheit und die Einheit
in der Dreifaltigkeit. Das "Zeugnis im Himmel" gibt die heilige und
himmlische Dreieinigkeit selbst. Dieses Zeugnis wird also nicht von
einem andern erbracht, sondern offenbart sich mit Gewißheit in der
heiligen Dreifaltigkeit. Der Vater bezeugt, daß sein einziges,
fruchttragendes Wort, das Er vor aller Zeit zeugte und durch das Er
alles ins Dasein rief, später in der vorherbestimmten Zeit glorreich in
der Jungfrau erblühte.
Das Wort bezeugt, daß Es vom Vater ausgegangen ist, und Sich zur
menschlichen Natur hinabneigte, indem Es Fleisch annahm aus
jungfräulicher Reinheit. Es ging aus dem Vater hervor in geistigem
Ausgang und kehrte zum Vater zurück in der Fruchtbarkeit des Fleisches.
Es wird als mittlerer Zeuge [nach dem Vater und vor dem Heiligen
Geiste] genannt, weil Es vom Vater vor der Zeit unsichtbar gezeugt und
in der Zeit vom Heiligen Geiste im Schoße der Jungfrau dem Fleische
nach empfangen wurde. Der Heilige Geist bezeugt, daß Er die
Unversehrtheit der Jungfrau zu der Empfängnis des Wortes Gottes
entflammte, und daß Er die Lehre desselben Wortes in Feuerzungen
festigte, da Er die Apostel so durchströmte, daß sie auf der ganzen
Welt die wahre Dreieinigkeit predigten. Wie geschah dieses? Sie
kündeten laut, daß Gott, der Vater, das Werk vollendet habe, das Er in
der Schöpfung dadurch grundgelegt hatte, daß Er den Menschen zur
himmlischen Seligkeit berief. Zwar war der Mensch dieser Seligkeit
verlustig gegangen. Aus Erdenlehm gebildet, hätte er nach oben streben
sollen und hatte sich nach unten, der Erde zu, geneigt. Doch die Gnade
richtete ihn im menschgewordenen Gottessohne wieder auf, und der
Heilige Geist erleuchtete und stärkte ihn, daß er nicht in Verderben
zugrunde gehe, sondern in der Erlösung gerettet und der ewigen
Herrlichkeit zurückgegeben werde.
So bezeugen der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, daß sie,
obgleich verschieden in den Personen, nicht geschieden sind in der
Macht. Gemeinsam wirken sie in der Einheit der einfachen und
unveränderlichen Wesenheit. Inwiefern? Der Vater erschafft alles durch
das Wort, seinen Sohn, im Heiligen Geiste; der Sohn, durch den alles
gemacht wird, im Vater und im Heiligen Geiste; und der Heilige Geist,
durch den alles in Lebenskraft grünt, im Vater und im Sohne. Und diese
drei Personen sind so in der Einheit der unteilbaren Wesenheit, daß sie
sich nicht miteinander vermischen. Inwiefern? Der, der zeugt, ist der
Vater; der, der gezeugt wird, ist der Sohn; und der, der von Vater und
Sohn in lebendigster Lebenskraft ausgeht und in Gestalt des
unschuldigen Vogels über den Wassern erschien, um sie zu heiligen, und
die Apostel mit Feuersglut durchgoß, ist der Heilige Geist. Der Vater
zeugte vor den Weltenzeiten den Sohn, und der Sohn war beim Vater, und
dem Vater und dem Sohne gleichewig ist in der Einheit der Gottheit von
Ewigkeit her der Heilige Geist. Es ist daher zu bedenken, daß, wenn von
diesen drei Personen eine oder zwei fehlten, Gott nicht in seiner Fülle
wäre, denn sie sind die Eine Einheit der Gottheit. Und wenn einer von
ihnen nicht vorhanden wäre, so wäre Gott nicht. Denn obgleich diese
Personen sich also deutlich voneinander abheben, so sind sie doch die
Eine, unversehrte und unveränderliche Wesenheit der unausdenkbaren
Schönheit, die ungeteilt in Einheit verharrt.
Macht, Wille und Glut, das sind die drei Gipfel in der einen Bergeshöhe
der Wirksamkeit. In der Macht ist der Wille und im Willen die Glut, und
untrennbar sind sie wie der Atem des Menschen bei seiner Entsendung.
Inwiefern? In der einen unteilbaren Entsendung des menschlichen Atems
sind der kreisende Hauch, die Feuchtigkeit und die Wärme... Höre und
verstehe, o Mensch. So sind drei Personen in der einen unveränderlichen
Wesenheit der Gottheit, im Vater der Sohn, in beiden der Heilige Geist,
und sie sind eins und wirken untrennbar miteinander. Denn weder der
Vater wirkt ohne den Sohn, noch der Sohn ohne den Heiligen Geist, noch
der Heilige Geist ohne die beiden andern, noch Vater und Sohn ohne den
Heiligen Geist, denn sie sind die ungeteilte Einheit. So ist Gott in
drei Personen ohne Anfang, vor aller Zeit, als vor Beginn der Welt die
Aufnahme des Fleisches im Sohne noch nicht geschehen war, bis zur
vorherbestimmten Zeit, da die Zeitenfülle kam, in der Gott seinen Sohn
sandte. Aber auch nachdem der Sohn die menschliche Natur angenommen
hat, ist derselbe Gott in drei Personen und will in ihnen angerufen
werden. Als die jungfräuliche Blume in unversehrter Reinheit erblühte,
wurde der unaussprechlichen Dreieinigkeit dadurch keine Person
hinzugefügt, sondern der Sohn Gottes bekleidete sich nur mit dem
Fleische, das Er unverletzt empfing. So sind also diese drei Personen
ein Gott in der Gottheit. Wer nicht also glaubt, wird abgeschnitten vom
Reiche Gottes, weil er die Unversehrtheit der Gottheit zerreißt.
Wer scharfe Ohren hat, mit innerem Sinn zu hören, der lechze in der
brennenden Liebe zu meinem Lichte nach diesen meinen Worten und
schreibe sie im Wissen seiner Seele nieder."
Anmerkung:
1) Die hl. Hildegard von Bingen wurde 1098 geboren; sie
wurde Klosterschwester, später Oberin und verstarb 1179. Schon als Kind
hatte sie Visionen, die aber nur im engsten Kreis bekannt wurden. Erst
in ihrem 43. Lebensjahr erhielt sie von Gott den Auftrag, künftig
alles niederzuschreiben, was ihr gezeigt und erklärt würde. So verfaßte
sie im Lauf ihres weiteren Lebens eine Reihe von Schriften, die die ihr
mitgeteilten Offenbarungen über den Schöpfungs-, den Heils- und
Erlösungsplan Gottes, sowie die Kräfte der Natur und der Heilkunde
enthalten. Der folgende Beitrag ist "Sci vias" - "Wisse die Wege"
(übersetzt von D. Maura Böckeler, O.S.B., St. Augustinus Verlag Berlin,
1928, S. 296 ff.) entnommen. - Im diesem Jahr feiern wir den 900.
Geburtstag einer der bedeu-tendsten Frauen der kath. Kirche.
* *** *
DIE HL. HILDEGARD ALS PROPHETIN,
MAHNERIN UND THEOLOGIN
Vorwort der Redaktion
Im Jahre 1141 hatte Gott Hildegard den Auftrag gegeben, alles, was sie
"schaute und hörte im wahrhaftigen Licht" mit offenen Augen und mit
nüchternem, klarem Geist, niederzuschreiben und der Welt zu verkündigen
(Vorwort zum "Sicvias" - "Wisse die Wege"). Kurze Zeit darauf -
1147/1148 - weilte Papst Eugen III. auf einer Synode in Trier, auf der
auch Bernhard von Clairveaux anwesend war. Ihre bis dahin erschienenen
Schriften wurden dieser Versammlung vorgelegt und der Papst forderte
sie auf, alles niederzuschreiben, was sie im Heiligen Geiste schaute.
Sie wird so zur großen Gesandten Gottes, und wie den Propheten im Alten
Bund wird es ihr zur Pflicht, die Wege des Herrn zu weisen - "Sicvias"
-, zu mahnen und zu belehren. Mit allen Ständen und Schichten führt
Hildegard ihre Korrespondenz: mit Päpsten, Prälaten und einfachen
Witwen. Sie kritisiert, belehrt, erklärt ihre prophetischen Schauungen
- ohne Ansehen der Person. Die Legitimation dazu erhält sie von dem,
der sie schauen läßt. Deswegen kann Hildegard auch mit solcher
Offenheit sprechen, da sie sich als Gesandte Gottes versteht.
Im folgenden führen wir vier Briefe von ihr auf, in denen sie sich als unbestechliche Mahnerin und Lehrerin erweist.
E. Heller
***
AN PAPST ANASTASIUS IV.
(Papst Eugen III. war 1153 Papst
Anastasius gefolgt, der als 80jähriger zur Nachgiebigkeit neigte,
weswegen Hildegard sich etwa Ende 1153 mahnend an ihn wendet.)
O du leuchtende Wehr, Gipfel der leitenden Gewalt in der herrlichen,
zur Christusbrautschaft bestellten Stadt, höre den, dessen Leben ohne
Anfang ist und nie in Ermattung dahinschwindet. O Mensch, das Auge
deines Erkennens läßt nach, und du bist müde geworden, die stolzen
Prahlereien der Menschen zu zügeln, die deinem Herzen anvertraut sind.
Warum rufst du die Schiffbrüchigen nicht zurück, die sich aus schwerer
Gefahr nur durch deine Hilfe erheben können? Und warum schneidest du
die Wurzel des Bösen nicht ab, die die guten, nützlichen, die
wohlschmeckenden, süßduftenden Kräuter erstickt? Die Königstochter
Gerechtigkeit, die himmlische Braut, die dir anvertraut ward,
vernachlässigst du. Denn du duldest, daß diese Königstochter zu Boden
geworfen wird. Ihr Diadem und der Schmuck ihres Gewandes werden
zerrissen durch die Sittenroheit der Menschen, die wie Hunde bellen und
wie Hühner, welche manchmal in der Nacht zu gackern anfangen, alberne
Töne von sich geben. Heuchler sind sie, die mit ihren Worten einen
trügerischen Frieden zur Schau tragen, innerlich aber im Herzen mit den
Zähnen knirschen, wie der Hund, der die ihm bekannten Freunde mit dem
Schwanz anwedelt, den erprobten Krieger hingegen, der sich für das
Königshaus einsetzt, mit den Zähnen beißt. Warum duldest du die
schlechte Lebensführung der Menschen, die in der Finsternis der Torheit
sind, alles Schädliche an sich ziehen, so wie die Henne, die nachts
schreit, sich selbst Schrecken einjagt ? Die so handeln, wurzeln nicht
im Guten.
Höre also, o Mensch, den, der die scharfe Unterscheidung überaus liebt.
Hat Er doch ein starkes Werkzeug der Geradheit eingesetzt, das wider
das Böse kämpfen soll. Das tust du aber nicht, wenn du das Böse,
welches das Gute ersticken will, nicht mit der Wurzel ausrottest.
Vielmehr duldest du, daß das Böse sich stolz erhebt, und zwar aus
Furcht vor den bösen Nachstellern im nächtlichen Hinterhalt, die das
Geld des Todes mehr lieben als die schöne Königstochter, die
Gerechtigkeit.
Alle Werke aber, die Gott gewirkt, strahlen hellstes Licht aus. Höre, o
Mensch! Bevor die Welt entstand, sprach der himmlische Vater in Seinem
Innern das Wort: "O Mein Sohn!" Und die Weltkugel entstand, da sie den
Klang, der vom Vater ausging, aufnahm. Noch lagen die verschiedenen
Arten der Geschöpfe im Dunkel verborgen. Doch als - wie geschrieben
steht - Gott sprach: "Es werde!", traten die verschiedenen
Geschöpfesarten hervor. So wurden durch das Wort des Vaters und um des
Wortes willen alle Geschöpfe im Willen des Vaters gebildet.
Gott sieht und weiß alles voraus. Das Böse hingegen kann weder beim
Aufstehen noch beim Fallen durch sich etwas tun noch erschaffen noch
wirken, denn es ist nichts. Nur als trügerisches Wunsch- und
aufrührerisches Phantasiegebilde ist es zu werten, so daß der Mensch
Böses tut, wenn er trügerisch und aufrührerisch handelt.
Gott sandte Seinen Sohn in die Welt, um durch Ihn den Teufel, der das
Böse umfangen, gezeugt und dem Menschen eingeflüstert hatte, zu
überwinden und dadurch den Menschen, der durch das Böse dem Verderben
verfallen war, zu erlösen. Deshalb verabscheut Gott die verkehrten
Werke, wie Unzucht, Mord, Raub, Aufruhr, Tyrannei und die Heucheleien
der Gottlosen. Denn Er hat all dies durch Seinen Sohn zertreten, der
die Beute des höllischen Tyrannen ganz und gar auseinandertrieb.
Daher, o Mensch, der du auf dem päpstlichen Throne sitzest, verachtest
du Gott, wenn du das Böse nicht von dir schleuderst, vielmehr es
küssend umfängst, da du es bei verdorbenen Menschen stillschweigend
duldest. Die ganze Erde ist in Verwirrung infolge der immer neuen
Irrlehren, da der Mensch das liebt, was Gott zunichte gemacht hat. Und
du, o Rom, liegst wie in den letzten Zügen. Du wirst so erschüttert
werden, daß die Kraft deiner Füße, auf denen du bis jetzt gestanden,
dahin-schwindet. Denn du liebst die Königstochter, die Gerechtigkeit,
nicht mit glühender Liebe, sondern wie im Schlafestaumel, so daß du sie
von dir treibst. Darum will auch sie von dir fliehen, wenn du sie nicht
zurückrufst. Trotzdem werden die hohen Berge dir noch die Kraft ihrer
Hilfe bieten, dich aufrichten und stützen mit den starken Stämmen ihrer
hohen Bäume, so daß du nicht ganz und gar zusammensinkst in deiner
Ehre, das heißt in der Würde der Christusvermählung. So bleiben dir
wenigstens noch einige Flügel deiner Schönheit, bis der Schnee
mannigfacher Spötteleien kommt, die viel Torheit ausblasen. Hüte dich
also, dich mit dem Brauch der Heiden einzulassen, damit du nicht fällst.
Höre also Ihn, der lebt und nicht aus dem Weg geräumt werden kann: Die
Welt ist jetzt voller Ausschweifung, später wird sie in Traurigkeit
sein, dann so sehr in Schrecken, daß die Menschen sich nichts daraus
machen, getötet zu werden. Bei all dem sind bald Zeiten der
Ausgelassenheit, bald der Zerknirschung, bald Zeiten, wo es blitzt und
donnert von allerlei Bosheiten. Denn das Auge stiehlt, die Nase
wittert, der Mund tötet. Vom Herzen aber geht Heilung aus, wenn das
Morgenrot wie der Glanz eines ersten Aufgangs sichtbar wird. Unsagbar
ist, was dann in neuem Verlangen und neuem Eifer folgt.
Er aber, der ohne Minderung groß ist, hat jetzt ein kleines Zelt
berührt, damit es Wunder schaue, unbekannte Buchstaben bilde und eine
unbekannte Sprache erklingen läßt. Und es ward ihm gesagt: "Das, was du
in der Sprache, die dir von oben her kundgetan wurde, aussagst - nicht
in gewohnter menschlicher Ausdrucksweise, denn diese ward dir nicht
gegeben -, soll der, der die Feile hat, eifrig glätten, damit es für
die Menschen den entsprechenden Klang erhalte."
Du aber, o Mensch, der du zum sichtbaren Hirten bestellt bist, steh
auf, eile schneller zur Gerechtigkeit, so daß du vor dem großen Arzt
nicht angeklagt wirst, du habest Seine Herde nicht vom
Schmutz gereinigt noch sie mit Öl gesalbt. Wenn aber der Wille um die
Vergehen nicht weiß und der Mensch das Begehrte nicht an sich reißt,
wird er gar nicht dem schweren Gerichte verfallen. Die Schuld dieser
Unwissenheit aber wird durch Geißeln gereinigt.
Daher, o Mensch, steh auf geradem Wege, und Gott wird dich retten. In
die Hürde des Segens und der Auserwählung wird er dich zurückführen,
und du wirst ewig leben.
(Eine Antwort auf dieses Schreiben ist uns nicht überliefert.)
***
BRIEFWECHSEL MIT MAGISTER ODO VON SOISSONS, DEM SPÄTEREN BISCHOF VON TUSCULUM
(Odo hatte sich etwa kurz nach dem
Konzil von Reims 1148 in einer theologischen Streitfrage, die das Wesen
der Trinität betraf, an Hildegard gewandt, um Klarheit zu erhalten, ob
man zwischen Gott und Gottheit eine reale Unterscheidung machen dürfe.
Unter letzterer verstand er als Form Gottes - das, wodurch Gott ist,
das Wesen oder die Natur. In dieser Form, so Odo, sei die Dreieinigkeit
eins. Das aber, was durch diese Form das Sein habe (die drei göttlichen
Personen) sei nicht eins, sondern in drei Einheiten. Dadurch
konstruierte er - analog dem geschöpflichen Sein - einen realen
Unterschied in die Gottheit hinein: zwischen Gott bzw. den drei
göttlichen Personen einerseits und der göttlichen Wesenheit anderseits.
Damit stellte er sich in Gegensatz zur kirchlichen Lehre. Die im
Frühjahr auf der Pariser Synode lebhaft diskutierten Fragen wurden auf
dem Konzil zu Reims 1148 verworfen.)
ODO AN HILDEGARD
Frau Hildegard, der hehren Jungfrau Christi, entbietet Odo, geringer
und unwürdiger Magister von Paris - dem Namen und der Stellung nach -,
sein Gebet und alles, was für eine Persönlichkeit von so großer
Heiligkeit und solch hohem Adel geziemend erscheint.
Weil du, Herrin, dich zur Magd Christi gemacht, hat Er dich über dich
selbst erhoben. Und viele glauben, Er habe dir, obgleich du noch im
Fleische weilst, in etwa die Geheimnisse des jungfräulichen
Brautgemaches enthüllt. Darum hält man dich für eine von jenen, die
singen dürfen: "Der König führte mich in sein Gemach" (vgl. Hl 2, 4; 3,
4). (...)
Man sagt, daß du in den Himmel erhoben wirst, vieles schaust und durch
Schriften hervorbringst sowie neue Liedweisen erfindest, da du doch von
all dem nichts gelernt hast. Darüber wundern wir uns keineswegs, denn
das überragt nicht deine Reinheit und Heiligkeit, ohne die derartiges
nicht vom Menschen erfaßt werden kann. Das aber können wir wissen: Was
immer droben von den Heiligen geoffenbart wird, tut Herrlichkeit kund,
was immer hinieden von ihnen gewirkt wird, erfordert die Haltung der
Demut. Wir aber, obwohl weit von dir entfernt, haben das Vertrauen,
folgende Bitte an dich zu richten: Viele stellen die Behauptung auf:
"Vaterschaft" und "Gottheit" ist nicht [identisch mit] "Gott". Lege
unverzüglich dar, was du in den himmlischen Gesichten darüber erkennst,
und laß es uns zukommen. Deine Liebe lebe wohl!
(Hildegard erhielt den Brief noch auf dem Disibodenberg und antwortete:)
HILDEGARD AN ODO
Ich armseliges Gebilde sage im Gewürzduft des hohen Berges: Die Sonne
läßt sich mit ihrem Licht herab und leuchtet in die Mannigfaltigkeit
der verschiedenen Orte hinein. So hast auch du, Magister, bei deiner
Lehrtätigkeit in der Heiligen Schrift viele Rinnsale, die du immer
wieder ändern, Großen und Kleinen, zuleitest. Ich aber zittere gar sehr
wegen meiner geringen Gestalt.
Nun höre: Ein König saß auf seinem Thron und stellte hohe, sehr schöne
Säulen mit prächtigen Ornamenten vor sich auf. Dieses Schmuckwerk war
aus Elfenbein gefertigt. Die Säulen trugen alle Königsgewänder in hohen
Ehren und stellten sie ringsum zur Schau. Da gefiel es dem König, eine
kleine Feder von der Erde aufzuheben, und er gebot ihr, so zu fliegen,
wie er, der König, wollte. Die Feder fliegt aber nicht aus sich selbst,
sondern es trägt sie die Luft. So bin auch ich nicht mit menschlicher
Lehrweisheit noch mit starken Kräften durchtränkt. Auch strotze ich
nicht von körperlicher Gesundheit. Einzig in der Hilfe Gottes ist mein
Halt.
Und ich sage dir: Von einem gewissen Manne, der vor Gelehrsamkeit
überströmt und mich befragte, hörte ich, daß die Vaterschaft des
höchsten Gottes und die Gottheit nicht Gott sei. Und er bat mich
winziges Wesen, ich möchte hierüber mit besonderer Aufmerksamkeit zum
wahren Licht aufblicken. Und ich schaute. Und erfuhr - schauend in das
wahre Licht, nicht durch mich und nicht in mir selber forschend -: daß
die Vaterschaft und die Gottheit Gott ist. Denn der Mensch hat nicht
die Macht, von Gott zu sprechen wie von der menschlichen Natur des
Menschen und wie von der Farbe eines von Menschenhand geschaffenen
Werkes.
Das Lebendige Licht also spricht im geheimen Wort der Weisheit: Gott
ist ganz und unversehrt und ohne zeitlichen Anfang. Darum kann Er nicht
- wie der Mensch - durch Reden aufgeteilt werden. Denn Gott ist - wie
kein anderer - ein Ganzes. Nichts kann von Ihm abgezogen und nichts zu
Ihm hinzugefügt werden. Denn auch Seine Vaterschaft und Seine Gottheit
ist Er, der da ist, wie gesagt ist: "Ich bin, der ich bin". Und der da
IST, besitzt die Fülle. Inwiefern? Im Wirken, Hervorbringen, Vollenden.
Wer immer also sagt, die Vaterschaft und die Gottheit seien nicht Gott,
der nennt einen Mittelpunkt ohne Kreis. Und wer einen Mittelpunkt haben
will ohne Kreis, verneint den, der ewig IST. Wer immer also verneint,
daß die Vaterschaft und die Gottheit Gott ist, verneint Gott, da er
behauptet, in Gott sei eine Art Leere, was nicht ist. Denn Gott ist die
Fülle, und was in Gott ist, ist Gott. Gott kann nicht durchsucht und
durchsiebt werden nach Menschenart, weil in Gott nichts ist, was nicht
Gott ist. Das Geschöpf aber hat einen Anfang. Daher sucht die
menschliche Vernunft Gott in Begriffen zu erfassen, wie sie selbst,
entsprechend ihrer Eigenart, von Begriffen voll ist. Nun, o Mensch,
höre nochmals das armselige Gebilde, das dir im Geiste sagt: Gott will,
daß du gerade Wege gehst, daß du Ihm unterworfen und ein lebendiger
Stein am Eckstein bist. Und du wirst aus dem Buche des Lebens nicht
getilgt werden.
***
BRIEWECHSEL MIT WERNER VON KIRCHHEIM
(Auf ihrer letzten Missionsreise, die Hildegard 1170/71 nach Schwaben
führte, hatte sie auch in Kirchheim zu einer Gruppe von Priestern
gesprochen, deren Vorstand Werner Hildegard um die Zusendung des
Vortrags bat. In dem Antwortschreiben, welches eine erschreckende
Vision über die Missetaten des Klerus beinhaltet, durch die das Bild
der Kirche entstellt wird und welche entfernt an die Aussagen der
Mutter Gottes über den verkommenen Klerus in La Salette erinnert
("Kloaken der Unreinigkeit" hatte dort die Gottes Mutter über sie
geurteilt), wird deutlich, daß Hildegard mit glühendem Herzen für die
innere Reform der Kirche eiferte.)
WERNER VON KIRCHHEIM AN HILDEGARD
(...) Wir erkühnen uns, Euch noch eine Bitte vorzulegen: Versäumt es
nicht, in mütterlicher Güte das niederzuschreiben und uns zu
übersenden, was Ihr, vom Heiligen Geiste belehrt, uns und sehr vielen
anderen in Kirchheim Anwesenden mündlich über die Nachlässigkeit der
Priester beim Gottesdienst eröffnet habt, damit es nicht unserm
Gedächtnis entfalle, sondern wir es um so aufmerksamer uns vor Augen
halten. Denn da wir leider mehr als nötig nach irdischen und weltlichen
Dingen gieren, schlagen wir oft genug bloß gesprochene Worte
gleichgültig in den Wind. Eure mütterliche Liebe lebe wohl!
HILDEGARD AN WERNER VON KIRCHHEIM
Als ich im Jahre 1170 nach der Menschwerdung des Herrn geraume Zeit auf
dem Krankenbette lag, schaute ich, wach an Körper und Geist, die
Gestalt einer sehr schönen Frau. Von auserlesener Anmut, anziehend in
ihrer Lieblichkeit, besaß sie solche Schönheit, daß Menschengeist es
nicht zu fassen vermochte. Ihre Gestalt ragte von der Erde bis an den
Himmel hinan. Ihr Antlitz funkelte von höchstem Glanz. Mit ihren Augen
blickte sie in den Himmel hinein. Bekleidet war sie mit einem
strahlendhellen Gewand aus weißer Seide und einem Mantel, der mit
kostbaren Steinen - Smaragd und Saphir -, auch mit Perlchen und Perlen
geschmückt war. An den Füßen trug sie Schuhe aus Onyx. Aber ihr Antlitz
war mit Staub bestreut, ihr Gewand an der rechten Seite zerrissen. Auch
hatte der Mantel seine erlesene Schönheit verloren. Und ihre Schuhe
waren von oben her beschmutzt. Mit lauter, klagender Stimme schrie sie
zum hohen Himmel hinauf und sprach: "Horch auf, Himmel, denn mein
Antlitz ist besudelt. Trauere, Erde, denn mein Kleid ist zerrissen.
Erzittere, Abgrund, denn meine Schuhe sind beschmutzt. Die Füchse haben
ihre Höhlen und die Vögel des Himmels ihre Nester, ich aber habe keinen
Helfer und Tröster noch einen Stab, auf den ich mich stützen könnte und
der mir Halt wäre."
Und weiter sprach sie: "Im Herzen des Vaters war ich verborgen, bis der
Menschensohn, in Jungfräulichkeit empfangen und geboren, Sein Blut
vergoß. Mit diesem Blut, als Seiner Mitgift, hat Er sich mir vermählt,
damit ich in der reinen und einfachen Wiedergeburt aus dem Geiste und
dem Wasser [Taufe] die vom Geifer der Schlange Verkrümmten und
Besudelten neu gebäre. Meine Pfleger (nutritii), die Priester, die
bewirken sollten, daß mein Antlitz funkle wie das Morgenrot, mein
Gewand aufleuchte wie der Blitz, mein Mantel strahle wie kostbares
Gestein und meine Schuhe hell glänzten, haben mein Antlitz mit Staub
bestreut, mein Gewand zerrissen, meinen Mantel dunkel und meine Schuhe
schwarz gemacht. Die mich ganz und gar hätten schmücken sollen, haben
mich in allem treulos verlassen. Mein Antlitz besudeln sie, indem sie,
behaftet mit der großen Unreinheit ihrer ausschweifenden Sitten, dem
argen Schmutz der Hurerei und des Ehebruchs, mit reißender Habsucht
übelster Art bei Kauf und Verkauf aller möglichen ungeziemenden Dinge,
das Mysterium vollziehen und den Leib und das Blut Meines Sohnes
empfangen. Und sie wickeln es so in Schmutz ein, wie wenn man ein Kind
vor die Schweine in den Kot hineinlegen würde...
Die Wundmale meines Bräutigams bleiben frisch und offen, solange die
Sündenwunden der Menschen offen sind. Eben dieses Offenbleiben der
Wunden Christi ist die Schuld der Priester. Sie, die mich strahlend
rein machen und mir in Reinheit dienen sollten, wechseln aus maßloser
Habsucht [durch Simonie] von Kirche zu Kirche. Auch mein Gewand
zerreißen sie dadurch, daß sie Übertreter des Gesetzes, des Evangeliums
und ihrer Priesterpflicht sind. Und meinem Mantel nehmen sie den Glanz,
da sie die ihnen auferlegten Vorschriften in allem vernachlässigen. Sie
erfüllen sie nicht - weder in gutem Wollen noch in vollbrachtem Werk -
durch Enthaltsamkeit, die dem Smaragd gleicht, und nicht durch andere
gute und gerechte Werke, mit denen Gott wie mit mannigfachen Arten von
Edelsteinen verherrlicht wird. Sie beschmutzen meine Schuhe von oben
her, weil sie die geraden, das heißt die harten und rauhen Wege der
Gerechtigkeit nicht einhalten und auch ihren Untergebenen kein gutes
Beispiel geben. Dennoch finde ich unten an meinen Schuhen - gleichsam
von meinem [Wesens-]Geheimnis her - bei einigen das Leuchten der
Wahrheit..."
Und ich hörte eine Stimme vom Himmel, die sprach: Dieses Bild stellt
die Kirche dar. Deshalb, o Mensch, der du das schaust und die
Klageworte hörst, künde es den Priestern, die zur Leitung und Belehrung
des Gottesvolkes bestellt sind und denen gleich den Aposteln gesagt
wurde: "Gehet hin in alle Welt und verkündet das Evangelium der ganzen
Schöpfung!" Denn als Gott den Menschen erschuf, zeichnete Er in ihm die
ganze Schöpfung, wie man Zeit und Zahl eines ganzen Jahres auf ein
kleines Stück Pergament aufzeichnet. Daher nannte Gott den Menschen
"die ganze Schöpfung".
Und ein andermal erblickte ich armselige Frau ein aus der Scheide
gezogenes Schwert, das in der Luft schwebte. Die eine Schneide war
gegen den Himmel, die andere gegen die Erde gekehrt. Dies Schwert war
über die Geistlichkeit ausgestreckt, die einst der Prophet
vorausgesehen hatte, als er voller Staunen rief: "Wer sind diese, die
wie Wolken fliegen und wie Tauben zu ihren Schlägen?" Denn diese
Menschen sind über die Erde erhoben und von dem gemeinen Volk
gesondert. Heilig sollten sie leben und in Taubeneinfalt wandeln und
wirken. Jetzt sind sie böse in ihrem Wandel und Werk. Und ich sah, daß
das Schwert einige Stätten dieser Geistlichen vernichtete, wie einst
Jerusa-lem nach dem Leiden des Herrn vernichtet ward. Doch sah ich
auch, daß Gott in dieser Heimsuchung viele gottesfürchtige, reine und
einfältige Priester für sich bewahrte, so wie Er dem Elias antwortete,
da Er sagte, Er wolle siebentausend Mann in Israel übriglassen, die
ihre Knie nicht vor Baal gebeugt hätten.
Jetzt aber möge das unauslöschliche Feuer des Heiligen Geistes sich in
euch ergießen, auf daß ihr euch dem besseren Teil zuwendet!
***
HILDEGARDS AN ERZBISCHOF HILLIN VON TRIER (1152-1169)
(...) Denn unsere Zeit blickt zurück auf jene Zeit, als das erste Weib
bei der Verführung dem ersten Mann zunickte. Dennoch besitzt der Mann
mehr Schaffenskräfte als die Frau. Die Frau aber ist ein Quell der
Weisheit und ein Quell der Freudenfülle. Beider bringt der Mann zur
Vollendung. Wehe, wehe, die gegenwärtige Zeit ist weder kalt noch warm,
sondern lau. Darauf wird eine Zeit folgen, die in großen Gefahren, in
Furcht, Ungerechtigkeit und Unabhängigkeit der Männer Manneskräfte
hervorbringen wird. Alsdann wird der Irrtum der Irrtümer wehen, wie die
vier Winde, die in großen Gefahren ihren üblen Geruch verbreiten. (...)
Die Texte sind entnommen: Hildegard von Bingen -
Briefwechsel, übersetzt und erläutert von Adelgundis Führkötter OSB,
Salzburg 1965, S. 39 ff., 43 ff., 175 ff., 50.
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