AUS LIEBE LEBEN, AN DER LIEBE STERBEN
- Verwandelt durch Gottesliebe:
hl. Theresia vom Kinde Jesu und Simone Weil -
von
Magdalena S. Gmehling
Dies, also ist alles, was Jesus von uns fordert! Er Die Liebe zu Gott ist rein, wenn Freude und
bedarf unserer Werke nicht, son dern nur unserer Leid die gleiche Dankbarkeit einflößen. ...
Liebe. Dieser Gott, der erklärt, daß er es keines- Reine Liebe zu den Geschöpfen: nicht Liebe
wegs nötig habe, uns zu sagen, wenn ihn etwa in Gott, sondern Liebe, die durch Gott hin-
hungere, scheut sich nicht, bei der Samariterin um durchgegangen ist wie durch das Feuer.
etwas Wasser zu betteln...Es dürstete ihn! Aber
Liebe, die sich von den Geschöpfen gänzlich
da er sagte: "Gib mir zu trinken!" war es die Liebe ablöst, um zu Gott aufzusteigen und die von
seines armseligen Geschöpfes, die der Schöpfer Gott in Gemeinschaft mit seiner schöpferi-
des Weltalls begehrte. Er dürstete nach Liebe.
schen Liebe wieder hinabsteigt. So
vereinigen sich die
beiden Gegensätze, welche die
Theresia v. Kinde Jesu und v. Heiligen Antlitz
menschliche Liebe
zerreißen; das geliebte Wesen
lieben, wie es
ist, und es abermals erschaffen
wollen.
Simone Weil
Man schreibt das Jahr 1909. Jeanne d'Arc wird am 18. April selig
gesprochen. In einer nicht-orthodoxen jüdischen Familie in Straßburg
kommt als Tochter eines Arztes ein Kind zur Welt, das später als "la
vierge rouge" (die "rote Jungfrau") bezeichnet wird. Im Januar des
gleichen Jahres bestellt Rom den Postulator Pater Rodrigo O.C.D. und
den Vizepostulator Abbé de Teil für den Selig- und
Heiligsprechungsprozeß der Therese Martin.
Soweit die chronologischen Berührungspunkte.
Es mag auf den ersten Blick seltsam anmuten, die junge heilige Nonne
Thérèse die am 2. Januar 1873 geboren wurde und die 24 jährig 1897 am
30. September an galoppierender Schwindsucht verstarb, mit der
jüdischen Philosophielehrerin und politischen Aktivistin, Simone Weil,
in Zusammenhang zu bringen. Außer einem sehr kurzen Leben - Simone Weil
wurde nur 34 Jahre und erlag 1943 einem freiwilligen, sich selbst durch
Sympathie mit den Franzosen auferlegten Hungertod - scheint die beiden
Frauen auf den ersten Blick wenig zu verbinden. Ein aufmerksamer
Vergleich der Biographien lehrt Gegenteiliges. Die Kernpunkte beider
Lebensgeschichten berühren sich. Sie bestehen in dem Bestreben, die
eigene Natur zu brechen und sind verbunden mit der christozentrischen
Ausrichtung einer, des Rigorismus nicht entbehrenden Askese. Beide,
Simone und Therese sind aus dem "feuergefährlichen Stoff der Heiligen"
(Albert von Schirnding). Eine gewisse Merkwürdigkeit, die keineswegs
selbstverständlich ist, besteht wohl auch darin, daß die Umgebung diese
Tatsache erkannt, ja kultisch verklärt hat. Vergleicht man die Porträts
beider Frauen, so fällt das herbe, traurige, wenig ansprechende Gesicht
Simone Weils auf. Immer wieder wird von Zeitgenossen ihre unweibliche
Erscheinung betont, die monotone Stimme, die aggressive Art.
Im Gegensatz dazu bezaubert die innere Schönheit der jugendlichen
Karmeliterin. Walter Nigg spricht von ihrem Lächeln, als einem
Widerschein des göttlichen Lächelns der Himmelkönigin. Er bescheinigt
ihr sonnenhaft-gütige Freundlichkeit. Eine Mischung aus charismatischem
Charme und jenem sieghaftem Lächeln verbirgt all ihre Tränen. Sicher
ist, daß die glühende Flamme der Gottesliebe jede dieser Existenzen auf
eine individuelle Art und Weise prägt, denn die Liebe ist das einzige
Mittel, welches den Menschen zur Vervollkommnung führt. Die Liebe der
Thérèse Martin sucht, wie Ida Friederike Görres überzeugend nachweist,
"fast verzweifelt nach dem Strombett der Werke, um sich auszudrücken.
'Des immenses desirs' - unendliche Sehnsüchte beschäftigen sie von
Jugend auf."
Den Traum des religiös gefärbten Heldentums verwirklicht jene andere,
36 Jahre nach ihr geborene Nonkonformistin, Simone Weil, auf eine uns
paranoid radikal anmutende Weise. Ida Friederike Görres ist es auch,
die ihre Bedenken, ja ihren Groll bezüglich dieser Einsamen offen
ausspricht:
"Ich kann, ehrlich gesagt, Simone Weil
nicht ausstehen. Sie ist groß-gewiß, und sehr lauter - aber irgendwie
empfinde ich sie als entsetzlich hochmütig... Diese unsagbare
Verweigerung aller Gemeinschaft... im Innersten, da muß, da will sie
hundertprozentig einsam, 'unique' sein ... solitaire, ohne niemand, auf
niemand angewiesen ... ". 1)
Dieses Urteil ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Sogar einer ihrer
engsten Freunde, bescheinigt der "Sainte Simone" "transzendentalen
Egoismus". Passionswille und Rebellion verbinden sich in der jüdischen
Philosophin zu einer schwer deutbaren Persönlichkeitsstruktur. Ein so
unverdächtiger Zeitzeuge wie Charles de Gaulle beteichnet sie 1942, als
sie mit dem Fallschirm über Frankreich abspringen und gegen die
Okkupanten kämpfen will, schlichtweg als "verrückt". Glaube - ja,
Kirche -nein. Simone Weil konvertierte nicht:
"Bisweilen habe ich mir gesagt, ich
ließe mich sofort taufen, wäre an den Kirchenpforten angeschlagen, daß
für jeden, dessen Einkommen eine bestimmte gering-fügige Summe
übertrifft, der Zutritt verboten sei". 2)
Sie war eine entschiedene, streitbare Sozialistin, pflegte persönlichen
Kontakt zu Trotzki, empörte sich über Geld, als Ursache sozialer
Ungerechtigkeit. Selbst einer Simone de Beauvoir flößten ihre
Intelligenz, ihr Asketentum und ihr Extremismus Bewunderung ein. Jean
Paul Sartres bescheinigt ihr mehr als einen Flirt mit dem Proletariat.
Doch sie schloß sich der KP nicht an. Rastlos blieb sie auf der Suche
und ging, obwohl Philosophielehrerin, ein Jahr in die Fabrik, um dort
für immer "das Brandmal der Sklaverei" zu empfangen. Zwischen den
Stationen ihres Scheiterns aber, sei es nun bei praktischen oder
geistigen Tätigkeiten, entsteht in der kurzen Zeit dieses Lebens ein
gewaltiges Werk, welches von Energie, Identifikationskraft und der
Fähigkeit zur Unterscheidung der Geister zeugt.
Es wurde viel geschrieben über Simone Weils jüdischen Selbsthaß, ihre
sprichwörtliche Unvernunft, wenn es darum ging, sich körperliche
Strapazen aufzuerlegen, ihre Selbsttäuschungen und Widersprüche. Man
wird auch nicht vergessen dürfen, daß sie in einem indifferenten
Agnostizismus aufgewachsen ist. Anarchistin war sie jedenfalls -
wenigstens zeitweise:
"Man muß das Geld in Verruf bringen. Es
wäre nützlich, daß diejenigen, die höchstes Ansehen oder sogar Macht
besitzen, gering entlohnt werden. Die menschlichen Beziehungen müssen
der Kategorie nicht meßbarer Dinge zugeordnet sein. Öffentlich soll
anerkannt sein, daß ein Bergmann, ein Drucker, ein Minister einander
gleich sind." 3)
Wenn auch die Erfahrung lehrt, daß die hier postulierte Moral der
völligen Gleichheit, in der Politik fast zwanghaft in die absolute
Unmoral umschlägt, so kann man der Philosophin die persönliche
Verifizierung ihrer These nicht absprechen. Sie teilte ihr gesamtes
Geld mit Bedürftigen und stirbt einen solidarischen Hungertod. Sie
unterliegt dem tragischen Irrtum, metaphysische und psychologische
Ungleichheiten mit sozialen Ungerechtigkeiten zu vermengen.
Bedenkenswert dürfte in diesem Zusammenhang vergleichsweise eine Stelle
bei Therese von Lisi-eux sein, in welcher sie die zeitlose Wahrheit
ausspricht, daß das Unheil eben von der unersättlichen Gleichmacherei
nach oben wie nach unten ausgeht. Beide Formen sind Täuschung und
undurchführbar. Demütig und schlicht, bereits ganz erfüllt von der Idee
des "kleinen Weges", schreibt sie:
"Ich erkannte, wenn alle kleinen Blumen
Rosen sein wollten, verlöre die Natur ihren Frühlingsschmuck und die
Auen wären nicht mehr mit Blümchen besät... Der Herr fand es gut, die
großen Heiligen zu schaffen... Er schuf aber auch die
unscheinbareren... Ich erkannte, daß sich die Liebe des Heilandes
ebensogut in der einfachsten Seele offenbart, die niemals seiner Gnade
widersteht, als in dem erhabensten Geiste. In der Tat, es ist der Liebe
eigen, sich zu erniedrigen." 4)
Kehren wir zurück zu Simone Weil. Es gelingt ihr, sich von den
marxistischen Luftschlössern zu befreien und einzusehen, daß der Kampf
gegen das Privateigentum gegen die Natur der Menschen gerichtet ist.
"Das Privateigentum ist ein Lebensbedürfnis der menschlichen Seele". 5)
Interessant ist in diesem Zusammenhang das Urteil eines mit ihr
befreundeten Kommunistenführers der schrieb: "Simone Weil war ganz und
gar Liebe".
Hier nun liegt der Grund, warum die junge Frau sich bald vom
Christentum angezogen fiihlte, was sie selbstverständlich in den Augen
der früheren Gesinnungsgenossen zur "persona non grata" stempelte. Aus
dem Briefwechsel mit dem Dominikanerprior J.M. Perrin, den sie 1941
kennenlernt und der ihr geistlicher Beistand wird, wissen wir von drei
Erlebnissen, die für Simone Weil prägend wurden. In Portugal erfährt
sie in einem armseligen Fischerdorf das Christentum als eine "Religion
der Sklaven" 6). Im Jahre 1938 erlebt sie unter qualvollen körperlichen
Schmerzzuständen in der Benediktinerabtei Solesmes in einer Art Ekstase
die vollkommene Freude, die ihr erlaubt, die göttliche Liebe durch das
Unglück hindurch zu lieben. Ein ähnliches Erlebnis berichtet übrigens
André Frossard, der Sohn des Führers der kommunistischen Partei
Frankreichs in seinem berühmten Buch "Gott existiert". Schließlich hat
sie im Herbst 1938, etwa um die Zeit, da in Deutschland die
Ausschreitungen gegen die Juden in der Reichskristallnacht ihren
Höhepunkt erreichen, eine erste Christuserscheinung.
Dennoch, der Taufe nahe, bleibt sie da stehen, wo sie immer stand: Am
Schnittpunkt des Christentums mit allem, was es nicht ist. Sicher gilt
für sie der theologische Lehrsatz, daß Christus zwar das Heil an das
Sakrament der Taufe gebunden hat, er selbst aber in seinem Wirken nicht
an Sakramente gebunden ist. In den "Cahiers" der Simone Weil, den
Aufzeichnungen aus den letzten drei Lebensjahren, finden wir so
tiefsinnige Sätze wie:
"Liebe ist kein Zustand, vielmehr eine
Richtung. Sie ist gewissermaßen die Achse der Pole, deren einer die
Materie, deren anderer Gott darstellt ... Gott kann in der Schöpfung
nicht anders anwesend sein als unter der Form der Abwesenheit... Diese
Welt, insofern sie Gottes gänzlich leer ist, ist Gott selbst". 7)
Die Brücken (Metaxy), welche die Philosophin nach griechischem Vorbild
sucht, sind von paradoxer Art: "Jede Trennung ist eine Verbindung...
Gottes Barmherzigkeit erscheint in dieser Welt unter der Gestalt des
Übels... ". Immer wieder nähert sich Simone Weil in ihrer
Seelenstimmung der mystischen Leiderfahrung, die Johannes vom Kreuz
(1542-1591) als die "dunkle Nacht" auf dem Wege des Christen zum Berg
Karmel bezeichnet hat. Die Gotteserfahrung im Leid verbindet sie mit
der in der Sicherheit und Harmlosigkeit ihres Klosters scheinbar so
geborgenen Therese. Versuchen wir etwas tiefer zu schürfen.
Das Phänomen des Theresienkutes ist in der neueren Kirchengeschichte
ohne Beispiel. Allerdings haftet dem Bild der kleinen Heiligen viel
unechtes, kitschiges Lebensgefühl an. Ihre wahre Bedeutung besteht in
dem Bestreben, das Große in vollständiger Hingabe im Kleinen zu
verhüllen. Die "weiße Blume", schreibt ihren "Nekrolog" in zwei
einfachen Schulheften nieder. Später wird er - vielfach retuschiert -
als "Geschichte einer Seele" buchstäblich die Welt erobern. Thérèses
Wirken kann mit Recht für Massenerfahrungen wunderbarer Hilfe in
Anspruch genommen werden. Ungewöhnlich scheint der Befehl der Mutter
Priorin zur Darstellung ihrer Seelengeschichte mit Sicherheit gewesen
zu sein. Aus der Biographie ist zu entnehmen, daß die leibliche
Schwester Pauline daran nicht unbeteiligt war. Die Familie Martin, dies
geht aus allen vorhandenen Zeugnissen hervor, ahnte zumindest, welchen
Schatz sie dem Karmel von Lisieux anvertraut hatte.
Eigenartig, daß auch Simone Weil ihr Vermächtnis in zehn dicken Heften
geordnet, einem Gewährsmann anvertraut. Es ist der französische
Philosoph Gustave Thibon, der schließlich ihr Herausgeber wird. Die
Familie, besonders der Bruder, ein hervorragender Mathematiker, sind
sich der Bedeutung der genialen "Christin außerhalb der Kirche" bewußt.
Wir haben also von beiden Personen genaueste persönliche Aufzeichnungen
bezüglich des geistlichen Weges, ihrer Leiderfahrung. "Sich der Liebe
als Opfer hingeben, heißt sich zu jeder Qual anbieten", schreibt
Thérèse, die sich in der ihr eigenen Kindlichkeit als "Spielzeug Jesu"
empfindet. "Entwurzelung des Menschen durch Unglück", ausgestoßen,
gebannt und gebrannt mit dem "Stempel der Sklaverei", so empfindet
Simone Weil die hiobsähnliche Verzweiflung, die den Menschen dem
gekreuzigten Gott ähnlich macht.
Theresia erfährt den Abgrund des Leidens, die Bitterkeiten,
Dunkelheiten und Glaubensanfechtungen. Immer wieder spricht sie davon,
wie sich die Nebel um sie her verdichten, die Finsternis sie verhöhnt.
"Meine Seele hat verschiedenartige Prüfungen erfahren. Ich habe
hienieden viel gelitten! Während meiner Kindheit litt ich mit
Traurigkeit. Jetzt verkoste ich all die bitteren Früchte in Frieden und
mit Freude... Ach, welches Staunen gäbe es, wenn das Martyrium, das ich
seit einem Jahr erdulde, offen zutage träte!" 8) Diesen Zeilen folgt
eine Schilderung des Gesundheits- und Seelenzustandes. Dennoch betont
sie immer wieder: "nur die Liebe allein zieht mich noch an". Jede
Schmerzverliebtheit ist ihr fremd, ganz zu schweigen von
masochistischer oder sadistischer Selbstquälerei. "Die Vergöttlichung
des Menschen fällt in Thérèse zusammen mit seiner vollständigen
Kreuzigung. Die Wundmale am Leib des Franziskus werden von Thérèse in
ibrer Seele erlitten, wie ihre Erfahrung der Gottlosigkeit beweist.
Wenn aber die Identifikation mit Christus in der psychologischen Ebene
so total wird, wird jedes äußere Zeichen der Trennung von der Welt
überflüssig: es bedarf keiner monastischen Absonderung von der Welt
mehr, denn Therese erlebt diese in ihrer eigenen Seele." 9)
Eine intensive Beschäftigung mit den Lebensgeschichten beider Frauen
verstärkt zunehmend die Neigung, bei Thérèse von religiösem Heldentum,
bei Simone Weil von Bußgesinnung, verbunden mit religiöser Tragik zu
sprechen. Die jüdische Philosophin war ein Mensch des Leidens, des
Mitleidens. Sie unterscheidet das Unglück im Sinne des Untergangs, der
Vernichtung, ja sie spricht vom Unglück als einem "Sakrament des
Heiles", das auf der natürlichen Ebene zu Gott fiihren kann und dann
auf der übernatürlichen eben Heil stiftet. "Das Unglück läßt Gott auf
eine Zeit abwesend sein, abwesender als ein Toter, abwesender als Licht
in einem völlig finsteren Kerkerloch. Eine Art Grauen überflutet die
ganze Seele. Während dieser Abwesenheit gibt es nichts, das man lieben
könnte. Das Schreckliche ist, daß, wenn die Seele in diesen
Finsternissen, wo nichts ist, das sie lieben könnte, aufhört zu lieben,
daß dann die Abwesenheit Gottes endgültig wird." 10) Simone Weil hat
den Untergang des Menschen im Leid vorausgeahnt, die Endgültigkeit der
Abwesenheit Gottes, die Elie Wiesel erlebt, als er zusieht, wie sich in
Auschwitz die schwarzen Rauchringe der Verbrennungsöfen, die sein
Schwesterchen, seine Mutter waren, im Himmel auflösen. "Nie werde ich
die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten,
und meine Träume, die das Antlitz der Wüste annahmen ..." 11) Simone
Weil war sich der Trostlosigkeit und Entblößung des modernen Menschen
bewußt, der seine Qual hinter Skepsis und Zynismus versteckt. Ihre
Botschaft lautet: Man muß Gott über diese Abwesenheit hinaus lieben,
nur so "gleichen wir Gott, aber dem gekreuzigten Gott."
Versuchen wir im Rahmen dieser kurzen und durchaus fragmentarischen
Überlegungen eine abschließende Zusammenschau. Thérèse Martin, deren
liebeglühendes Herz auch die schauerlichste Kälte der Lieblosigkeit,
der Verlassenheit, der grausamen Todesnot erwärmt, ringt dem Leiden die
vollkommene Freude ab: "Leide ich viel, begegnet mir Unangenehmes, so
begrüße ich es mit einem Lächeln...". "Ihre Seele strömt einen Duft
aus, der förmlich berauscht, und ihr Wesen ist von einem Licht
umstrahlt, das einen immer wieder gefangen nimmt... Sie hat das
Lebendige nicht in sensatio-nellen Erlebnissen verausgabt, es vielmehr
ganz nach innen gewendet und unaufhaltsam zur seelischen Bereicherung
verarbeitet... Ihr Lächeln wurde zum Widerschein des göttlichen
Lächelns.... 'Aber dieses Lächeln ist das strengste Werkzeug ihrer
körperlichen und seelischen Buße'." 12) Der Gestalt der Thérèse von
Lisieux haftet etwas Überzeitliches und Immergültiges an. Ihre
Gottesliebe, geboren aus dem durch strengen Willen gebändigtem Gefühl,
ist ganz Licht und und strömende Botschaft des Ewigen.
Simone Weil war eine kühne Pionierin des Denkens. In ihrer
eigenständigen Geistigkeit ist "die Mystik in das vertechnisierte
Denken der Gegenwart eingebrochen... Dabei wußte sie um den Konflikt
zwischen dem Mystischen und dem Gesellschaftlichen und hat den
Gegensatz zwischen Natürlichem und Übernatürlichem mit eruptiver
Heftigkeit erlebt... Mit ihrem Gang zu den Unglücklichen verband sie
gar keine Nebenabsichten und bewies damit, daß sie das tiefste Wesen
der christlichen Liebe erfaßt hatte." 13) Über dem Mahnmal ihres Lebens
liegt ein Schleier. Ihre Gottesliebe weist in eine neue Richtung: Die
Heiligung des Weltlichen. Wie Thérèse umarmte sie das Leiden,
aber sie empfing es nicht lächelnd, sondern erlitt das Unglück der Welt
schweigend im eigenen Fleisch. Ihre Mahnung gilt auch unserer Zeit:
"Das Wort Gottes ist das verborgene Wort. Wer dieses Wort nicht
vernommen hat, der ist, selbst wenn er alle von der Kirche gelehrten
Dogmen anerkennt, ohne Berührung mit der Wahrheit." 14)
Ich schreibe diese Zeilen am 24. August 1997, knapp hundert Jahre nach
dem Tode der heiligen Thérèse und am 54. Todestag von Simone Weil. Die
mystisch begnadete Philosophin hinterließ ein Vermächtnis,
zusammengefaßt in einigen sterbend geseufzten Worten. Mit ihnen wollen
wir diese kurze Betrachtung schließen. Simone Weils Botschaft lautet:
"Sprich mir schweigend von Gott."
Anmerkungen:
1) Ida Friederike Gorres: Zwischen den Zeiten: Walter Verlag Olten im Breisgau 1960. S.393.
2) zitiert nach Frederik Hetmann: Drei Frauen zum Beispiel. Beltz und Gelberg, 1980, S. 9.
3) ebd. S. 10.
4) Geschichte einer Seele:Selbstbiographie der hl. Theresia vom Kinde
Jesu. Verlag der Schulbrüder /
Kirnach Villingen, Baden
1931, S.4.
5) Simone Weil: Die Einwurzelung. München 1956, S. 59.
6) Das Unglück und die Gottesliebe. Erstausgabe 1953 . Kösel-Verlag 1953 S. 48.
7) Simone Weil: "Schwerkraft und Gnade", München 1989.
8) Geschichte einer Seele. Selbstbiographie der hl. Therer,ia vom Kinde
Jesu.Verlag der Schulbrüder Kirnach Villingen, Baden 1931 S. 153.
9) C. Leonardi: Von der "monastischen" zur "politischen" Heiligkeit,
593; zitiert nach: Gotthard Fuchs: "Die dunkle Nacht der Sinne" S. 154.
10) Simone Weil: "Das Unglück und die Gottesliebe" München 1953, S. 114 f.
11) Elie Wiesel: "Die Nacht zu begraben Elischa" Ullstein 1987. S. 14.
12) Walter Nigg: "Große Heilige" Artemis Verlag Zürich 1946. S. 457 ff.
13) Walter Nigg: "Buch der Büßer" Walter Verlag Olten 1970. S. 237 f.
14) Simone Weil: "Das Unglück und die Gottesliebe" München 1953, S. 65.
Weiterführende Literatur:
Simone Weil: "Unterdrückung und Freiheit. Politische Schriften" München 1975.
Simone Weil: "Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen" hersg. von Friedhelm Kemp, DTV 1990. |