QUELLEN DER GLAUBENSLEHRE
von
Hochw.Herrn Dr.theol.Otto Katzer
III. Teil
Die zweite Quelle, jedoch nicht eine zweitrangige, ist die Tradition,
die mündliche Überlieferung. Wenn wir nun bedenken, daß die
geoffenbarten Wahrheiten zuerst mündlich verkündet wurden, wie sie auch
weiter mündlich verkündet werden sollen, und daß die heilige Kirche ob
der ihr von ihrem Gründer anvertrauten Unfehlbarkeit die Hüterin und
der Verlautbarer der geoffenbarten Wahrheit ist, können wir von einem
gewissen Vorrag der Tradition vor der Heiligen Schrift sprechen. Zuerst
müssen wir uns aber sagen, was die Tradition eigentlich ist. Vom
dogmatischen Standpunkte aus sind nach dem Konzil von Trient (Denz.783)
- als göttlich-apostolische Tradition jene geoffenbarten Wahrheiten zu
betrachten, die die Apostel von Christus mündlich oder vom Heiligen
Geiste empfangen haben und welche die Kirche von da an unverfälscht bis
auf uns fortgepflanzt hat. Also "im eigentlichen und streng
theologischen Sinne bezeichnet sie eine religiöse Lehre oder
Einrichtung, welche ursprünglich mündlich mitgeteilt wurde, daher
wenigstens ausdrücklich in der Heiligen Schrift nicht enthalten und so
auf die Nachfolger übergegangen ist, mag sie nun später aufgezeichnet
worden sein oder nicht.
Ihrem Ursprung nach (ratione principii seu originis) ist die
Überlieferung eine göttliche oder menschliche (traditio divina,
humana); jene, wenn sie von Gott unmittelbar ausgegangen ist, diese,
wenn sie von Menschen herrührt. Ist sie von Menschen verkündet unter
Eingebung des Heiligen Geistes (dictante Spiritu Sancto - Conc.Trident.
Sess.IV.), dann ist sie eine göttlich-menschliche Tradition
(divino-humana, divinoapostolica); geht sie aus von den Aposteln als
Gliedern der Kirche, aber nicht im Namen Gottes und unter Eingebung des
Heiligen Geistes, sondern in ihrem eigenen Namen unter dem Beistande
des Heiligen Geistes, dann ist sie eine apostolische (apostolica);
ausgegangen von den Vorstehern der Gesamtkirche oder mit deren
Zustimmung von den Gläubigen, ist sie kirchliche Überlieferung
(ecclesiastica). So ist die Einsetzung der Sakramente mit Materie und
Form traditio divina; die Bestimmung des Apostels bezüglich der Ehe mit
einem ungläubigen Weibe (1Cor 7,10-12) humano-apostolica; die
Einführung von Pesten und Fasten in der Kirche ecclesiastica. Während
die divina Glaubenssätze enthält, bezieht letztere sich auf Gegenstände
der Disziplin; jene ist darum notwendig universalis (allumfassend),
während diese temporalis et localis (zeitlich und örtlich begrenzt)
sein kann..." (Hettinger, Lehrbuch der Fundamentaltheologie, zweites
Buch, zweiter Abschnitt § 33).
Insoweit uns die Tradition die Heilige Schrift erläutert, sprechen wir
von einer deklarativen Tradition. Wenn sie auf Grund neuer
Offenbarungen die in der Heiligen Schrift gegebene Offenbarung
erweitert, dann sprechen wir von einer konstitutiven oder kompletiven
Tradition. Zur letzteren gehört der Kanon der Heiligen Schrift, die
Inspiration, die Kindertaufe, die Lehre von den heiligen Schutzengeln,
das Fegefeuer, die Unbefleckte Empfängnis, u.a.
"Die Quellen, aus welchen von der Vernunft die als verpflichtender
Gegenstand des übernatürlichen Glaubens hinzunehmende Tradition der
Kirche zu jeder Zeit erkannt wird, sind viele und verschiedene. Zu
ihnen zählen wir vor allem die öffentliche Lehre der Kirche,
ausgesprochen
a) in den dogmatischen Lehrentscheidungen der Päpste (definitiones dogmaticae ex cathedra),
b) in den Entscheidungen der allgemeinen Konzilien sowie der vom Römischen Stuhl approbierten Partikularkonzilien,
c) in den beiden erlassenen Bekenntnissen und approbierten Katechismen,
d) in den Liturgien, vor allem der ältesten Kirchen und
e) in der Übung der Kirche in der öffentlichen Sakramentenspendung und dem religiösen Kultus überhaupt.
Die Lehre der Kirche ist die stets in ihr lebende Tradition und eins
mit ihr selbst... Was gegen die Lehre der Kirche ist, ist ebendarum
falsch... Aus der Liturgie argumentiert schon Augustinus gegen die
Pelagianer
(De dono perseverantiae, c.23; Ep.217 ad Vital.), denn lex supplicandi
legem statuit credendi (das Gesetz des Betens bestimmt das Gesetz des
Glaubens).... Der öffentliche, tägliche Kultus der Kirche, namentlich
die Ausspendung der Sakramente, und die Erscheinung des religiösen
Lebens überhaupt (Kreuzzeichen, Reliquien, Weihwasser, Bilder) stellen
den Glauben der Vorzeit unzweideutig vor Augen.
Neben den Urkunden, welche den allgemeinen Glauben der Kirche
öffentlich und authentisch darstellen, haben die Schriften der Väter
ein großes Ansehen als Zeugen der kirchlichen Tradition. Nach den
Schriften der heiligen Väter haben die Akten der Märtyrer, die Kirchen
und Ketzergeschichte, eine große Bedeutung für die kirchliche
Überlieferung.
Die gemeinsame Lehre der theologischen Schulen in Fragen des Glaubens
und selbst die allgemeine Übereinstimmung der Gläubigen bildet ein
sicheres Zeugnis der kirchlichen Tradition.
In besonderer Weise erscheint der Glaube der katholischen Kirche in
dem, was die monumentale Theologie zur Darstellung bringt, den Bauten,
Bildern Inschriften, Geräten der christlichen Vorzeit." (ebendort § 36).
Was die moralisch-einstimmige Lehre der Bischöfe anbelangt, so ist
diese in den verschiedenen Katechismen, natürlich nur insoweit sie aus
der unfehlbaren Lehre herauswachsen und in sie wieder einmünden, wie
auch in den Synodalinstruktionen und Predigten usw. enthalten. Das eine
ist dabei aber notwendig, daß die zum Glauben vorgelegten Wahrheiten
allgemein als Glaubensgut betrachtet werden. Die über die ganze Welt
verstreuten Bischöfe bilden zusammen mit dem Papst in Rom einen
einheitlichen juridischen und moralischen Körper, welcher mit der
Unfehlbarkeit in Angelegenheiten des Glaubens und der Sitten
ausgestattet ist.
Um die Praxis der Kirche als eine Glaubensregel betrachten zu können,
ist es notwendig, in ihr ein ins Leben projiziertes Dogma zu sehen und
daß diese Praxis allgemein ist und zugleich, wenigstens
stillschweigend, von der unfehlbaren Autorität des Papstes bestätigt
wird. Die Kirche ist unfehlbar nur als Ganzheit, d.h. eine moralische
Einheit der Diözesen.
Die Übereinstimmung der Kirchenväter, von denen die Kirchenlehrer eine
Auslese bilden, ist - wie wir soeben angeführt haben - eine weitere
Quelle des Glaubens. Um als Kirchenlehrer zu gelten, werden folgende
Bedingungen gestellt:
1) rechtgläubige Lehre (doctrina orthodoxe)
2) heiliger Lebenswendel (sanctitas vitae)
3) hervorragende Gelehrsamkeit (eminens eruditio)
4) ausdrückliche Anerkennung von der Kirche (expressa ecclesiae declaratio).
Nicht alle Kirchenlehrer sind zugleich Kirchenväter, da ihnen das
Merkmal der antiquitas (Leben in alter Zeit) fehlt. Bei den Griechen
endet gewöhnlich das Zeitalter der Väter mit dem heiligen Johannes
Damascenus (gest. ca. 754), bei den Lateinern mit dem Heiligen Gregor
dem Großen (gest. ca.604) oder genauer mit Isidor von Sevilla. Zu den
Kirchenlehrern zählt man im Osten: den hl.Basilius d.Gr. (gest. 379),
den hl. Gregor von Nazianz (gest. um 389/390) und den heiligen Johannes
Chrysostomus (gest. 407), denen das Abendland noch den heiligen
Athanasius (gest. 373) hinzugefügt hat. Als die vier großen
Kirchenlehrer des Abendlandes gelten: der hl.Ambrosius (gest. 397), der
hl.Hieronymus (gest. 420), der heilige Augustinus (gest. 430) und der
hl.Gregor d.Gr. (gest.604). Die christliche Kunst stellt die
angeführten gerne als Parallele der vier heiligen Evangelisten dar.
Später wurde der Titel "Kirchenlehrer" noch anderen erteilt.
Damit die Übereinstimmung der Kirchenväter als Regel des Glaubens
angenommen werden kann, muß sie den Glauben und die Sitten betreffen,
und ihr Zeugnis muß klar und unerschütterlich eine bestimmte Wahrheit
als Glaubensgut der Kirche bestätigen. Doch ist keine mathematische,
nur eine moralische Einheit erforderlich.
Nach dem Zeitalter der Kirchenväter sind die Theologen nicht ohne
Bedeutung, jedoch nur unter gewissen Voraussetzungen. Die von ihnen
vorgetragene Wahrheit muß als Teil des katholischen Glaubens gelten. Es
wäre jedoch falsch, irgendeine von ihnen als sicheres Glaubensgut
vorgetragene Lehre, den Glauben und die Sitten betreffend, abzuweisen.
Wie schon angeführt wurde, kann selbst die Übereinstimmung der
Gläubigen als Offenbarungsquelle angenommen werden. Die Unfehlbarkeit
ist allerdings nur eine passive, stets von der aktiven Unfehlbarkeit
des amtlichen Lehramtes abhängig, wonach sie sich auch zu richten hat.
Auf sie weist bereits der hl.Basilius hin im Kampfe gegen die
Mazedonier (De Spiritu Sancto, c.29) und der heilige Augustinus in den
Auseinandersetzungen mit den Pelagianern (De dono perseverantiae,
n.63). Die Notwendigkeit der Gnade, die Wirksamkeit der Eucharistie,
die Notwendigkeit der heiligen Taufe und ihre Wirkungen, usw. finden
hiermit ihre Bestätigung als allgemeines Glaubensgut. Der Grund ist in
der Wirklichkeit des mystischen Leibes Christi zu suchen, wie auch in
Christi Versprechen: "Seht, ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der
Welt." (Matth 28,20) So können unter Umständen sich die Worte des
heiligen Hilarius als wahr erweisen: "Sanctiores eures plebis quam
corda sunt sacerdotum" - heiliger sind oft die Ohren der Gläubigen als
die Herzen der Priester.
Aus dem Angeführten, dem Komplexe der Probleme, welche es hier nur
anzudeuten möglich war, ist ersichtlich, daß der Heiland ein lebendiges
unfehlbares Lehramt einsetzen mußte, wenn Er uns bei der nach der
Erbsünde eingetretenen Verschlechterung der menschlichen Natur wieder
zur ewigen Seligkeit bringen wollte. Die christliche, von Gott
geoffenbarte Religion kann in ihrer Lehre, in ihren Anordnungen und
Riten nicht unversehrt bleiben - wie es ja die Buntheit der
verschiedenen sich widersprechenden Bekenntnisse beweist - ohne eine
entsprechende Autorität, welche endgültig entscheiden würde, was zu
glauben ist und wie man im Geiste Christi leben soll. Nicht bloß ein
einziges Dogma wurde vom Hochmut des menschlichen Geistes vergewaltigt,
der sich vor dem erhabenen Geheimnis nicht beugen will, nicht bloß eine
einzige Anordnung wurde in das Gegenteil pervertiert und stürzte seine
Anhänger in abscheuliche Laster - und aus einem Ritus kann sehr leicht
abergläubisches Getue werden, je moderner, umso gefährlicheres! Es
genügt völlig, im Buche der Geschichte der Kirche nachzublättern; wir
finden nur zuviele traurige Beispiele.
Das lebendige Lehramt bildet das gerade bestehende bischöfliche Korps
unter der Führung des regierenden Papstes, durch welches wir
authentisch mit dem Worte Gottes bekannt gemacht werden. Die Heilige
Schrift und die Tradition sind indirekte Quellen der Glaubenslehre, aus
welchen das gerade bestehende Lehramt die heiligen Wahrheiten schöpft.
Es ist nicht zulässig und möglich, diese beiden Quellen voneinander zu
trennen. Sollten irgendwelche Mitglieder des bestehenden lebendigen
Lehramtes in Glaubensangelegenheiten oder der Sitten die Heilige
Schrift oder die Tradition verletzen, so scheiden sie automatisch aus
dem Lehrkörper aus, da ein Häretiker nicht mehr Mitglied der Kirche ist
und umso weniger Mitglied des Lehrkörpers sein kann. Nach dem
Kirchenlehrer dem hl.Robert Bellarmin bezieht sich das auch auf den
Papst, dies umso mehr, als dieser im Krönungseid über sich selbst das
Anathem ausspricht und sich so selbst aus der hl. Kirche ausschließt
(Vgl. Robert.Bellarmin. Controvers. tom.I, lib.II, cap.XXX - Vgl.
EINSICHT Nr.4 - Juli 1971, Seite 23, wo wir den Krönungseid des Papstes
auch in deutscher Übersetzung abgedruckt haben.).
Die Aufgabe des kirchlichen Lehramtes besteht darin, den Glauben rein
zu erhalten, wie ihm vom Heiland angeordnet worden ist: "Ihr werdet die
Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommt, und
sollt meine Zeugen sein in Jerusalem, in ganz Judäa und Samaria, ja bis
an die Grenzen der Erde." (Ap 1,8) Dessen waren sich die Apostel stets
bewußt und blieben ihrer Aufgabe treu, wie der hl.Petrus in Cäsarea
beteuerte: "Uns hat Er geboten, dem Volke zu predigen und zu bezeugen,
daß Er von Gott bestimmt ist zum Richter der Lebendigen und der Toten."
(Ap 10,42)
Der Prophet Isaias verkündet: "In der Folge der Tage wird es geschehen:
Da wird der Berg des Hauses des Herrn festgegründet stehen an der
Spitze der Berge und erhaben sein über die Hügel. Zu ihm strömen alle
Völker. Dorthin pilgern viele Nationen und sprechen: "Auf, laßt uns
hinaufziehen zum Berge des Herrn, zum Hause des Gottes Jakobs! Er lehre
uns seine Wege, und wir wollen auf seinen Pfaden wandeln."' (Is 2,1-3).
Dazu bemerkt der heilige Hieronymus: "Dieses Haus ist aufgebaut auf dem
Fundamente der Apostel und Propheten, die auch selbst wie Berge sind,
indem sie Christus nachahmen. Auf einem dieser Berge baut Christus
Seine Kirche auf und sagt: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde
ich meine Kirche bauen." Die Apostel sind zwar Licht der Welt, aber
"ipse petra petro donavit ut petra sit!" (Der Fels selbst gab, daß
Petrus zum Fels werde!) (In Abdiam, in fine).
Jene Macht, die die Pforten der Hölle nicht überwinden können, ist die
der heiligen Kirche anvertraute Gabe der Unfehlbarkeit. Diese bezieht
sich auf alle Wahrheiten und eine jede allein, so wie sie in den
Quellen der Offenbarung enthalten sind, indirekt auf alles, was
notwendig ist, den Schatz des Glaubens aufrechtzuerhalten, d.h. auch
auf Wahrheiten der natürlichen Ordnung, soweit sie sachlich mit dem
Dogma verbunden sind. (Denz.2005).
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