GEWÖHNUNG UND ABFALL
von
Dr. Ambros Kocher, Solothurn
Durch öfteres Wiederholen einer Tat, sei sie geistiger oder
körperlicher Natur, wird die Ausführung mit der Zeit immer leichter.
Sie wird zur Gewöhnung, gewohnheitsmäßig. Die Tatsache ist ja bekannt
und wird in der Erziehung und Praxis berücksichtigt. Je mehr man sich
auf die Wiederholung einer bestimmten geistigen oder körperlichen
Arbeit verlegt, um so leichter und rascher wird sie vollzogen. Es heißt
nicht umsonst: repetitio est mater studiorum (Die Wiederholung ist die
Mutter des Lernens. ) Gewöhnung führt zur Gewohnheit, im guten wie im
bösen Sinne. Im ersten Falle bedarf es fortgesetzten Kampfes, im
zweiten Falle bedarf es nichts anderes, als sich gehen zu lassen, dem
verderbten Triebe die Fesseln zu lösen. Dort bedarf es beständiger
Selbstüberwindung und Kampfes gegen die bösen Neigungen, denn der
Mensch neigt unter der Last der Erbsünde zum Bösen. Mag bei einer
ersten bösen Tat, bei einem ersten bösen Gedanken sich das Gewissen
regen - mit dem fortgesetzten Begehen gotteswidriger Handlungen oder
stetem Verweilen bei bösen Gedanken schwächt sich die Stimme des
Gewissens.
Der Mensch überläßt sich dem natürlichen Abrutschen, gewöhnt sich daran
zu sündigen, ohne mehr vom Gewissen geplagt zu werden. Er gewöhnt sich
an den Zustand des seelischen Todes. Zur Erringung der Tugend aber, der
Gewöhnung daran, Gutes zu tun und zu denken, bedarf es fortwährender
Anstrengung, beständigen Kampfes gegen die verderbte Natur. Mit Hilfe
der Gnade und durch nie erlahmenden Kampf wird das Gute stets leichter
vollbracht werden, so weit, bis schließlich von einer Tugend gesprochen
werden kann: Durch Kampf Enthaltsamkeit gelangt der Mensch schließlich
zur Tugend, jener der Reinheit, der Gottesliebe usw.
Den schnellsten und bequemsten Weg zu Abfall und Sünde bietet die
Gewöhnung. Wenn wir von der Reformation des 16. Jahrhunderts hören, so
stellen wir uns vor, ein Volk sei von einem Tag auf den anderen
abgefallen, habe einen neuen Glauben angenommen. Dem ist gar nicht so.
Die Angelegenheit verlief langsam, schleichend, uneinheitlich im
Ausmaße und im Tempo, von Ort zu Ort, von Landschaft zu Landschaft
verschieden.
Das Bewußtseint von der Kirche und vom alten Glauben abzufallen,
bestand im Volke keineswegs. Es konnten sich noch jahrelang unter der
Menge, die sich über die Vorfälle keine Rechenschaft ablegte, noch
zahlreiche Altgläubige, freilich meist nur im Verborgenen, halten. Es
ist dies dem Umstande zuzuschreiben, daß Kommunikationsmittel,
Zeitungen, Radio usw. fehlten und die Umwälzungen sich bloß auf Grund
von Predigten und Gereden auf Straßen und Märkten vollziehen konnten.
Die Leute wurden im Glauben und in der Vorstellung bestärkt, es handle
sich um bibelgerechte Reformen, um Abschaffung von Mißbrauchen, um
Abstreifen äußerlicher Zutaten, die im Laufe der Zeiten hervorwuchsen
und die wahre kirchliche und evangelische Lehre "verdeckten", um eine
Wiederöffnung des Wortes Gottes auf Grund des wahren und unverfälschten
Evangeliums, um Befreiung des "freien" Gottesvolkes von ungerechter
Bevormundung, darum, dem heiligen Geiste im Volke unmittelbaren Zugang
zu verschaffen. So schluckte das Volk in mehr oder weniger gutem
Glauben, der Sinnlichkeit und dem Bauche ergeben wie heute, der Welt
und ihren Genüssen offen wie heute, nach bloß schwachem Zögern, was die
abgefallenen Priester und Theologen ihm als göttliche Medizin
eintröpfelten.
Man stieß sich wenig daran, den "Priester" statt am Altare am Tische zu
sehen, dem Volke Gottes zugewandt. Man gewöhnte sich daran - da ja über
alles Alte gelästert wurde - statt Latein Gebete in der Muttersprache
zu hören, sinnliche Lieder ertönen zu lassen, man gewöhnte sich daran,
Priester verheiratet zu sehen; man gewöhnte sich daran, statt des
Meßopfers ein Abendmahl zu feiern usw. Die Gewöhnung wurde beständig
durch Predigten der Pastoren gefördert. Sachte, ganz sachte schwand das
Mißtrauen und der Widerwillen gegenüber den Neuerungen. Das tägliche
Schauen und Hören, die jeden Sonntag wiederholten Lästerungen gegen den
"Götzendienst", all das nahm das Volk in Bann, derart, daß es mit der
Zeit vor allem, was katholisch roch Abscheu empfinden mußte. So begann
das Volk, das, was es vor Jahren anbetete und verehrte, heute
anzuspucken. So geriet Klerus und Volk auf sichere Art in die Apostasie.
Der Abfall in bezug auf Glauben und Sitte vollzog sich parallel. Es
blieben nur wenige, die sich der allgemeinen Tendenz entgegenstemmten,
im gleichen Verhältnis in Volk und Klerus. Die Getreuen mußten
Verdächtigungen, Verachtung, Benachteiligung und nicht selten den Tod
auf sich nehmen. Die Begriffe wurden verkehrt: Die Getreuen wurden als
Ketzer und Abtrünnige, die Abgefallenen als Rechtgläubige taxiert.
Den fruchtbaren Boden bildete wie heute der Wohlstand. Heute lebt
beinahe alles in guten Verhältnissen. Nicht so anno dazumal. So ist
bezeichnend, daß eben die reinen Handels- und Industriestädte, die
wohlhabenden Ackerbauern abfielen. Die schwer arbeitende
Bergbevölkerung aber hielt im großen und ganzen zur heiligen Kirche.
Der schreckliche Vorgang wiederholt sich heute. Man lernt nichts. Wenn
der große Haufen in Klerus und Volk heute den gleichen Weg beschreitet
wie ihre Vorfahren vor 450 Jahren, so gibt das keinen Anlaß zum
Staunen. Heute aber wird alles mitgerissen, der Klerus von zu oberst
bis zu unterst, Volk und Leute aller Stände, aller Wirtschaftskreise.
Es handelt sich um den "Allgemeinen Abfall".
Es wird heute, auch von manchen gut gebliebenen Priestern vergessen,
daß das Kriterium des Abfalles im heiligen Meßopfer liegt, dem Herzen
der Kirche. Wie Luther und Cranmer es ehemals taten, so tut es heute
Satan mit seinen Helfern: Sie zerstören die heilige Messe als Opfer,
und damit Glauben, Moral, Priestertum, Hierarchie und Ordensleben. Wenn
man zur Zeit der Reformation bis zur völligen Liquidierung der Kirche
50 Jahre rechnen mußte, so geschieht solches heute innert wenigen
Jahren. Es kam vor, daß noch 200 Jahre nach der Reformation in
"neugläubigen" Familien der Rosenkranz gebetet wurde... Die Gewöhnung
geht heute rasch vor sich, die Kommunikationsmittel hämmern heute
tagtäglich pausenlos aufs Volk ein. Das Volk, selber mehr auf Vergnügen
als auf die Übernatur bedacht, läßt es sich gefallen.
Sehen wir ab von jenen "Priestern", heute in Kravatte, die schon lange
auf die Gelegenheit des legalen Abfalles warteten, und betrachten wir
die mittelmäßigen bis besseren Priester: Manchem unter ihnen gab die
Tatsache zu denken, daß man die Gebete nach der heiligen Messe und das
Letzte Evangelium abschaffte. Nun, sie gewöhnten sich an den Verzicht.
Nur sehr wenige nahmen sich die Mühe, Verdacht zu schöpfen und den
Hintergründen nachzugehen. Aber auch sie übten Gehorsam (dem Teufel
gegenüber) und gewöhnten sich daran, die heilige Jungfrau, das Herz
Jesu und den heiligen Michael zu vergessen, ja sie fanden in der
Kürzung eine gewisse Befriedigung. Sie fanden sich nach anfänglichen
Bedenken zurecht, als man dazu überging, Epistel und Evangelium nur
mehr deutsch zu lesen: Gewöhnung durch Wiederholung. Anfänglich nur
widerwillig, betete man andere Texte, sogar die Präfation in der
Volkesprache. Wie mancher seufzte dabei, aber nur kurze Zeit, das Gift
wirkte stets. Man fand sich dazu bereit, den gefälschten Kanon zu
beten, auch auf deutsch; wieder seufzte man eine Zeitlang, vielleicht
etwas länger diesmal, doch durch das viele Praktizieren fand man sich
auch hier wieder zurecht. Scheußlich fanden sie die neue Art, das
"Abendmahl" am Tische dem Volke zugekehrt zu feiern. Doch wer gewöhnte
sich nicht daran! Man gewöhnte sich daran, nach anfänglichem Zögern,
den "Gläubigen" die heilige Kommunion in die Klauen zu geben.
Fühlte sich der Herr anfänglich in seinem Innern, das er als Gewissen
zu bezeichnen beliebte, angesichts der großen Gefahr von Sakrilegien,
etwas betroffen; er gewöhnte sich auch hier daran. Er geht mit dem
Ausspruche jenes Bischofs: "Christus hat das alles einkalkuliert!"
einig. So liest heute der Herr eine Abendmahlsmesse; das Bewußtsein,
daß es sich um ein Opfer handeln müßte, ist ihm untergegangen. Er
beruft sich wohl auf die häretische Definition des Papstes und beruhigt
sich. Ja, der Herr hat sich an alles gewöhnt. Was er heute seelenruhig
tut und vollzieht, darob wäre er vor Jahren in Ohnmacht gefallen. So
weit bringt es die Gewöhnung.
Herr Papst, Herr Kardinal, Herr Bischof und du, Priester, deine
Gewöhnung hat dich so weit gebracht, daß du morgen mitsamt häretischen
"Geistlichen" das Abendmahl feiern wirst. Du wirst nicht erst dann
abfallen, du bist es heute schon! Omne malum a clero. (Alles Schlechte
kommt vom Klerus!) Das Volk macht mit. Sinnlichkeit und Gewöhnung. Kein
Agere contra (kein Widerstand), keine Anstrengung, keine Überlegung.
Angst vor Konservativismus, vor Alleingang, vor dem schmalen Weg! Man
will nicht auffallen, eher Böses tun. Handkommuniönler werden nie mehr
"Bébé-Kommunion" betreiben. Sie werden sich nicht mehr ans Knieen
gewöhnen. Auch die Beichte ist überwunden. Auch an sakrilegische
Kommunion gewöhnt man sich leicht und rasch. Die Leute werden sich nie
mehr an ein echtes Meßopfer gewöhnen können.
Das Volk verliert den hergebrachten Glauben, die Ehrfurcht vor Gott,
die Scheu vor Sünde und Hölle, das Bedürfnis nach Sakralem und nach der
Übernatur - ja, nach einer ewigen Seligkeit überhaupt. Ein Volk, das
einmal den katholischen Glauben verloren hat, wird ihn nicht mehr
gewinnen (siehe Cortès). Einzelnen wird es auf Grund besonderer Gnade
und Opfer gelingen, den Weg zur Kirche zurückzufinden. Die Masse aber
wird hineingezogen in die neue, d.h. antichristliche Kirche.
Wozu es früher eines halben Jahrhunderts bedurfte, dazu braucht es heute nur wenige Jahre.
|