Enzyklika "Summi Pontificatus"
über die Not und die Irrtümer unserer Zeit
und deren Überwindung in Christus
vom 20. Oktober 1939
von
Papst Pius XII.
AN DIE EHRWÜRDIGEN BRÜDER, PATRIARCHEN PRIMATEN ERZBISCHÖFE BISCHÖFE
UND DIE ANDEREN OBERHIRTEN, DIE IN FRIEDEN UND GEMEINSCHAFT MIT DEM
APOSTOLISCHEN STUHLE LEBEN
EHRWÜRDIGE BRÜDER
GRUSS UND APOSTOLISCHEN SEGEN!
Einleitung
Der geheime Ratschluß des Herrn hat Uns ohne Unser Verdienst die Würde
und Bürde des höchsten Hirtenamtes in dem Jahre zufallen lassen, in
dessen Verlauf die vom verewigten Papste Leo XIII. um die
Jahrhundertwende und an der Schwelle eines Heiligen Jahres vollzogene
Weihe des Menschengeschlechts an das Heiligste Herz des Welterlösers
ihre vierzigste Wiederkehr feiern kann.
Mit welcher Freude, Ergriffenheit, innerster Zustimmung haben Wir
damals - ein junger Levit, der soeben sein Introibo ad altare Dei (Ps.
42,4) hatte sprechen dürfen - das Rundschreiben »Annum Sanctum« gleich
einer Stimme vom Himmel begrüßt! Mit welcher Inbrunst erschlossen wir
Unser Herz den Gesinnungen und Absichten dieses wahrhaft von der
Vorsehung gefügten Aktes eines Papstes, der die Höhen und Tiefen, die
offenen und verschwiegenen Nöte seiner Zeit beherrschend überblickt!
Wie sollten Wir daher nicht heute von heißem Dank gegen Gott erfüllt
sein, der das Erstlingsjahr Unseres Hohenpriesteramtes mit jener
bedeutungsreichen und teuren Erinnerung aus dem Erstlingsjahr Unseres
Priestertums zusammenfallen ließ? Wie sollten Wir nicht freudigen
Herzens die Gelegenheit ergreifen, um die Huldigung vor »dem König der
Könige und dem Herrn der Herrscher« (1 Tim., 6,15; Apoc. 19,16)
gleichsam zum Staffelgebet Unseres Pontifikats zu machen, im Geiste
Unseres unvergeßlichen Vorgängers und in getreuer Verwirklichung seiner
Ziele? Ja, in ihr sehen Wir Anfang und Zielpunkt Unseres oberhirtlichen
Wollens und Hoffens, Unseres Lehrens und Wirkens, Duldens und Leidens,
um alles ganz der Ausbreitung des Reiches Christi zu weihen.
Wenn wir die äußeren Geschehnisse und geistigen Wandlungen dieser
vierzig Jahre im Lichte der Ewigkeit überblicken, ihren Wert und Unwert
wägen, dann erschließt sich Unserem geistigen Auge immer mehr der
religiöse Sinn jener Welthuldigung an Christus den König. Sie wollte in
ihrer sinnbildlichen Kraft eine Mahnung sein, die Seelen läutern und
erheben, innerlich festigen und wehrhaft machen und damit zugleich in
seherischer Weisheit der Gesundung, der Würde, dem wahren Wohl jeder
menschlichen Gemeinschaft dienen. Immer deutlicher offenbart sie sich
als einer der großen Mahn- und Gnadenrufe Gottes an seine Kirche und
darüber hinaus an eine Welt, die der Erweckung und Wegweisung nur allzu
bedürftig war; an eine Welt, die dem Diesseitskult verfallen, in ihm
sich immer hemmungsloser verlor und in kaltem Nützlichkeitsstreben
aufging; an eine Menschheit, in der wachsende Schichten sich dem
Glauben an Christus und mehr noch der Anerkennung und Anwen-dung seines
Gesetzes entwöhnt hatten; an eine Weltauffassung, der die Liebes- und
Verzichtlehre der Bergpredigt, die göttliche Liebestat des Kreuzes ein
Ärgernis und eine Torheit dünkten. So wie einst der Vorläufer des Herrn
den Fragern und Suchern seiner Tage entgegenrief: »Seht das Lamm
Gottes!« (Jo.1, 29), um ihnen zu sagen, daß der Erwartete der Völker
(Apg. 2, 8) unerkannt in ihrer Mitte weile, so richtete hier der
Stellvertreter Christi an die Verneiner, die Zweifler, die
Unentschiedenen und Halben, die dem verherrlichten, in seiner Kirche
fortlebenden und wirkenden Erlöser die Gefolgschaft weigerten oder mit
dieser Gefolgschaft nicht letzten Ernst machten, sein hoheitsvolles und
beschwörendes »Seht da euren König!« (Jo. 19, 14).
Aus der Verbreitung und Vertiefung der Andacht zum göttlichen
Erlöserherzen, die in der Weihe des Menschengeschlechts an der
Jahrhundertwende und weiterhin in der Einführung des Christkönigsfestes
durch Unsern unmittelbaren Amtsvorgänger ihre erhebende Krönung fand,
ist unsagbarer Segen geflossen für ungezählte Seelen - ein starker
Lebensstrom, der die Stadt Gottes mit Freude erfüllt (Ps. 45, 5).
Welche Zeit bedürfte dieses Segens dringender als die gegenwärtige?
Welche Zeit leidet inmitten alles technischen und rein
zivilisatorischen Fortschrittes so sehr an seelischer Leere, an
abgrundtiefer innerer Armut? Kann man nicht auf dieses unser Weltalter
das entlarvende Wort der Geheimen Offenbarung anwenden: »Du sagst: Ich
bin reich, ich habe Ueberfluß und brauche nichts mehr. Und du weißt
nicht, daß du elend und erbärmlich bist, arm, blind und bloß« (Apoc. 3,
17)?
Ehrwürdige Brüder! Kann es Größeres, Dringenderes geben, als solcher
Zeit »den unergründlichen Reichtum Christi zu verkünden« (Eph. 3, 8)?
Kann es Edleres geben, als vor ihr, die so vielen trügerischen Fahnen
gefolgt ist und weiter folgt, das Königsbanner Christi zu entfalten, um
der siegreichen Standarte des Kreuzes die Gefolgschaft auch der
Abtrünnigen wieder zu gewinnen? Wessen Herz sollte nicht entbrennen in
hilfsbereitem Mitleid angesichts all der Brüder und Schwestern, die
durch Irrtum und Leidenschaft, durch Verhetzung und Vorurteile dem
Glauben an den wahren Gott, der Froh- und Heilsbotschaft Jesu Christ
entfremdet wurden? Welcher Streiter Christi - sei er Priester oder Laie
- wird sich nicht zu gesteigerter Wachsamkeit, zu entschlossener Abwehr
aufgerufen fühlen, wenn er die Front der Christusfeinde wachsen und
wachsen sieht? Muß er doch Zeuge sein, wie die Wortführer dieser
Richtungen die Lebenswahrheiten und Lebenswerte unseres christlichen
Gottesglaubens grundsätzlich ablehnen oder doch tatsächlich verdrängen,
wie sie die Tafeln der Gottesgebote mit frevelnder Hand zerbrechen, um
an ihre Stelle neue Gesetzestafeln zu setzen, aus denen der sittliche
Gehalt der Sinaioffenbarung, der Geist der Bergpredigt und des Kreuzes
verbannt sind. Wer sollte nicht mit wehem Schmerz gewahren, wie solche
Verirrung traurige Ernte unter denen hält, die in Tagen ruhiger
Geborgenheit sich zur Gefolgschaft Christi zählten, die aber leider
mehr Namens- als Tatchristen - in der Stunde der Bewährung, der
Anfechtung, des Leidens, der getarnten oder offenen Verfolgung eine
Beute des Kleinmuts, der Schwäche, des Zweifels, der Unentschlossenheit
werden, und, von Angst erfaßt wegen der Opfer, die sie um des
christlichen Glaubens willen bringen sollten, sich nicht ermannen
können, den Leidenskelch der Christustreue zu trinken?
In solcher Umwelt und Geisteslage, ehrwürdige Brüder, möge das
bevorstehende Christkönigsfest, zu dem Wir das vorliegende
Rundschreiben in euer aller Hand hoffen, ein Gnadentag, tiefgehende
Erneuerung und Erweckung im Sinne der Herrschaft Christi sein! Ein Tag,
an dem die Weltweihe an das göttliche Herz in besonders feierlicher
Weise vollzogen werden soll; an dem die Gläubigen aller Völker und
Nationen huldigend und sühnend sich um den Thron des Ewigen Königs
scharen, um Ihm und seinem Gesetz, das ein Gesetz der Wahrheit und
Liebe ist, den Schwur der Treue zu erneuern für Zeit und Ewigkeit. Es
sei ein Gnadentag für die Getreuen, wo das Feuer, das der Herr auf
diese Erde brachte, in ihren Herzen immer mehr zu heller, lauterer
Flamme sich entfache; ein Gnadentag für die Lauen, Müden und
Verdrossenen, an dem ihr kleinmütig gewordenes Herz im Geiste sich
wieder erneuert und ermannt; ein Gnadentag auch für die, welche
Christus noch nicht erkannt oder wieder verloren haben. Aus Millionen
gläubiger Herzen soll das Gebet zum Himmel steigen: »Das Licht, das
jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt« (Jo. 1, 9) möge
ihnen den Weg des Heiles erhellen, seine Gnade möge in dem Herzen der
Irrenden, das ja doch nicht zur Ruhe kommt, das Heimweh nach den ewigen
Gütern erwecken; aus diesem Heimweh möge eine Heimkehr werden zu dem,
der vom Schmerzensthron seines Kreuzes aus auch nach ihren Seelen
dürstet und kein brennenderes Verlangen trägt, als auch ihnen Weg,
Wahrheit und Leben (Jo. 14,6) zu sein.
Wenn Wir so diese Erstlings-Enzyklika Unseres Pontifikats
vertrauensvoll und hoffend unter das Zeichen Christi des Königs
stellen, fühlen Wir Uns der einmütigen und freudigen Zustimmung der
gesamten Herde des Herrn vollkommen gewiß. Die Erfahrungen, Sorgen und
Prüfungen der Gegenwart wecken, steigern und läutern wie selten zuvor
das katholische Gemeinschaftsgefühl. Sie haben in allen, die noch an
Gott und Christus glauben, das Bewußtsein erzeugt, von einer
gemeinsamen Gefahr gemeinsam bedroht zu sein. Dieser Geist katholischer
Verbundenheit, in der heutigen schweren Lage mächtig gesteigert,
bedeutet zugleich Sammlung und Selbstbehauptung, Entschlossenheit und
Siegeswillen. Sein Hauch war es, den Wir tröstlich und unvergeßlich
gerade in jenen Tagen verspürten, da Wir zagenden Schrittes, aber voll
Vertrauen auf Gott den Thron bestiegen, der durch den Tod Unseres
großen Vorgängers verwaist war.
Lebendig bleibt in Uns die Erinnerung an die unzähligen Beweise
kindlicher Treue zur Kirche und zum Stellvertreter Christi, die
anläßlich Unserer Wahl und Krönung Uns zuteil wurden und sich überaus
feinfühlend, warmherzig und ungezwungen äußerten. Darum ergreifen wir
gern diese günstige Gelegenheit, um euch, ehrwürdige Brüder, und allen,
die zur Herde des Herrn gehören, gerührten Herzens für diese Kundgebung
zu danken. Es war wie der große Volksentscheid einer
Friedensgemeinschaft, die dem Papsttum ihre Ehrfurcht, Liebe und
unerschütterliche Treue bekundete, der gottgewollten Sendung des
Hohenpriesters und Oberhirten ihre Anerkennung zollte. Denn alle jene
Kundgebungen wollten und konnten ja schließlich nicht Unsere arme
Person meinen, son-dern nur das höchste Amt, zu dem Uns der Herr
erhoben hat. Wohl haben wir von Anfang an die ganze Wucht der schweren
Verantwortung gefühlt, die Uns mit der höchsten Gewalt von der
göttlichen Vorsehung auferlegt ward; aber wir fühlten Uns gestärkt, als
Wir sehen durften, in welch großartiger und geradezu greifbarer Form
die unlösbare Einheit der katholischen Kirche sich kundtat, die sich um
den unerschütterlichen Felsen Petri nur um so fester zusammenschließt,
ihre Mauern und Vorwerke nur um so höher auftürmt, je mehr der Uebermut
der Feinde Christi sich steigert. Diese Weltkundgebung katholischer
Einheit und übernatürlich-brüderlicher Verbundenheit der Völker um den
gemeinsamen Vater mußte Uns um so hoffnungsreicher erscheinen, je
beunruhi-gender bereits damals die äußeren Verhältnisse und die
geistige Lage waren. Darum hat die Erin-nerung an jene Stunden Uns auch
getröstet, als Wir bereits in den ersten Monaten Unseres Ponti-fikats
die Mühen, Sorgen und Prüfungen erfahren mußten, mit denen die Braut
Christi ihren Weg über die Welt bestreut sieht.
Wir wollen auch nicht verschweigen, daß in Unserem Herzen ein starkes
Echo ergriffener Dankbarkeit durch die Glückwünsche derer geweckt
wurde, die zwar nicht zum sichtbaren Leib der katholischen Kirche
gehören, die aber bei dem Adel und der Aufrichtigkeit ihres Herzens auf
jene Gefühle nicht vergessen wollten, die sie in der Liebe zu Christi
Person oder im Glauben an Gott mit Uns verbinden. An sie alle ergeht
der Ausdruck Unserer Dankbarkeit. Wir empfehlen sie alle und jeden
einzelnen von ihnen dem Schutz und der Führung des Herrn, und Wir
versichern feierlich, daß nur ein Gedanke Unser Herz leitet: das
Beispiel des guten Hirten nachzuahmen, um alle zur wahren
Glückseligkeit zu führen, »damit sie das Leben haben und es in Fülle
besitzen« (Jo. 10,10).
Vor allem aber drängt es Uns, Unseren tiefempfundenen Dank
auszusprechen für die Erweise ehrerbietiger Huldigung, die Uns von
Herrschern, Staatsoberhäuptern und öffentlichen Autoritäten jener
Nationen zugekommen sind, mit denen der Heilige Stuhl freundschaftliche
Beziehungen unterhält. Besonders freudig bewegt es Unser Herz, daß Wir
in diesem Unserem ersten Rund-schreiben an die Weltkirche zu jenen
Staaten auch das geliebte Italien rechnen dürfen, in dem als in einem
fruchtbaren Garten die Apostelfürsten den Glauben gepflanzt haben. Dank
den Lateranverträgen, dem Werk der Vorsehung, nimmt es nunmehr einen
Ehrenplatz in der Reihe der beim Apostolischen Stuhle amtlich
vertretenen Länder ein. Gleich der Morgenröte friedvoller und
brüderlicher Eintracht im Heiligtum wie im bürgerlichen Leben ging von
diesen Verträgen die Pax Christi Italiae reddita (d.i. der Italien
wiedergeschenkte Friede Christi) aus. Das ist Unser Gebet zum Herrn,
daß dieser Friede wie heiteres Himmelsblau das Gemüt des italienischen
Volkes durchziehe, belebe, weite und machtvoll stärke: dieses Volk: das
Uns so nahe steht, in dessen Mitte Wir denselben Lebensodem atmen. In
zuversichtlichem Hoffen flehen Wir zu Gott, daß die Unserem Vorgänger
und Uns so teure Nation, getreu ihrer ruhmreichen katholischen
Vergangenheit, unter des großen Gottes mächtigem Schutz immer mehr die
Wahrheit des Psalmwortes an sich erfahre: »Glückselig das Volk, dessen
Gott der Herr« (Ps. 43,15). Die glückverheißende neue rechtliche und
religiöse Lage, die jenes Werk für Italien und den ganzen katholischen
Erdkreis geschaffen und besiegelt hat - und es soll in der Geschichte
seine unverkilgbaren Spuren zurücklassen - erschien Uns nie so gewaltig
und einheitsschaffend als in jenem Augenblick, da Wir von der hohen
Loggia der Vatikan-basilika zum ersten Male Unsere Arme ausbreiteten
und Unsere Segenshand erhoben über Rom, den Sitz des Papsttums und
Unsere vielgeliebte Geburtsstadt, über das mit der Kirche versöhnte
Italien und über die Völker der ganzen Welt.
I. Die Not unserer Zeit und Gottes Gnadenruf
Wir sind Stellvertreter desjenigen, der in entscheidender Stunde vor
dem Vertreter der höchsten irdischen Macht von damals das große Wort
sprach: »Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich der
Wahrheit Zeugnis gebe. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine
Stimme« (Joh., 18,37). Als solcher erachten Wir es gerade auch in
unseren Tagen als besondere Pflicht Unseres Amtes, mit apostolischem
Freimut der Wahrheit Zeugnis zu geben. Diese Pflicht umfaßt notwendig
die Darlegung und Widerlegung der menschlichen Irrtümer und Fehlungen,
die erkannt werden müssen, wenn sie behandelt und geheilt werden
sollen: »Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch
frei machen« (Joh., 8,32). In der Erfüllung dieser Unserer Sendung
werden Wir Uns von irdischen Rücksichten nicht beeinflussen lassen;
weder Mißtrauen und Wide-spruch, Ablehnung und Unverständnis, noch die
Furcht, mißverstanden oder falsch ausgelegt zu werden, kann Uns von ihr
abhalten. Wir werden jedoch stets handeln, beseelt von jener
väterlichen Liebe, die selber mit den Schmerzen der Kinder leidend,
ihnen das Heilmittel angibt, und Wir wollen Uns immerfort bemühen, das
göttliche Vorbild aller Hirten nachzuahmen, den guten Hirten Jesus, der
Licht ist zugleich und Liebe: »Die Wahrheit tätigen in Liebe« (Eph.,
4,15).
Am Eingang des Weges, der zur geistigen und sittlichen Not unserer Tage
führt, steht der todbringende Versuch von nicht wenigen, Christus zu
entthronen, die Verwerfung des Gesetzes der Wahrheit, das er
verkündete, des Gesetzes der Liebe, die der lebenspendende Odem seines
Reiches ist.
Die Königsrechte Christi wieder anerkennen, zurückfinden zum Gesetz
seiner Wahrheit und seiner Liebe, das ist der einzige Weg der Rettung
für den Einzelmenschen und die Gemeinschaft.
In dem Augenblick, ehrwürdige Brüder, wo Wir diese Zeilen schreiben,
erreicht Uns die Schrek-kenskunde, daß das entsetzliche Unwetter des
Krieges, das Wir mit Unserem ganzen Einsatz vergeblich zu beschwören
suchten, doch ausgebrochen ist. Die Feder will Uns entsinken, wenn Wir
an das abgrundtiefe Leid unzähliger Menschen denken, denen gestern noch
am heimischen Herd der Sonnenschein eines bescheidenen Glückes
leuchtete. Unser Vaterherz bangt in tiefer Betrübnis, wenn Wir ahnend
vorausschauen, was alles aus der Drachensaat der Gewalt und des Hasses
hervorwachsen mag, für die heute das Schwert die blutigen Furchen
zieht. Aber gerade inmitten dieser apokalyptischen Vorausschau
gegenwärtigen und zukünftigen Unheils erachten Wir es als Unsere
Pflicht, die Augen und Herzen aller, in denen noch ein Funke guten
Willens glimmt, mit wachsender Eindringlichkeit hinzulenken auf den
Einzigen, von dem der Welt das Heil kommt - auf den Einzigen, dessen
allmächtige und gütige Hand auch diesem Sturm Einhalt gebieten kann -
auf den Einzigen, aus dessen Wahrheit und Liebe dieser in Irrtum und
Eigensucht, in Streit und Haß verkrampften Menschheit die Erkenntnisse
aufleuchten und die Gesinnungen sich entzünden können, die für eine
Neuordnung der Welt im Geiste des Königtums Christi notwendige
Voraussetzung sind.
Vielleicht - Gott der Herr gebe es - ist diese Stunde höchster Not auch
eine Stunde des Erkenntnis- und Gesinnungswandels für viele, die bisher
in blindem Vertrauen die Wege zeitgängiger Massenirrtümer wandelten,
ohne zu ahnen, wie hohl und brüchig der Boden war, auf dem sie standen.
Vielleicht werden viele, die für die Erzieherweisheit und die
Erziehersorgen der Kirche kein Auge hatten, heute die kirchlichen
Mahnungen begreifen, die sie in der Selbstsicherheit früherer Tage
nicht beachteten. Die Not der Gegenwart ist eine Rechtfertigung des
Christentums, wie sie erschütternder nicht gedacht werden kann. Auf
einen gigantischen Gipfelpunkt widerchristlicher Irrtümer und
Bewegungen sind aus ihnen unsagbar bittere Früchte gereift, und diese
sprechen ein Verdammungsurteil, dessen Wucht jede bloß theoretische
Widerlegung übertrifft.
Stunden so peinvoller Ernüchterung und Enttäuschung sind oft Stunden
der Gnade - ein Vorübergehen des Herrn (cf. Exod. 12,11), wo auf des
Heilands Wort: »Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an« (Apoc.
3,20) sich Türen öffnen, die ihm sonst verschlossen waren. Gott weiß,
mit welch verstehender Liebe, mit welch heiliger Hirtenfreude sich
Unser Herz denen zuwendet, denen aus derart leidvoller Erkenntnis das
heilsuchende und heilbringende Verlangen nach der Wahrheit Christi,
nach der Gerechtigkeit und dem Frieden Christi erwächst. Und auch für
die, denen solche Stunde der Erkenntnis noch nicht geschlagen, weiß
Unser Herz nichts als Liebe und Unser Mund nichts als das Gebet zum
Vater der Erleuchtung, Er möge ihrer Christusfremdheit oder gar
Christusfeindschaft ein Damaskuslicht aufleuchten lassen, wie es einst
Saulus zum Paulus wandelte und das so oft gerade in den trübsten Tagen
der Kirche seine geheimnisvolle Kraft erwiesen hat.
Eine zusammenfassende lehramtliche Stellungnahme zu den Irrtümern der
Gegenwart mag einem späteren, von den Bedrängnissen des äußeren
Geschehens weniger beunruhigten Zeitpunkt vorbehalten bleiben; jetzt
jedenfalls beschränken Wir Uns auf einige grundlegende Hinweise.
II. Verkennung der göttlichen Ordnung
Die gegenwärtige Zeit, ehrwürdige Brüder, hat zu den falschen Lehren
der Vergangenheit noch neue Irrtümer gehäuft bis zu einem Grade, daß
sie zu einem Ende mit Schrecken führen mußten. Vor allem liegt die
eigentliche Wurzel der Uebel, die in der modernen Gesellschaft zu
beklagen sind, in der Leugnung und Ablehnung eines allgemein gültigen
Sittengesetzes für das Leben des einzelnen und das Gesellschaftsleben,
wie für die Beziehungen der Staaten untereinander: es herrscht heute
weithin Verkennung oder geradezu Vergessen eines natürlichen
Sittengesetzes.
Dieses natürliche Gesetz beruht auf Gott als seinem Fundament. Er ist
der allmächtige Schöpfer und Vater aller, ihr höchster und unabhängiger
Gesetzgeber, der allwissende und gerechte Vergelter der menschlichen
Handlungen. Wo Gott geleugnet wird, da wird die Grundlage der
Sittlichkeit erschüttert; die Stimme der Natur wird geschwächt, wenn
nicht erstickt, jene Stimme, die auch den Ungebildetsten und selbst
noch den unzivilisierten Wilden lehrt, was gut und was böse ist,
erlaubt und unerlaubt, jene Stimme, die Verantwortlichkeit für die
eigenen Taten vor einem höchsten Richter predigt.
Wenn man fragt, wie es zur Leugnung der Grundlage der Sittlichkeit
gekommen ist, so lautet die Antwort: es hat damit begonnen, daß man
sich von der Lehre Christi entfernte, deren Bewahrer und Lehrer der
Stuhl Petri ist. Vor Zeiten hat diese Lehre Europa seinen geistigen
Zusammenhalt gegeben, und Europa, erzogen und veredelt durch das Kreuz,
hat einen solchen Aufschwung genommen, daß es Erzieher anderer Völker
und anderer Erdteile werden konnte. Durch ihre Entfernung von dem
unfehlbaren Lehramt der Kirche aber sind nicht wenige getrennte Brüder
so weit gekommen, daß sie selbst das Grunddogma des Christentums, die
Gottheit des Erlösers, geleugnet und so den allgemeinen
Auflösungsprozeß beschleunigt haben.
Als Jesus gekreuzigt wurde, »brach eine Finsternis über das ganze Land
herein«, wie der hl. Bericht erzählt (Mt. 27,45); ein
schreckenerregendes Sinnbild dessen, was geschah und was geistigerweise
dauernd wieder geschieht, wo immer der Unglaube in Blindheit und
Selbstüberheblichkeit Christus aus dem Leben der Gegenwart, besonders
aus dem öffentlichen Leben, tatsächlich ausgeschlossen und mit dem
Glauben an Christus auch den Glauben an Gott verdrängt hat. Als Folge
davon kamen die sittlichen Werte, nach denen in früheren Zeiten das
private und öffentliche Tun beurteilt wurde, gleichsam außer Kurs;
Mensch, Familie und Staat wurden dem wohltuenden und erneuernden
Einfluß des Gottesgedankens und der kirchlichen Lehre durch die immer
rascher fortschreitende, hochgepriesene Laisierung des
gesellschaftlichen Lebens entzogen; und nun hat diese auch in Gegenden,
wo viele Jahrhunderte hindurch die Strahlen der christlichen Kultur
leuchteten, immer klarer, immer deutlicher, immer mehr beängstigende
Anzeichen eines verderbten und verderblichen Heldentums wieder
aufkommen lassen: »Finsternis brach herein, als sie Jesus gekreuzigt
hatten« (Römisches Brevier, Karfreitag, Viertes Responsorium).
Viele waren vielleicht bei der Trennung von der Lehre Christi sich
nicht voll bewußt, daß ein luftiges Truggebilde schillernder
Redensarten sie betört hatte, von Redensarten, die eine derartige
Trennung als Befreiung von der Knechtschaft ausgaben, in der man bisher
zurückgehalten worden sei; weder sahen sie voraus, welch bittere Folgen
es habe, den traurigen Tausch der Wahrheit, die frei macht, gegen den
Irrtum, der knechtet, zu vollziehen; noch bedachten sie, daß, wer auf
das unendlich weise und väterliche Gesetz Gottes und auf die einigende
und erhebende Lehre von der Liebe Christi verzichtete, der Willkür
einer armseligen, wandelbaren Menschenweisheit sich verschrieb: man
redete von Fortschritt, und man machte Rückschritte; von Aufschwung,
und man sank ab; von Aufstieg zur Mündigkeit, und man versklavte; man
merkte nicht, wie vergeblich alles menschliche Bemühen ist, das Gesetz
Christi durch irgend etwas ihm Gleiches zu ersetzen: »Sie verfielen mit
ihren Gedanken auf Nichtigkeiten« (Röm. 1,21).
Der Glaube an Gott und an Jesus Christus wurde geschwächt, das Licht
der sittlichen Grundsätze wurde in den Seelen verdunkelt, und so war
die einzige und unersetzliche Grundlage jener Festigkeit und Ruhe,
jener inneren und äußeren, privaten und öffentlichen Ordnung
untergraben, die allein die Wohlfahrt der Staaten hervorbringen und
bewahren kann.
Gewiß, auch als durch gleiche, der christlichen Lehrverkündigung
entnommene Ideale Europa brüderlich verbunden war, fehlten
Streitigkeiten, Wirren und Kriege nicht, die es verwüsteten; aber wohl
niemals wurde so fühlbar wie heute die verzagte Ratlosigkeit verspürt,
die über der Möglichkeit eines Ausgleichs liegt; denn damals war eben
jenes Bewußtsein von Recht und Unrecht, von Erlaubtem und Unerlaubtem
lebendig, das Vereinbarungen erleichtert, während es den Ausbruch der
Leidenschaften zügelte und den Weg zu einer Verständigung in Ehren
offen läßt. Umgekehrt kommen heutzutage die Zwistigkeiten nicht nur vom
Ansturm sich empörender Leidenschaften, sondern aus einer tiefen Krise
des Geistigen, welche die gesunden Grundsätze der privaten und
öffentlichen Gesittung verkehrt hat.
Unter den vielfältigen Irrtümern, die aus dem Giftquell des religiösen
und sittlichen Agnostizismus hervorbrechen, wollen Wir zwei besonders
eurer Beachtung unterbreiten, ehrwürdige Brüder, und zwar Irrtümer, die
das friedliche Zusammenleben der Völker geradezu unmöglich oder
wenigstens überaus schwankend und unsicher machen.
III. Die gottgeschaffene Einheit des Menschengeschlechtes
Der erste dieser gefährlichen Irrtümer, der heute weitverbreitet ist,
liegt darin, daß man das Gesetz der Solidarität und Liebe zwischen den
Menschen in Vergessenheit geraten läßt, jenes Gesetz, das sowohl durch
den gemeinsamen Ursprung und durch die nämliche Vernunftnatur aller
Menschen, gleichviel welchen Volkes, vorgeschrieben und auferlegt ist,
wie auch durch das Opfer der Erlösung, das Jesus Christus am Altar des
Kreuzes seinem himmlischen Vater für die sündige Menschheit darbrachte.
In der Tat erzählt die erste Seite der Schrift mit großartiger
Einfachheit, wie Gott als Krönung seines Schöpfungswerkes nach seinem
Bild und Gleichnis den Menschen machte (vgl. Gen, 1, 26-27); und ebenso
berichtet sie, wie Er ihn mit übernatürlichen Gaben und Vergünstigungen
bereicherte und ihn so für ein ewiges und unaussprechliches Glück
bestimmte. Sie zeigt weiter, wie von dem ersten Paar die andern
Menschen herstammen, und dann läßt sie mit unübertroffener
Ausdruckskraft der Sprache deren Teilung in mannigfache Gruppen und die
Verstreuung in die verschiedenen Teile der Welt folgen. Auch als sie
sich von ihrem Schöpfer abwandten, hörte Gott nicht auf, sie als Söhne
zu betrachten, die eines Tages nach seinem allbarmherzigen Plan noch
einmal wieder in seiner Freundschaft vereint sein sollten (vgl. Gen.
12,3).
Der Völkerapostel macht sich zum Künder dieser Wahrheit, welche die
Menschen in einer großen Familie brüderlich eint, wenn er der
griechischen Welt verkündet, daß Gott »aus einem einzigen Stamm alle
Geschlechter der Menschen hervorgehen ließ, damit sie die ganze
Oberfläche der Erde bewohnten, und daß er die Zeit ihres Daseins und
die Grenzen ihrer Wohnsitze bestimmte, auf daß sie den Herrn suchten«
(Apg. 17,26).
Wunderbare Schau, die uns das Menschengeschlecht sehen läßt in der
Einheit eines gemeinsamen Ursprungs in Gott: »Ein Gott und Vater aller,
der da ist über allen, durch alles und in uns allen« (Eph. 4,6); in der
Einheit der Natur, bei allen gleich gefügt aus stofflichem Leib und
geistiger, unsterblicher Seele; in der Einheit des unmittelbaren Ziels
und seiner Aufgabe in der Welt; in der Einheit der Siedlung auf dem
Erdboden, dessen Güter zu nutzen alle Menschen naturrechtlich befugt
sind, um so ihr Leben zu erhalten und zu entwickeln; in der Einheit des
übernatürlichen Endziels, Gottes selbst, nach dem zu streben alle
verpflichtet sind; in der Einheit der Mittel, um dieses Ziel zu
erreichen.
Der gleiche Apostel zeigt uns die Menschheit in der Einheit der
Beziehungen zum Sohne Gottes, dem Ebenbild des unsichtbaren Gottes, in
dem alle Dinge geschaffen sind: »In ihm ist alles erschaffen« (Kol.,
1,16); in der Einheit der für alle durch Christus gewirkten Erlösung,
durch Christus, der die zerbrochene ursprüngliche Freundschaft mit Gott
durch sein heiliges und bitterstes Leiden wieder herstellte, indem er
sich zum Mittler zwischen Gott und den Menschen machte: »Denn es gibt
nur einen Gott und einen Mittler zwischen Gott und den Menschen: den
Menschen Christus Jesus« (1 Tim. 2,5).
Eben dieser göttliche Heils- und Friedensmittler wollte nun jene
Freundschaft zwischen Gott und der Menschheit noch inniger gestalten:
daher ließ er in der weihevollen Stille des Abendmahlsaals, bevor er
das Kreuzopfer vollbrachte, von seinen Gotteslippen Worte kommen, die
mit hellem Klang durch die Jahrhunderte widerhallten und so Heldentaten
der Liebe inmitten einer liebeleeren und haßzerrissenen Welt weckten:
»Dies ist mein Gebot: Liebet einander, wie ich euch geliebt habe«
(Joh.15,12).
Es handelt sich hier um übernatürliche Wahrheiten, die tiefe
Grundmauern und starke Bande der Einheit legen, einer Einheit, die
vervollkommnet wird durch die Liebe zu Gott und zum göttlichen Erlöser,
von dem alle das Heil empfangen »zum Aufbau des Leibes Christi, bis wir
alle zur Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes
gelangen, zur Mannesreife, zum Vollmaß des Alters Christi« (Eph. 4,
12-13).
Im Lichte dieser rechtlichen und tatsächlichen Einheit des Ganzen der
Menschheit fügen sich die Einzelnen nicht bindungslos aneinander wie
Sandkörner; vielmehr einen sie sich in organischen, harmonischen und
wechselseitigen Beziehungen (die mit dem Wandel der Zeiten
verschiedenartige Formen annehmen können) entsprechend ihrem
natürlichen und übernatürlichen Ziel und Antrieb.
Daß die Völker sich entfalten und sich unterscheiden gemäß der
Verschiedenheit von Lebens- und Kulturbedingungen, ist nicht auf
Spaltung der Einheit des Menschengeschlechts hingerichtet; die Völker
sollen diese vielmehr durch die Mitteilung ihrer besonderen Gaben und
durch den gegenseitigen Austausch ihrer Werte reicher und schöner
gestalten; dies kann aber nur geschehen und im ganzen wirksam sein,
wenn eine wechselseitige Liebe und eine lebendig gefühlte Zuneigung
alle Kinder desselben Vaters und alle in demselben Gottesblut Erlösten
eint.
Die Kirche bewahrt mit größter Treue die erzieherische Weisheit Gottes.
Daher kann sie nicht daran denken und denkt nicht daran, die für jedes
Volk eigentümlichen Sonderwerte anzutasten oder minder zu achten, die
von jedem mit empfindsamer Anhänglichkeit und mit begreiflichem Stolz
gehegt und als kostbares Vätergut betrachtet werden. Das Ziel der
Kirche ist die Einheit im Übernatürlichen und in umfassender Liebe
durch Gesinnung und Tat, nicht die Einerleiheit, die nur äußerlich und
oberflächlich ist und gerade darum kraftlos macht. Die Kirche begrüßt
freudig und begleitet mit mütterlichem Wohlwollen jede Einstellung und
Bemühung für eine verständige und geordnete Entfaltung solcher
eigengearteter Kräfte und Strebungen, die im innersten Eigensein jedes
Volkstums wurzeln; Voraussetzung dabei ist nur, daß sie mit den
Verpflichtungen nicht in Widerspruch stehen, die sich der Menschheit
durch ihren einheitlichen Ursprung und durch die Einheitlichkeit ihrer
gemeinsamen Aufgaben auferlegen. Diese grundsätzliche Regel ist der
Leitstern im allumfassenden Apostolat der Kirche; wie ihr Wirken auf
dem Missionsfeld nicht nur einmal zeigt. Ungemein viele Untersuchungen
und bahnbrechende Forschungen sind das mit Opfern, Hingabe und Liebe
gewirkte Werk der Glaubensboten aller Zeiten, Untersuchungen und
Forschungen, die darauf abzielten, das innere Verständnis und die
Achtung vor verschiedenartigstem Kulturgut zu erleichtern und seine
geistigen Werte zum Besten einer lebendigen und lebensnahen
Verkündigung der Frohbotschaft Christi zu heben. Jedwede Gebräuche und
Gewohnheiten, die nicht unlösbar mit religiösem Irrtum verknüpft sind,
werden stets mit Wohlwollen geprüft und wenn immer möglich - geschützt
und gefördert. Gerade Unser unmittelbarer Vorgänger heiligen und
verehrungswürdigen Andenkens wandte derartige Richtlinien auf eine
besonders heikle Angelegenheit an und traf großzügige Entscheidungen,
die seinem Weitblick und seinem glühenden apostolischen Eifer ein
hochragendes Denkmal setzen. Es ist nicht nötig, ehrwürdige Brüder, zu
erklären, daß Wir selbst ohne Zögern denselben Weg gehen wollen. Alle
ohne Ausnahme, die sich der Kirche anschließen, welcher Herkunft und
welcher Sprache sie auch sind, sollen wissen, daß sie im Hause des
Herrn, wo das Gesetz und der Friede Christi herrschen, gleiche
Kindesrechte besitzen. Im Einklang mit diesen Grundsätzen der
Gleichheit verwendet die Kirche alle Mühe auf die Bildung eines
hochstehenden einheimischen Klerus und auf die allmähliche Erweiterung
der Reihen einheimischer Bischöfe. Gerade um diesen Unseren Absichten
einen äußeren Ausdruck zu geben, wählten Wir das bevorstehende
Christkönigsfest, um am Grabe des Apostelfürsten zwölf Vertreter der
verschiedensten Völker und Stämme zur bischöflichen Würde zu erheben.
Mitten in der Zerrissenheit und Gegensätzlichkeit, die die
Menschheitsfamilie spalten, vermag diese feierliche Handlung allen
Unseren auf der weiten Welt verstreuten Kindern laut zu künden, daß
Geist, Lehre und Tun der Kirche nicht abweichen können von der Predigt
des Völkerapostels: »Zieht den neuen Menschen an, der das Bild des
Schöpfers trägt und zu ganz neuer Erkenntnis führt. Da heißt es nicht
mehr Heide oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, Barbare oder
Szythe, Sklave oder Freier: Christus ist alles und in allen« (Kol.
3,10-11).
Man fürchte nicht, daß das Bewußtsein des umfassenden brüderlichen
Bandes, wie es die christliche Lehre nährt, und die ihr entsprechende
Gesinnung in Gegensatz zur Anhänglichkeit an das Erbgut und an die
Größe des eigenen Vaterlandes treten; man fürchte ebensowenig, daß dies
alles sich hindernd in den Weg stellt, wenn es um die Förderung des
Wohls und der berechtigten Anliegen der eigenen Heimat geht. Dieselbe
Lehre zeigt nämlich, daß es bei der Uebung der Liebe eine von Gott
gefügte Ordnung gibt, und nach dieser muß man mit gesteigerter Liebe
und mit Vorzug diejenigen umfassen und bedenken, die besonders eng mit
einem verbunden sind. Auch der göttliche Meister zeigte durch sein
Beispiel, daß er der Heimat und dem Vaterland in besonderer Weise
zugetan war; er weinte ob der drohenden Verwüstung der Heiligen Stadt.
Aber die begründete und rechte Liebe zum eigenen Vaterland darf nicht
blind machen für die Weltweite der christlichen Liebe, die auch die
andern und ihr Wohl im befriedenden Licht der Liebe sehen lehrt.
Wunderbar ist diese Lehre von der Liebe und vom Frieden. In hohem Maße
hat sie zum bürgerlichen und religiösen Fortschritt der Menschheit
beigetragen.
Denn die von übernatürlicher Liebe beseelten Boten dieser Lehre
begnügten sich nicht damit, das Land urbar zu machen und Krankheiten zu
heilen; darüber hinaus wurde von ihnen der Boden eigentlichen Lebens
angereichert, geprägt und emporentwickelt zu göttlichen Höhen; man nahm
den Aufschwung zu den Gipfeln der Heiligkeit, wo alles und jedes im
Lichte Gottes gesehen wird. Denkmäler und Heiligtümer erhoben sich, die
bezeugen, zu welchen Geisteshöhen der christliche Gedanke den Aufstieg
bahnt. Vor allem aber machten sie aus den Menschen, aus den
Ungebildeten, aus den Starken und den Schwachen, lebendige Tempel
Gottes und Rebzweige am selben Weinstock, an Christus. Man überlieferte
den künftigen Geschlechtern die Schätze der Kunst und Wissenschaft des
Altertums; aber vor alldem: man ließ sie teilhaben an jenem
unaussprechlichen Geschenk der ewigen Weisheit, das die Menschen durch
ein Band übernatürlicher Zusammengehörigkeit zu Brüdern vereint.
IV. Das sittliche Gesetz als Grundlage des menschlichen Rechtes
Ehrwürdige Brüder, das Außerachtlassen des Gesetzes der allumfassenden
Liebe, die allein den Frieden sichern, den Haß ersticken und den Geist
bösartigen Zwistes mäßigen kann, muß die Quelle schwerster Schäden im
friedvollen Zusammenleben der Völker bilden. Nicht weniger unheilvoll
aber erweisen sich für das Wohl der Nationen und den Fortschritt der
großen menschlichen Gesellschaft, die in ihrem Schoß alle Völker
umspannt, jene falschen Gedankengänge, nach denen die Staatsgewalt frei
und unabhängig vom höchsten Wesen dastehen soll; und doch ist Gott die
erste Ursache und das letzte Ziel des Einzelnen wie der Gesellschaft.
Die Staatsgewalt soll keine Bindung an ein höheres Gesetz anerkennen,
das aus Gott als der ersten Quelle erfließen würde; vielmehr billigt
man ihr unbegrenzte Handlungsfreiheit zu und überläßt sie damit dem
unsteten Wellengang der Willkür und ausschließlich den Forderungen
schwankender geschichtlicher Ansprüche und zeitbedingter Interessen.
Damit verneint man die Herrscherhoheit Gottes und die verpflichtende
Kraft seines Gesetzes. Mit unerbitterlicher Folgerichtigkeit greift
dann die staatliche Gewalt nach jener unumschränkten
Selbstherrlichkeit, die doch nur dem Schöpfer zusteht; sie sucht sich
an die Stelle des Allmächtigen zu setzen, erhebt den Staat oder die
Masse zum letzten Ziel des Lebens, zur obersten Richtschnur der
sittlichen und rechtlichen Ordnung, und verbietet damit jeden Appell an
die Grundsätze der natürlichen Vernunft und des christlichen Gewissens.
Wir wollen nicht verkennen, daß abwegige Grundsätze sich
glücklicherweise nicht immer voll auswirken, besonders dann nicht, wenn
jahrhundertealtes christliches Herkommen, von dem die Völker gelebt
haben, noch tief, wenn auch nur unbewußt, in den Herzen verwurzelt ist.
Dennoch darf man nicht vergessen, daß jede Richtschnur des sozialen
Lebens wesenhaft ungenügend ist und versagen muß, wenn sie nur auf rein
menschlichen Grundmauern ruht, nur von irdischen Beweggründen sich
leiten läßt und ihre ganze Kraft auf die Zwangsmittel einer rein
äußeren Gewalt stützen will.
Wo die Abhängigkeit des menschlichen Rechtes vom göttlichen Recht
geleugnet wird, wo man sich nur an die schwankende Idee einer rein
irdischen Autorität wendet und eine Eigengesetzlichkeit fordert, die
einzig auf dem Standpunkt der Nützlichkeitsmoral steht, dort fehlt
einem solchen rein menschlichen Recht gerade bei seinen schwersten
Anforderungen die sittliche Kraft - und das nicht ohne Grund - denn die
sittliche Bindegewalt ist die wesentliche Voraussetzung dafür, daß ein
Recht Anerkennung finden und auch Opfer fordern kann.
Es ist wohl richtig, daß eine Macht, die auf so schwachen und
schwankenden Grundlagen ruht, manchmal unter gegebenen Umständen äußere
Erfolge erreicht, die weniger tiefblickende Beobachter in Erstaunen
setzen können; aber es kommt dann der Augenblick, wo das
unausweichliche Gesetz doch triumphiert, das jedes Werk trifft, das
aufgebaut ist auf dem verborgenen oder offenen Mißverhältnis zwischen
der Größe des materiellen, äußeren Erfolges und der Schwäche seines
inneren Wertes und sittlichen Fundaments. Und dieses Mißverhältnis
besteht immer dann, wenn die Staatsgewalt die Oberhoheit des obersten
Gesetzgebers verkennt oder verleugnet; Er hat den Staatshäuptern die
Gewalt gegeben, und Er hat ihrer Gewalt die Grenzen bezeichnet und
gezogen.
Die staatliche Herrschaftsgewalt ist vom Schöpfer gewollt - das hat mit
hoher Weisheit Unser großer Vorgänger Leo XIII. in seinem Rundschreiben
Immortale Dei dargelegt. Sie soll das gemeinschaftliche Leben nach den
Richtlinien einer in ihren allgemeinen Grundgesetzen unveränderlichen
Ordnung regeln, sie soll der menschlichen Persönlichkeit in der
natürlichen Ordnung die Erreichung der leiblichen, geistigen und
sittlichen Vollkommenheit erleichtern und sie schließlich fördern im
Streben nach ihrem übernatürlichen Ziel.
Es ist also das ausgezeichnete Vorrecht und die hohe Sendung des
Staates, die private Tätigkeit der Einzelnen im nationalen Leben zu
überwachen, zu fördern und zu ordnen, um sie einheitlich auf das
allgemeine Wohl auszurichten. Das letztere kann jedoch nicht nach
Willkür bestimmt werden, noch darf es seine Norm in erster Linie von
der materiellen Wohlfahrt der Gesellschaft empfangen; es erhält sie
vielmehr von der harmonischen Entwicklung und natürlichen
Vervollkommnung des Menschen, dem die Gemeinschaft vom Schöpfer selbst
als Mittel zugeordnet ist.
Den Staat als Endziel betrachten wollen, dem einfach alles
unterzuordnen und zuzuweisen sei, würde schließlich notwendig einer
wahren und dauerhaften Wohlfahrt der Völker schaden. Und das in jedem
Fall, mag man dem Staat eine derart unbegrenzte Oberhoheit zugestehen
als dem Bevollmächtigen der Nation, des Volkes oder auch einer
einzelnen sozialen Klasse, oder mag der Staat selbst, unabhängig von
jedweder Beauftragung, für sich als den unumschränkten Herrn ein
derartiges Recht beanspruchen.
In der Tat, die Privatinitiative hat ihre innere, empfindliche und
verwickelte Gesetzmäßigkeit, die das Verwirklichen der ihr
eigentümlichen Ziele sicherstellt. Wenn nun der Staat diese
Privatinitiative an sich zieht und von sich aus ordnen will, so wird
sie, gewaltsam losgetrennt von ihrem Mutterboden, nämlich von dem
verantwortlichen Einsatz der Einzelperson, nur Schaden leiden, und zwar
zum Nachteil des öffentlichen Wohls.
Auch die erste und wesenhafte Keimzelle der Gesellschaft, die Familie,
ihr Wohlsein und Wachsen, würde dann Gefahr laufen, lediglich unter dem
Gesichtswinkel völkischer Kraft betrachtet zu werden. Damit aber würde
man vergessen, daß Mensch und Familie durch ihre Natur vor dem Staat
sind, und daß der Schöpfer beiden Kräfte und Rechte verliehen und eine
Aufgabe zugewiesen hat, die unbezweifelbaren Naturforderungen
entspricht.
Die Erziehung des kommenden Geschlechts würde nicht mehr auf eine
ausgeglichene Entwicklung des Körpers und aller geistigsittlichen
Anlagen zielen, sondern auf die einseitige Ausbildung jener
staatsbürgerlichen Tugenden, die man als notwendig zur Verwirklichung
politischer Erfolge erachtet; jene Tugenden dagegen, die das
gesellschaftliche Leben mit dem Feiergewand von Edelsinn,
Menschlichkeit und Ehrfurcht umkleiden, würden weniger empfohlen,
gleichsam als ob sie den Stolz des Staatsbürgers verminderten.
In schmerzlicher Klarheit stehen vor Unserm Blick die Gefahren, die dem
heutigen und kommenden Geschlecht aus der Verkennung, Verkürzung und
fortschreitenden Auslöschung der Eigenrechte der Familie erwachsen
müssen. Darum erheben Wir Uns, im vollen Bewußtsein Unserer heiligen
Amtspflicht, zu ihrem freimütigen Anwalt. Nirgendwo werden die äußeren
und inneren, die materiellen und geistigen Nöte unserer Zeit so bis zur
Neige verkostet, nirgendwo die vielfachen Irrtümer in ihren tausend
Auswirkungen so bitter durchlitten, wie innerhalb der Klein- und
Edelzelle der Familie. Ein richtiger Wagemut, ja ein Heldentum, das in
seiner Schlichtheit dreifach achtunggebietend dasteht, die wachsende
Entbehrungen und fortschreitende Einengung zu tragen, die ein früher
nie gekanntes Ausmaß erreichen und deren innerer Sinn und sachliche
Notwendigkeit oft nicht zu sehen sind. Wer in der Seelsorge steht, wer
in die Herzen schauen kann, weiß um die heimlichen Tränen der Mütter,
um den stillen Schmerz ungezählter Väter, weiß um die Bitternis, von
der keine Statistik spricht, noch sprechen kann. Er sieht mit Besorgnis
die Flut dieser Bitternisse immer höher und höher steigen und
beobachtet, wie die Mächte der Umwälzung und Zerstörung auf der Lauer
liegen, um solche Stimmungen für ihre dunklen Ziele auszunützen.
Niemand, der guten Willens und offenen Auges ist, wird in so
außergewöhnlichen Zeiten der Staatsgewalt ein weitgehendes Notrecht
verweigern wollen. Aber die von Gott gesetzte, sittliche Ordnung
verlangt auch in solcher Lage die ernste, in gewissem Sinn sogar
verschärfte Prüfung, ob derartige Maßnahmen sittlich erlaubt und vom
wahren Gemeinwohl sachlich erfordert sind.
In jedem Falle - je größer die materiellen Opfer sind, die seitens des
Staates von dem Einzelnen und der Familie verlangt werden: um so
heiliger und verbrüchlicher müssen ihm die Rechte des Gewissens sein.
Er kann Gut und Blut fordern, aber niemals die von Gott erlösten
Seelen. Der Auftrag, den Gott den Eltern gab, für die materielle und
seelische Wohlfahrt ihrer Kinder zu sorgen und ihnen eine ausgeglichene
Erziehung im Geist echter Religiosität zu vermitteln, kann ihnen von
niemand ohne schwere Rechtsverletzung entrissen werden. Diese Erziehung
soll gewiß auch sein eine Erzie-hung »zum Staat hin«, d. h. zur
bewußten, gewissenhaften, freudigen Pflichterfüllung eines edlen
Patriotismus, der dem irdischen Vaterland das ihm zukommende Vollmaß an
Liebe, Hingabe und Mitarbeit schenkt. Eine Erziehung jedoch, die darauf
vergäße oder gar bewußt unterließe, Auge und Herz der Jugend auch auf
das ewige Vaterland zu lenken, wäre ein Unrecht an der Jugend, ein
Unrecht an den unabtrennbaren Erzieherrechten und Erzieherpflichten der
christlichen Familie - eine Grenzüberschreitung, die nach Abhilfe ruft,
gerade auch im Interesse des Volks- und Staatswohls. Mag sie denen, die
dafür verantwortlich sind, vorübergehend als Quelle wahrer Kraft und
Macht erscheinen; in Wirklichkeit wäre sie das Gegenteil und ihre
bittern Auswirkungen würden das beweisen. Die Majestätsbeleidigung
gegen den »König der Könige«, und den Herrn der Herrscher« (1 Tim.
6,15; Apoc. 19,16), die in einer christusfremden oder gar
christusfeindlichen Erziehung sich vollzieht, die Umkehr des
Herrenwortes: »Lasset die Kinder zu mir kommen« (Marc. 10,14) in sein
Gegenteil müßte bitterste Früchte tragen. Der Staat, der den blutenden,
in Gewissenskämpfen sich verzehrenden Herzen der christlichen Väter und
Mütter ihre Sorgen abnimmt und ihre Rechte wiedergibt, baut nur an
seinem eigenen inneren Frieden und an der Grundlegung einer glücklichen
Zukunft des Vaterlandes. Die Seelen der Kinder, die Gott den Eltern
schenkte, die in der Taufe mit dem Königszeichen Christi besiegelt
wurden, sind ein heiliges Treuhandgut, über dem Gottes eifersüchtige
Liebe wacht. Derselbe Christus, der gesagt hat: Lasset die Kinder zu
mir kommen, hat - bei all seiner erbarmenden Güte - ein schneidendes
Wehe gerufen über jene, die den Lieblingen seines Herzens Aergernis
bereiten. Und welches Aergernis wirkt vernichtender und nachhaltiger
auf ganze Geschlechter als eine Fehlleitung der Jugenderziehung in eine
Richtung, die von Christus, der Weg, Wahrheit und Leben ist, wegführt
in offenen oder getarnten Abfall von ihm? Dieser Christus, dem man die
heutige und kommende Jugend zu entfremden sucht, er ist derselbe, der
aus den Händen seines himmlischen Vaters alle Königsgewalt empfing im
Himmel und auf Erden. Er trägt in seiner allmächtigen Hand das
Schicksal der Staaten, der Völker und Nationen. Bei ihm steht es, ihr
Leben, Wachsen, Gedeihen und ihre Größe zu kürzen oder zu verlängern.
Von allem, was diese Erde trägt, ist nur die Menschenseele unsterblich.
Ein Erziehungssystem, das den von Gottes heiligem Gesetz umfriedeten
Bannkreis der christlichen Familie nicht achtete, ihre sittlichen
Grundlagen bedrohen, der Jugend der Weg zu Christus, zu den Lebens- und
Freudenquellen des Heilandes (vgl. Isai. 12,3) versperren wollte, das
gar den Abfall von Christus und seiner Kirche als Kennzeichen der Treue
zum Volk oder einer bestimmten Klasse erachten wollte, würde sich
selbst das Urteil sprechen und zu gegebener Zeit die unentrinnbare
Wahrheit des Prophetenwortes an sich erfahren: »Alle, die Dich
verlassen, werden in den Staub geschrieben« (Jer. 17,13).
V. Wesen und Grundlage des Völkerrechtes
Die falsche Auffassung von der schrankenlosen Autorität des Staates,
ehrwürdige Brüder, ist nicht nur für das innere Leben der Nation, ihre
Wohlfahrt und ihren geordneten Aufschwung verderblich, sondern schadet
auch den Beziehungen der Völker untereinander, weil sie die
übernationale Gemeinschaft zerstört, dem Völkerrecht seine Grundlage
und seine Bedeutung entzieht, zur Verletzung fremder Rechte führt und
jedes Verstehen und friedliches Zusammenleben erschwert.
Die Menschheit ist zwar, gemäß der von Gott eingerichteten natürlichen
Ordnung, in gesellschaftliche Gruppen, Nationen und Staaten geteilt,
die voneinander unabhängig sind in Bezug auf Gestaltung und Leitung
ihres Eigenlebens; zugleich ist sie aber auch durch gegenseitige
sittliche und rechtliche Bindungen zu einer großen Gemeinschaft
zusammengeschlossen, deren Ziel das Wohl aller Völker ist und die ihre
Einheit und ihren Fortschritt durch besondere Gesetze schützt.
Es ist nun klar, daß die angebliche absolute Autonomie des Staates zu
dieser naturgegebenen Rechtsordnung in offenem Widerpruch steht, sie
geradezu leugnet, indem sie die Dauerhaftigkeit internationaler
Beziehungen dem Ermessen der Regierenden überläßt und dadurch eine
gesicherte Einigung und fruchtbare Zusammenarbeit zum gemeinsamen Wohl
unmöglich macht.
Soll es also, ehrwürdige Brüder, ein dauernd friedliches Nebeneinander
und fruchtbringende Verbindungen von Land zu Land geben, so ist dafür
unerläßliche Voraussetzung, daß die Völker das die internationalen
Beziehungen unterbauende Naturrecht anerkennen und danach handeln,
durch das allein jene Verbindungen bestehen und sich auswirken können.
Zu diesem Naturrecht gehört die Achtung der jeweiligen Rechte auf
Unabhängigkeit, auf Dasein und auf Entwicklungsmöglichkeiten
kultureller Art; dazu gehört ferner die Einhaltung der Verträge, die
nach den Satzungen des Völkerrechts eingegangen worden sind.
Zweifellos ist unerläßliche Vorbedingung für jedes friedliche
Zusammenleben der Völker und gewissermaßen die Seele aller
Rechtsbeziehungen zwischen ihnen das gegenseitige Vertrauen, die
Zuversicht, daß alle Teile davon überzeugt sind, wie sehr »Weisheit
besser ist als Waffengewalt« (Eccl. 9,18); daß man bereit ist, zu
verhandeln und nicht zur Gewalt oder Gewaltandrohung zu schreiten, wenn
Verschleppung, Hindernisse, Aenderungen oder sonstige Unstimmigkeiten
vorliegen; denn dergleichen braucht nicht notwendig von bösem Willen zu
kommen, sondern kann in den gewandelten Verhältnissen und tatsächlichen
Interessengegensätzen seinen Grund haben.
Wollte man jedoch das Völkerrecht vom göttlichen Recht loslösen, um es
auf den unabhängigen Willen der Staaten aufzubauen, so würde man es
dadurch entthronen und ihm die vornehmste und stärkste Verankerung
nehmen, um es der unseligen Dynamik privater Interessen und kollektiver
Selbstsucht zu überantworten, die beide nur mehr die eigenen Rechte auf
Kosten der Rechte anderer zur Geltung bringen wollen.
Es kann wohl geschehen, daß im Lauf der Zeit und unter wesentlich
veränderten Umständen, die beim Vertragsabschluß nicht vorgesehen waren
und vielleicht nicht vorhergesehen werden konnten, ein Vertrag oder
einzelne Bestimmungen desselben wirklich oder scheinbar ungerecht,
unausführbar, allzu drückend für einen Vertragspartner werden. Wenn ein
solcher Fall eintreten sollte, müßte zeitig durch ehrliche
Verhandlungen der Vertrag geändert oder durch einen neuen ersetzt
werden. Aber von vorneherein Verträge als etwas Vorübergehendes ansehen
und sich stillschweigend das Recht zu ihrer einseitigen Lösung
vorbehalten, sobald es nützlich dünkt, hieße jegliches gegenseitige
Vertrauen von Staat zu Staat zerstören. Das wäre das Ende der
naturgewollten Ordnung, und es blieben nur mehr unüberbrückbare
Trennungsgräben zwischen den Völkern und Nationen.
Heute, ehrwürdige Brüder, blickt eine ganze Welt mit Grauen in den
Abgrund, an den die von Uns gekennzeichneten Irrtümer und die aus ihnen
geborenen praktischen Ergebnisse die Menschheit geführt haben. Die
Trugbilder eines stolzen Fortschrittglaubens liegen am Boden. Wer auch
jetzt noch nicht erwachen will, den müßte das Geschehen dieser Tage
aufrütteln mit den Worten des Propheten: »Ihr Tauben, hört, und ihr
Blinden, schauet auf!« (Is., 42,18). Was nach außen Ordnung schien, war
nichts anderes als wachsende Verwirrung. Eine Verwirrung der sittlichen
und rechtlichen Lebensgesetze, die sich von der Majestät des
Gottesgesetzes gelöst und alle Bereiche der menschlichen Betätigung
verseucht hatten. Aber lassen Wir das Vergangene. Schauen Wir in die
Zukunft, in jene Zukunft, die nach den blutigen Kämpfen von heute eine
neue Ordnung in Gerechtigkeit und Wohlfahrt bringen soll, wie uns die
Mächtigen dieser Welt versprechen.
Wird diese Zukunft andere, wird sie bessere Wege wandeln? Die
Friedensschlüsse, die völkerrechtliche Neuordnung am Ende des nun
entfesselten Krieges - werden sie wirklich von Gerechtigkeit und
Billigkeit gegen alle beseelt sein, werden sie die Menschheit befreien
und befrieden, oder werden sie ausmünden in eine traurige Wiederholung
alter und neuer Irrtümer? Von der bewaffneten Auseinandersetzung und
ihrem Ergebnis allein eine entscheidende Besserung zu erhoffen, ist
eitel; das beweist die Erfahrung. Die Stunde des Sieges ist eine Stunde
des äußeren Triumphes für jene, deren Fahnen er zufällt. Aber sie ist
zugleich auch eine Stunde der Versuchung, wo der Engel der
Gerechtigkeit ringt mit den Dämonen der Gewalt. Nur zu leicht verhärtet
sich das Herz des Siegers; Maßhaltung und vorausschauende Weisheit
erscheinen ihm als Schwäche. Die lodernde Leidenschaft der Masse, durch
Opfer und Leiden zur Glut entfacht, blendet oft auch das Auge der
Verantwortlichen und läßt sie die mahnende Stimme der Menschlichkeit
und Billigkeit überhören; sie wird übertönt oder erstickt von dem
mitleidlosen »Wehe den Besiegten!« Entschlüsse und Entscheidungen, aus
solcher Stimmung erwachsen, würden Gefahr laufen, nichts zu sein als
Unrecht unter dem Mantel der Gerechtigkeit.
Nein ehrwürdige Brüder, nicht von außen her wird den Völkern Rettung
kommen. Das Schwert kann Friedensbedingungen diktieren, aber keinen
wahren Frieden schaffen. Von innen, vom Geiste her müssen die Kräfte
wachsen, die das Antlitz der Erde erneuern.
Nach den Bitternissen und Kämpfen der Gegenwart darf nicht wieder eine
Neuordnung der Welt, des staatlichen und überstaatlichen
Gemeinschaftslebens werden, die auf dem Flugsand immerfort sich
wandelnder und vergehender Rechtsschöpfung steht und dem individuellen
oder kollektiven Eigennutz überlassen bleibt. Ihr letzter und
unerschütterlicher Felsgrund muß wieder das aus Natur und Offenbarung
sprechende Gottesrecht werden. Von ihm allein kann dem menschlichen
Gesetzgeber der Geist der Selbstbeherrschung, der helle Sinn für
sittliche Verantwortung kommen, ohne den die Spanne zwischen dem
berechtigtem Gebrauch und dem Mißbrauch der Gewalt oft nur allzu kurz
ist. Nur so werden seine Entscheidungen innere Stetigkeit, hehre Würde
und religiöse Sanktion finden und nicht zum Spielball von Eigennutz und
Leidenschaft werden.
Wenn es richtig ist, daß die Übel, an denen die heutige Menschheit
leidet, wenigstens zum Teil wirtschaftliche Ursachen haben, im Kampf um
eine gerechtere Verteilung der Güter, die Gott dem Menschen zu seinem
Unterhalt und Fortschritt gegeben hat, so ist nicht weniger richtig:
Die Wurzeln dieser Uebel liegen noch viel tiefer, sie liegen darin, daß
der religiöse Glaube und die sittliche Ueberwindung mehr und mehr
zerstört worden sind, je mehr sich die Völker von der Einheit der
Glaubenslehre und des Sittengesetzes entfernt haben, die einstens durch
die unermüdliche und segensreiche Arbeit der Kirche gefördert wurde.
Wenn eine künftige Erziehungsarbeit an der Menschheit Erfolg haben
soll, dann muß vor allem geistige und religiöse Erziehungsarbeit
geleistet werden. Sie muß von Christus als dem einzigen Fundament
ausgehen, sie muß im Geist der Gerechtigkeit geleitet und im Geist der
Liebe vollendet werden.
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