DIE AUFLÖSUNG DER GESELLSCHAFTLICHEN MORAL
UND IHRE FOLGEN
von
Klaus Rehmann
Ladendiebe richten jedes Jahr einen Schaden von vier bis fünf
Milliarden Mark an, berichtete vor kurzem der Hauptverband des
Deutschen Einzelhandels. Waren 1963 die Ladendiebe noch mit 1,6 Prozent
an der Gesamtkriminalität beteiligt, betrug ihr Anteil 1991 bereits 9,4
Prozent; bei weiteren Steigerungen machte die Rate 1995 bereits 20
Prozent aus (alte Bundesländer und Berlin). Über 30 Prozent der Täter
sind unter 18 Jahre alt.
Im vorigen Jahr wurden 65 000 Kinder unter 14 Jahren beim
Ladendiebstahl gefaßt. Wegen der hohen Dunkelziffer dürfte die Zahl der
diebischen Kinder aber tatsächlich zehn- bis zwanzigmal höher liegen,
so das Landeskriminalamt Hessen. "Das Unrechtsbewußtsein ist
erschreckend gesunken", stellt die Kriminalstatistik fest. "Es kommt
vor, daß Kinder im Geschäft etwas klauen müssen, um in eine Clique
aufgenommen zu werden."
Eine Welle der Gewalt schwappt über die deutschen Schulhöfe. Bei
Razzien stießen Polizeibeamte auf beachtliche Waffenarsenale: "Zur
Standardausrüstung der Gefilzten gehörten Butterfly-Messer ebenso wie
Schlagringe, Wasserhahnräder, Elektroschockgeräte und scharfe Waffen."
Mitverantwortlich für diese Entwicklung seien auch die Eltern, die oft
zu wenig auf ihre Kinder achteten.
Verantwortlich sind nach Meinung verantwortungsbewußter
Persönlichkeiten alle jene, die mitgewirkt und geduldet haben, daß
Anfang der siebziger Jahre unsere Gesetze von einem Großteil ihrer
moralischen Inhalte "befreit" wurden, weil die christliche Moral als
überholt galt: Entkriminalisierung der Pornographie, der Kuppelei, der
homosexuellen Praktiken, der Abtreibung, Bagatellisierung des
Ladendiebstahls. Im Ehe- und Scheidungsrecht wurde die Frage nach dem
Verschulden nicht mehr gestellt, Treue oder Untreue nicht mehr als
rechtlich relevant angesehen.
Das alles geschah, obwohl unser Grundgesetz "wertebegründet" ist; die
Präambel spricht von der Verantwortung "vor Gott"! Mit dem Verfall der
sogenannten Bürgertugenden ging der Verfall des Rechtsbewußtseins
einher. Nicht die Gesetzesproduktion ging zurück, im Gegenteil, vor
allem aber geht die Wirksamkeit des Rechts, seine tatsächliche Geltung,
zunehmend verloren. Soweit Kirche, Elternhaus und Schule sich nicht
schon gänzlich der Wertevermittlung entzogen haben, sinkt zumindest ihr
Einfluß auf Rechtsethos und Rechtsbewußtsein. Damit steigt die Wirkung,
die das Fernsehen als "heimlicher Erzieher" ausübt. "Zeigt sich hier" -
wie der Jurist Rudolf Wassermann fragt -, "daß dem Verlust der Religion
die Auflösung der Moral folgt und dieser die Erosion des
Rechtsbewußtseins?"
Da mußten Anfang des Jahres die Bundesbürger vom scheidenden
Düsseldorfer Polizeipräsidenten "wie von einem Bußprediger",
schrieb die Presse - wachgerüttelt werden; er warf ihnen vor, sie
sündigten in einem fort wider Gebote, Verbote und kostbare Rechte des
Grundgesetzes. Unter diesem Eindruck sollten wir alle innehalten, aus
dem Schaden lernen und ethische Probleme zu lösen versuchen.
Weil die treue Bewahrung zeitloser Wahrheit zur Sendung der Kirche
gehört, sollte sie besser gegen Umdeutungen und Relativierungen
menschenrechtlicher Gebote gewappnet sein. Vor allem sind alle, die
führende Ämter in den Kirchen haben, aufgefordert, endlich ihrer
Aufgabe gerecht zu werden, die zeitlose Wahrheit vernehmbar,
verständlich, eindrucksvoll und überzeugend zu verkündigen und
Millionen von "alleingelassenen" Menschen zur Kirche zurückzuführen.
(aus "Privat-Depesche" vom 4.9.96; der Autor ist Geschäftsführender Vorstand der Hertie-Stiftung, Mainz)
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Korrektur:
In Heft Nr. 4 vom Oktober 1999 wurde vergessen: "...Messe, die von
Seiner Heiligkeit Pius V. kofifiziert und mit der Bulle "Quo primum
tempore"...
In memoriam:
Verstorben sind: Frau Anna Hildenstab, im Herbst 99, Stuttgart, Herr
Dr. Josef Kimmig, Bad-Peterstal, Abbé P. Goerges Vinson am 3.7.99 in
Serre-Nerpol / Frankreich (* 1915). Vinson gab ab 1980 den "Simple
Lettre" heraus, der in 116 Nummern erschien. |