EIN GEHEIMES KLOSTER
von
Maria Winowska
Die Sonne schien beim Berühren des Horizontes wie eine mächtige Wunde
zu bersten und die sie umgebenden weißen Wölklein, als wären es
Wattebäusche, mit hellem Blut zu übergießen. Jetzt fluteten sie dahin
wie purpurne Wellen, während gewaltige, düstere, rotgerandete
Kumulusbälle in gedrängten Reihen von Osten nach Westen stürmten. Nach
diesem Farbenausbruch versank die kurze Abendherrlichkeit in einen
Abgrund voller gefräßiger Ungeheuer, und das ganze Himmelsgewölbe
hüllte sich in Finsternis ein. Die Erde zitterte in banger
Erwartung.
Schon schleuderten Windstöße den Schnee wie phosphoreszierende
Trichter, die sich in Flockenge-wirbel auflösten, durch die Nacht. Die
beiden Frauen, die auf der Schlittenpiste dahinzogen, sanken fast in
die Knie unter den brutalen Schlägen. Sie trugen grobe Stiefel; Kopf
und Hals waren in Wolltücher gehüllt. Sie schienen von weither zu
kommen, denn ihre vor Kälte geröteten Gesichter waren von Rauhreif und
Eisklümpchen umrahmt. Nachdem sie wieder etwas Atem geschöpft hatten,
beschleunigten sie die Schritte, während in der Ferne Sturmböen
heulten. Von den Wirbelwinden erfaßt, die Augen und die Kehle voller
winziger Eisnadeln, schleppten sie sich im Zickzack noch etwas weiter,
standen aber bald still. Die Piste war verschwunden.
«Schwester Kinga», ertönte ein jammerndes Stimmchen, «Schwester Kinga,
ich sehe nur noch einen Schwarm roter, flimmernder Pünktchen vor mir.
Und Sie?» Die Angesprochene zögerte einen Augenblick. Sie stocherte mit
ihrem Stock im unheimlich rasch angehäuften Pulverschnee herum, fuhr
mit dem Fausthandschuh über die brennenden Augen, versuchte den
Flockentanz zu durchdringen und sagte, jedes Wort betonend: «Keine
Angst, liebe Schwester Gertrud; ich sehe nichts, doch Gott sieht für
uns!» Als der Lagerleiter sie am frühen Morgen mit dreißig Rubel und
einer langen Liste von Aufträgen nach Krasnoyarsk gesandt hatte,
kündete sich ein strahlender Tag an. Fröhlich ließen sie Säge und Beil
liegen, um für einen Tag der Zwangsarbeit zu entrinnen. Die
Kameradinnen blickten ihnen neidlos nach. Selbst im Lager wurde auf
ihren Stand als 'Monachki', als Klosterfrauen, etwas Rücksicht
genommen; sie besaßen das Vertrauen des Leiters. Wenn sich ihre
Aussichten auf den Martyrertod, auf den sie bei ihrer Gefangennahme
hofften, verflüchtigt hatten, so erweiterte sich die Möglichkeit einer
missionarischen Tätigkeit mit jedem Tag. Seit einem Jahr folgte eine
Überraschung der andern, und sie waren stolz auf eine Aufgabe, die sie
begeisterte und ihrem jugendlichen Eifer entsprach. Doch in dieser
Nacht des 6. Januar schien das schöne Abenteuer endgültig ein Ende zu
finden. «Wenn nicht ein Wunder geschieht», dachte Schwester Kinga,
«sind wir verloren.»
Auf dem Heimweg, gegen Abend, begann das Wetter sich zu verschlechtern.
Die blutrote Scheibe der Sonne und das kristallene Klingen des Frostes
in der allzu durchsichtigen Luft kündeten nichts Gutes an. Gewarnt
durch die Vorzeichen des Sturmes hatten sie die Schritte beschleunigt,
doch das Unwetter, das ihnen auf den Fersen folgte, überholte sie. Das
Lager mußte einige Werst voraus liegen; aber wie es finden? Der
Schleier der im Wind wirbelnden Flocken ließ sie nichts sehen als ein
unendlich weites, weiches Totentuch. Mit der hereinbrechenden Nacht
liefen sie Gefahr, Rudeln der in der Steppe herumziehenden Wölfe zu
begegnen. Schwester Kinga war etwas älter und energi-scher; sie wog die
wenigen Möglichkeiten, dem Sturm zu entrinnen, ab. Nicht stillestehen;
der gefährlichen Schläfrigkeit, die ihre Lider beschwerte und sie
drängte, sich für einen kurzen Augenblick niederzusetzen, nicht
nachgeben! Und vor allem: nicht im Kreise herumgehen!
Schwester Kinga schlug ein großes Kreuzzeichen, legte den Stock in den
Schnee, nahm jenen ihrer Gefährtin, um ihn in der gleichen Richtung vor
den ihren zu legen, griff wieder nach dem ersten und wiederholte
dieselbe Bewegung immerfort, um in gerader Linie Schritt um Schritt
voranzukommen. Die entmutigende Langsamkeit dieses Vorgehens wurde
aufgewogen durch die Gewißheit, stets geradeaus die gewählte Richtung
einzuhalten. Schon bei ihrer Ankunft im Lager waren sie von Kameraden
auf die Gefahr hingewiesen worden, die in Schneestürmen Verirrte durch
das höllische Rundherumgehen bedrohe. Mit Stöcken kann man sich retten.
Wichtig ist, die gute Linie einzuhalten. Schwester Kinga gestand ihrer
Gefährtin nicht, daß sie schon seit geraumer Zeit die Orientierung
verloren hatte. Warum sollte sie die Angst der 'Kleinen' noch steigern?
Hatte sie nicht, als sie den Stock in den Schnee warf, ihre Schutzengel
zu Hilfe gerufen? Nun, sie würden kämpfen bis zum Ende ihrer Kräfte,
und wenn sie sterben müßten, so wollten sie ihn willkommen heißen, den
Bruder Tod!
Sie betete im Herzen, denn ihre aufgesprungenen Lippen klebten
aneinander. Und der Wind schnitt ihr den Atem ab; die Riemen des
Rucksackes rieben die Schultern wund. Vor ihren Augen tanzten jetzt
übermütige rote Fliegen. Zwischen den heulenden Stößen des Sturmes
hörte sie hinter ihrem Rücken das Keuchen Schwester Gertruds, die
offensichtlich erschöpft war. «Schwester Kinga, ich kann nicht mehr!
Ruhen wir uns einen Augenblick aus!» Sie versuchte zu antworten, doch
der Wind schlug ihr den Mund zu. Da ballte sie die Fäuste und hieb auf
Schwester Gertrud ein. Verblüfft wehrte sich diese mit allen Gliedern,
doch rasch war sie mit im Spiel und erwiderte die Schläge. Körper an
Körper wälzten sie sich im Schnee und balgten sich wie zwei
Lumpenweiber. Langsam wich die Starre, und sie fühlten ihre Finger in
den Fausthandschuhen wieder. Schwester Kinga erhob sich und half der
Kleinen mit energischem Griff, aufzustehen. Sie legte den Mund an ihr
Ohr: «Wenn man stillesteht, ist man verloren!»
Dann ergriff sie ihren halb zugeschneiten Stock und begann die Arbeit
wie eine Maschine von neuem mit dem festen Willen, die gerade Linie
unerbittlich einzuhalten trotz der Versuchung, sich nach ein paar
Schritten gehen zu lassen. Die Minuten wurden zu Stunden, die Stunden
zu Jahrhunderten. Die Zeit war jeder Kontrolle entzogen und schien
stillezustehen. Als sie die schmerzenden Lider schloß, sah sie wie von
einem Blitzlicht beleuchtet, den Film ihres Lebens wie auf einem
entfalteten Fächer. Die geringsten Ereignisse zielten auf den im
Augenblick glühenden, ewigkeitsschweren Mittelpunkt hin.
Die plötzliche Erleuchtung mit achtzehn Jahren! Die Berufung ist wie
die kleinen Blattern über mich gekommen! Aber an 'Widerstand' fehlte es
nicht... doch der Stachel war mächtiger. Der unbekannte Priester im
Beichtstuhl lachte, als ich ihm vor Zorn weinend gestand. «Mut, meine
Tochter, Gott will dich haben!» Auflehnung der verblüfften Eltern gegen
den 'Trotzkopf'. Er behauptete sich aber, wenn auch nicht ohne Kampf!
Im Noviziat die Begegnung mit Schwester Konstanze. Einkleidung, Ströme
von Gnaden. Herzensfreude bei jedem Erinnern an die geistliche
Vermählung. Freudenreiche Geheimnisse, plötzlich vom Kreuz
überschattet. Krieg, Gefängnis, Verschleppung, Abgrund voller
Prüfungen... Sie stehen unter der Türe und vernehmen die letzten Worte
Schwester Konstanzes, ihrer Novizenmeisterin. Im Hof wartet schon der
Lastwagen ... «Meine Kinder..., wenn Ihr sterben müßt, so erleidet den
Tod als gottgeweihte Bräute. Ihr seit erst Novizinnen, doch Eure
Berufung steht fest, und in Gegenwart des Todes habt Ihr das Recht, mit
leiser Stimme die ewigen Gelübde zu sprechen. Die Profeß des Blutes ist
so gültig wie die unsere, wenn man sie mit voller Hingabe annimmt. Ich
wünsche von Herzen, Euch wiederzusehen, doch wenn es nicht sein soll,
umarmt den Tod wie Christus das Kreuz umarmt hat. Ich trage Euch auf,
als Missionare zu wirken. Sie, Schwester Kinga, wachen über die
'Kleine'. Ich übergebe sie Ihrer Obhut.»
Das Martyrertum blieb ihnen versagt. Es wäre zu schön gewesen! Doch
folgten sich Tag um Tag lange Prozessionen demütigendster Prüfungen:
Kälte, Hunger, Erschöpfung und Ungeziefer ... Die endlose Fahrt im
Viehwagen bei eisiger Kälte. Die schwierige Gewöhnung an die schwere
Handarbeit, an das Los der Sträflinge.
Das Fehlen der Messe und der Sakramente; die harte Einsamkeit der
Seele. Seit zwei Jahren hatten sie keinen Priester mehr gesehen!
Schwester Kinga war kräftig; sie ertrug das strenge Leben ohne größere
Beschwerden. Aber ihre zarte, empfindliche Gefährtin verursachte ihr
Sorgen. Die einheimische Bevölkerung brachte ihnen große Achtung
entgegen. Man betrachtete sie nicht als Verbrecher; ihr Stand als
Monachki umgab sie mit einer unantastbaren Aura. Selbst die hübsche
Schwester Gertrud wurde nie belästigt. Als eines Tages eben
eingetroffene neue Wärter in ihre Baracke stürmten, riefen sie ihnen
das Zauberwort «Monachki» entgegen, und sogleich zogen die Gesellen
beschämt ab unter dem Gespötte der Kameraden. Abergläubische Furcht?
Magische Überbleibsel? «Eine Nonne berühren, bringt Unglück!» erklärten
sie.
Bald danach begannen die nächtlichen Besuche. Zerschlagen von
Müdigkeit, trunken vor Schlaf, vermochten sie kaum die Augen zu öffnen,
als nach Mitternacht an ihre Türe geklopft wurde. Schwester Kinga hatte
beständig ein Becken voll Wasser neben ihrer Pritsche, mit dem sie sich
bespritzte, um rascher wach zu werden. Schwester Gertrud fiel in ihren
Schlaf zurück und seufzte wie ein Kind... Das erste Mal hatten sie
Angst. Dunkle Gestalten, in Wolltücher eingemummt, schli-chen daher wie
Geister... Und unsichtbare Säuglinge begannen zu wimmern. «Gelobt sei
Jesus Christus!» stammelte Schwester Kinga. Unterdrückte Stimmen
erklangen wie eine Klage: «Gospody pomyluy!» («Herr, erbarme Dich
unser!») Es war nicht die richtige Antwort, aber damit war das Gespräch
zwischen Polen und Rußland im Gang.
Die Leute gestanden den Grund ihres Kommens nicht sofort. Sie warteten,
bis man sie fragte. Schwester Kinga kannte das Verhalten der
Bevölkerung nicht und schwieg. Doch seither machte sie keine Umschweife
mehr: «Wie viele sind es?» Sogleich nannte man ihr die Zahl der Kinder
und Erwachsenen, denen sie die Taufe spenden sollte. Anfänglich hatte
sie Bedenken gegen das Taufen durch Eintauchen. Die Kleinen schrien zum
Herzerweichen; das Wasser war eisig. Doch die Eltern wollten von der
«Taufe mit dem Tropfenzähler» nichts wissen. Das brutale Bad hatte
übrigens nie eine Erkältung hervorgerufen. Die Erwachsenen, die Frauen
im Hemd, die Männer mit einem Len-denschurz, stiegen in ein Faß voller
Regenwasser, oder im Winter, in den Ententeich, nachdem man ein Loch
ins Eis geschlagen hatte.
Nach der Zeremonie gaben die Mütter den Kleinen die Brust, um sie zu
beruhigen, und der Dorfälteste schneuzte sich dröhnend, um sich Mut zu
machen und bat jedesmal: «Und jetzt, sprecht uns von Gott!» Es folgte
die Katechismusstunde. Die Bauern saßen auf dem Boden und hörten
schweigend zu. Schwester Kinga bezweifelte hin und wieder, ob sie ihren
Worten auch folgten; aber sobald sie Fragen stellte, erhielt sie
richtige Antworten. So ging es bis gegen zwei Uhr morgens. Beim ersten
Hahnenschrei erhoben sich alle; ein jeder verneigte sich tief vor dem
«schönen Winkel», wo Schwester Kinga mit einer Nadel ein Bild Unserer
Lieben Frau von Czestochowa befestigt hatte. Und einer nach dem andern
trat schweigend in die finstere Nacht hinaus.
Lange hatten sie geglaubt, daß es ihren Katechumenen gelinge, die
Wärter zu täuschen, bis sie eines Tages feststellen konnten, daß sie
mit im Spiele waren. Fiodor, der Leiter, ließ einmal ihre Baracke mit
Wachtposten umstellen, um während der Nacht mit seinem drei Tage alten
Söhnchen selbst zu kommen: «Wenn es ihm nichts nützt», erklärte er
stoisch, «wird es ihm auch nicht schaden. Geh, und tauche meinen Wania
ins Wasser!» Es war hart, nach diesen unterbrochenen Nächten um fünf
Uhr aufzustehen. Eine Prüfung, die Schwester Konstanze nicht
vorausgesehen hatte! Eine Prüfung, und trotzdem, welche Freude! Sie
befanden sich seit achtzehn Monaten im Lager von Z...;
dreihun-dertsiebenundvierzig Kinder und Erwachsene hatten sie
getauft... Die Ehen vollzogen sich in ein-facheren Formen.
Die Jungen rieben ihre Verlobungsringe an den geweihten Eheringen ihrer
Großmütter. So sagte man, geht der Segen auf sie über.
Jetzt aber wäre es Zeit, Laika, den Lagerhund, bellen zu hören. Wenn
sie die gute Richtung eingeschlagen hatten, mußten die Baracken ihnen
bald den Weg versperren. Den einen Stock hinlegen, den andern in die
Verlängerung des ersten setzen, den hintern wieder nach vorn und so
weiter... Wieviel mal schon hatte sie mechanisch diese Bewegung gemacht
in der Hoffnung, in gerader Linie voranzukommen und die Gefährtin nicht
zu verlieren ? Da brach Schwester Gertrud zusammen. «Lassen Sie mich
sterben, Schwester Kinga. Sie sind kräftiger. Sie gelangen ins Lager
zurück!» War es das Ende? Es mußte wohl so kommen. Aber um keinen Preis
würde sie allein weitergehen. «Wenn gestorben sein muß, sterben wir
zusammen!» Und schon ließ sie sich neben die Mitschwester in den Schnee
fallen und war willens, den Kampf aufzugeben.
Da spürte sie unter der Schneedecke etwas Hartes. Sie zog den Handschuh
aus, glitt dem Gegenstand mit der Hand nach, griff tiefer. Gott! Es war
ein Brunnenrand, und wo ein Brunnen ist, kann das Haus nicht weit
entfernt sein. Mit einem Ruck richtete sie sich auf und begann die
Gefährtin zu schütteln wie einen Pflaumenbaum. «Kleine Schwester
Gertrud, wir sind gerettet! Ich habe einen Brunnen entdeckt!» Aber die
«Kleine» schien davon nicht beeindruckt zu werden: «Was hilft uns das
schon? Ich kann nicht mehr. Lassen Sie mich sterben!» Der Sturm ließ
etwas nach und Schwester Kinga begann die Spuren ihrer Schritte zu
erkennen. Ohne ein Wort zu erwidern, zeichnete sie immer weitere Kreise
um Schwester Gertrud, die zusammengekauert dalag wie ein Häufchen
Elend. Wenn es hier ein Haus gab, mußte es in nächster Nähe sein. Da
stieß sie plötzlich gegen eine Mauer, glitt ihr nach, fand eine fast
zugeschneite Türe. In ihrer Erregung wagte sie vorerst nicht,
anzuklopfen. Sie dachte, vielleicht ein Opfer einer Einbildung geworden
zu sein. So zog sie die Fausthandschuhe aus und kniff sich in den Arm.
Die Türe war noch immer da. Nun schlug sie wild auf das Holz ein. Ein
Geräusch im Hause wurde vernehmbar. Dann folgte wieder Stille, bis eine
Frauenstimme durch das Schlüsselloch fragte: «Wer ist da?» Ohne zu
zögern schrie Schwester Kinga das Zauberwort: «Monachki! Öffnet rasch!»
Knarrend ging die Türe spaltweit auf, und die gleiche Stimme erklang,
etwas mißtrauisch:
«Sind Sie allein?» «Meine Gefährtin liegt einen Steinwurf weit
weg im Schnee!» Die Frau entfernte sich, ohne ein Wort zu erwidern,
ließ aber die Türe offen. Gleich erschien sie wieder mit einer Laterne
und folgte Schwester Kinga, die den noch gut sichtbaren Spuren
nachschritt. In sich zusammengeballt wie ein verwundetes Tier lag
Schwester Gertrud da und bewegte sich nicht. Die Frau hielt die Laterne
vor das Gesicht: «Sie lebt», sagte sie, «aber sie schläft. Nicht den
letzten Schlaf! Armes Kind! Tragen wir sie rasch weg!» Gemeinsam
schleppten sie Schwester Gertrud bis zur Haustüre, wo sie eine andere,
viel jüngere Frau erwartete. In der Stube war es warm; ein Feuer
knisterte im Herd. «Wir legen sie auf die Bank; ich stelle Milch aufs
Feuer» sagte die Alte.
Schwester Kinga mußte sich auf eine Truhe stützen; vor ihren Augen
begannen die Wände sich zu drehen; sie verlor das Bewußtsein. Als sie
wieder zu sich kam, erfüllte der Geruch von Wodka ihre Nase und drang
in die Kehle ein... Sie mußte nießen. «Gott sei gelobt!» sagte die
'Alte' erfreut und nahm rasch das nasse Leinentüchlein vom Gesicht.
«Und jetzt, zieh die Stiefel aus; ich will Deine Füße massieren.»
Quicklebendig, mit roten Wangen und glänzenden Augen, klatschte
Schwester Gertrud in die Hände: «Endlich sind Sie erwacht! Ich hatte
Angst... Aber wie sind wir in dieses Haus gelangt?» Mühsam richtete
sich Schwester Kinga auf. Die Entspannung war zu unvermittelt erfolgt,
die Rettung zu unerwartet! Die harte Übung mit den Stöcken zitterte
jetzt in allen ihren Muskeln nach.
In eine Pelzdecke gehüllt, plauderte Schwester Gertrud wie ein
Vögelchen. «Wissen Sie, daß wir dreißig Werst vom Lager entfernt sind?
Wir hatten die falsche Richtung eingeschlagen. Diese Frauen wohnen in
einem Vorort von Guidle. Sie sprach polnisch; die beiden Frauen
schienen sie nicht zu verstehen. Schweigend beobachteten sie die
unerwarteten Gäste. Da fragte die ältere: «Ist es wahr, daß Ihr
Monachki seid?» «Ja, gewiß! Und was seid Ihr?» «Wir arbeiten in der
Fabrik X... » Darauf schwiegen alle. Die Alte öffnete eine Truhe, nahm
einen in ein Tuch gehüllten Gegenstand heraus und hob ihn in die Höhe:
«Wollt Ihr mir auf diese Ikone schwören, daß Ihr wahrhaftig Monachki
seid und uns nicht verraten werdet?» Sie legte den Ton auf
«wahrhaftig», und mit feierlicher Gebärde entschleierte sie eine
schwarze unerkennbare Ikone. Schwester Kinga erhob sich behend, legte
die Finger auf die Ikone, wie man sie bei uns auf das Kruzifix legt,
wenn man einen Eid schwört: «Ich rufe Gott in seiner
allerheiligsten Dreifaltigkeit und seine Mutter, die glorreiche
Jungfrau Maria zu Zeugen an, daß wir wahrhaftig Monachki sind! Wir
machen daraus kein Geheimnis und bekennen uns offen zu unserem
Glauben!» Die Alte warf einen Blick auf ihre Gefährtin, die ihr
unauffällig ein Zeichen gab. «Ihr seid Polinnen und römisch-katholisch;
es ist gut so», erklärte sie mit leiser Stimme. «Aber wenn man uns
überrascht, wäre es unser Tod. Es ist besser mißtrauisch als
leichtgläubig zu sein! Folget mir!»
Mit energischen Griffen stellte sie einige halbgefüllte Säcke, die den
Boden neben dem Herd bedeckten, beiseite, öffnete eine Falltüre und
trat etwas zurück: «Steigt hinunter!» Mehr und mehr verwirrt, zögerte
Schwester Kinga einen Augenblick. Die Alte lächelte: «Keine Angst! Wir
haben keine bösen Absichten!» Schwester Kinga blickte in die Tiefe und
sah, daß der Keller beleuchtet war. Die Leiter war steil und schien
beweglich zu sein; von oben konnte man sie leicht wegstellen. Ihr Herz
schlug zum Bersten, während sich ihren Augen ein völlig unerwarteter
Anblick darbot. Der Kellerraum war in eine Kapelle verwandelt; ein
herrlicher, von Kerzen und Öllichtern erhellter Ikonostat befand sich
darin. In der Mitte, auf zwei Sockeln, stand eine Ikone des Spas (des
Erlösers) und der Bogomatier (der Muttergottes), die ebenfalls
beleuchtet waren. Davor, auf einem Chorpult, lag ein mächtiges
geöffnetes Buch. Fünf Frauen knieten auf dem Boden im Gebet.
Schwester Gertrud, die nach ihr herabgestiegen war, konnte einen Schrei
der Überraschung nicht unterdrücken. Eine Frau wandte den Kopf um, die
andern bewegten sich nicht. Schwester Kinga verbeugte sich tief vor den
Ikonen, küßte sie voller Ehrfurcht, schlug ein großes Kreuzzeichen und
begann stehend zu beten. Schwester Gertrud folgte ihrem Beispiel. Das
große Buch zog aber ihre Aufmerksamkeit auf sich. Neugierig betrachtete
sie es und wandte ein Blatt um. «Es ist die Bibel», erklärte die alte
Frau, die ebenfalls heruntergekommen war. «Wir besitzen nur noch die
Bibel!» In ihrer Stimme zitterte eine leise Wehmut. Sie waren zu
erschöpft, um lange beten zu können.
Schwester Kinga glaubte, zu träumen. Schwester Gertrud legte wie ein
Kind die Arme um den Hals der alten Frau: «Ihr seid wie wir!» sagte sie
und küßte sie. Oben schloß die alte Frau die Falltüre sorgfältig,
stellte die Säcke darüber, setzte sich auf eine Bank und begann zu
erzählen: «Gott schickt Euch, meine Töchter. Seit vierzig Jahren haben
wir keine richtigen, echten Schwestern mehr gesehen. Siebenundzwanzig
Jahre sind es her, seit zum letzten Mal ein Priester bei uns war. Nach
der Revolution haben wir uns hierher geflüchtet, und Gott hat nicht
zugelassen, daß sein Lob in diesem Hause je verstumme. Die Alten
starben, Junge kamen nach. Gegenwärtig sind wir sieben. Aber das
Gedächtnis ist kurz, meine Töchter, kurz und wenig treu. Wir
befürchten, Gott nicht so zu lieben, wie wir es sollten. Wir
befürchten, unsere Gebete teilweise vergessen zu haben. Aber was wir
noch wissen, wollen wir Euch vorsagen, und wenn etwas nicht kirchlich
sein sollte, so sagt es uns. Das Reich des Teufels wird einmal zu Ende
gehen. Eines Tages wird unser heiliges Rußland wieder erwachen. Dann
müssen wir bereit sein!»
«Deshalb», schloß Schwester Kinga, die mir die Begebenheit ausführlich
erzählt hat, «deshalb haben wir in jener Nacht kaum geschlafen. Wir
mußten frühmorgens ins Lager zurück. Es war keine Zeit zu verlieren.
Aber es gibt Standesgnaden. Sogar Schwester Gertrud hielt durch. Wir
unterzogen die geheimen Monachki einer Art kanonischer Prüfung. Ich
hatte glücklicherweise seit meiner Gefangennahme das östliche
Klosterwesen etwas kennengelernt ...»
«Sie berichteten uns von ihrem Dasein. Tagsüber arbeiteten sie in der
Fabrik. Abends begann das klösterliche Leben. Im unterirdischen
Heiligtum bekleideten sie sich mit einer Art Kutte und beteten bis tief
in die Nacht hinein. Darum hatten sie mein Klopfen und Schreien trotz
des Sturmes gehört! Alle sieben versammelten sich um uns,
und eine jede stellte uns Fragen. Die eine von ihren oft kindlichen
Schwierigkeiten wie von der rechten Weise, das Haar zu knüpfen oder die
Kapelle zu reinigen. Unglaublich ist, daß sie seit zwanzig Jahren
Weihwasser aufbewahren, das sie fortwährend mit Zugießen von Wasser
strecken. Um das Jahr 1934 herum hatte ein Priester sie aufgesucht und
in ihrer Kapelle zum letzten Mal die heilige Messe gelesen. Seither
leben sie in der geduldigen Erwartung und unbezwingbaren Hoffnung, daß
ihre Prüfung eines Tages ein Ende finde. Außer einigen unwesentlichen
Abweichungen hatten sie die Lehre rein bewahrt. Was soll ich aber über
ihre Frömmigkeit sagen? Ich glaubte, mich in den Katakomben zu
befinden. Sie sprachen vom Martyrium wie von etwas Alltäglichem und
Wahrscheinlichem. Ich erfuhr, daß mehrere ihrer Mitglieder ins
Gefängnis geworfen worden waren. Man verlor ihre Spuren; aber sie
hatten nichts verraten, denn das 'Kloster' wurde nie entdeckt. Vor so
viel tapferem Heldentum fühlten wir uns kläglich klein, das können Sie
mir glauben! Es war eine der schönsten Nächte meines Lebens!»
«Sind Sie ihnen noch einmal begegnet?» «Nein, nie mehr! Wir machten
absichtlich einen großen Umweg am folgenden Morgen, um ins Lager
zurückzugelangen.»
(aus: Winowska, Maria: "Die Ikone - Tatsachen aus der Kirche des Schweigens" Freiburg-München 1960, S. 62-75) |