DIE GESCHICHTE IST GLEICH
EINEM GEWALTIGEN LITURGISCHEN TEXT
von
Leon Bloy
Jeder Mensch ist Sinnbild, und nur im Maße dieses Sinnbildes ist er ein
Lebender. Allerdings ist dieses Maß unbekannt, so unbekannt und
unerkennbar wie das Gewebe der unendlichen Verknüpfungen der
allgemeinen gegenseitigen Verantwortlichkeit. Wer durch ein Wunder der
eingegossenen Erkenntnis genau wüßte, was jedes dieser unteilbaren
Einzelwesen Mensch auf jener Waagschale wiegt, der hätte die ganze
göttliche Ordnung wie auf einer Himmelskarte vor Augen.
Die Gemeinschaft der Heiligen, wie es die Kirche nennt, ist ein
Glaubensartikel und kann nichts anderes sein. Man muß daran glauben,
wie man an den kunstvollen Staatsbau der Insekten glaubt, an die
Keimkräfte des Frühlings, an die Milchstraße, und dabei doch recht gut
weiß, daß man es nicht begreifen kann. Wenn man sich dem widersetzt,
ist man dumm oder verderbt. Im Herrengebet werden wir belehrt, daß wir
um unser Brot bitten müssen, und nicht um mein Brot. Das gilt auf der
ganzen Erde und für alle Jahrhunderte. Gleiches Brot für Cäsar und für
den Sklaven. Gleiche Gnadenmöglichkeit in aller Welt. Geheimnisvolles
Gleichgewicht zwischen Macht und Schwachheit auf jener Waage, auf der
alles gewogen wird. Kein Mensch kann mit Sicherheit sagen, wer er ist.
Niemand weiß, wozu er auf diese Welt gekornmen ist, womit seine Taten,
seine Gefühle, seine Gedanken in Beziehung stehen, welche Menschen
seine Nächsten sind und welches sein wahrer Name ist, sein
unvergänglicher Name im Buche des Ewigen Lichtes. Ob Kaiser oder
Schiffsladeknecht, niemand kennt seine Last oder seine Krone.
Die Geschichte ist gleich einem gewaltigen liturgischen Text, in dem
noch die Iotas und die Punkte ebensoviel wert sind wie die Verse oder
die ganzen Kapitel; aber die Gewichtigkeit der einen und der anderen
ist für uns unbestimmbar und tief verborgen. Wenn ich denke, daß
Napoleon vielleicht ein rotglühendes Ruhmesiota ist, muß ich mir
gleichzeitig sagen, daß die Schlacht bei Friedland zum Beispiel
gewonnen werden konnte, weil ein kleines, dreijähriges Mädchen oder ein
hundertjähriger Landstreicher Gott baten, daß sein Wille geschehe auf
Erden also auch im Himmel. Dann wäre das, was man Genie nennt, einfach
der ins Fleisch hinabgestiegene göttliche Wille, sozusagen sichtbar und
greifbar geworden in einem menschlichen Werkzeug, das auf den höchsten
Grad seiner Kraft und Genauigkeit gebracht wurde, aber wie eine
Kompaßnadel über seinen ihm gesetzten Umkreis nicht herauszutreten
vermag.Wir alle sind (...) Bilder des Unsichtbaren und können weder
einen Finger krumm machen noch zwei Millionen Menschen niedermetzeln,
ohne das Schriftzeichen für etwas zu sein, was nur in der seligen
Gottesschau gelesen werden wird.
(aus: "Die Seele Napoleons": zitiert nach "Leon Bloy - der beständige Zeuge Gottes" Salzburg 1955, S. 357 ff.)
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