DAS VERLORENE PARADIES
von
Leon Bloy
Blicken Sie um sich, so weit das Auge reicht, bis auf die fernen Berge,
die den Horizont abschließen, überall diese Gesichter voll panischen
Schreckens, diese Millionen Antlitze voll Schauder und Schmerz, sobald
vom Sündenfall und vom verlorenen Paradies gesprochen wird. Das ist das
allgemeine Zeugnis des Menschengewissens, das tiefste, das
unwiderlegbarste Zeugnis. Es gibt nur den einen Schmerz, den Garten
aller Lust verloren zu haben, und es gibt nur eine Hoffnung und nur
eine Sehnsucht, ihn wiederzufinden.
Der Dichter sucht ihn auf seine Art, und der schmutzigste Wüstling
sucht ihn auf die seine. Er ist das einzige Ziel. Napoleon in Tilsit
und der verkommene Saufbold, den man im Rinnstein aufliest, beide haben
genau denselben Durst. Sie brauchen das Wasser aus den vier Strömen des
Paradieses. Instinktiv wissen sie alle daß es nicht zu teuer bezahlt
werden kann. Der Erdarbeiter oder der Dachdecker haben es sich ihren
halben Monatslohn kosten lassen, und Napoleon vier Millionen Menschen.
"Empti estis pretio magno" - "ihr seid für teuren Preis erkauft" (1
Kor. 6,15). Das ist der Schlüssel zu allem im Absoluten. Wenn man das
weiß, wenn man es sieht und wenn man es spürt, ist man allwissend wie
ein Gott und hört nicht mehr auf zu weinen.
Ihr Wunsch, mich weniger unglücklich zu sehen, meine gute Raïssa, ist
etwas, was lange vor der Geburt Nachors, welcher der Großvater Abrahams
gewesen ist, in Ihnen war, in Ihrem wesentlichen Sein, in Ihrer Seele,
in der Gott weiterwirkt. Es ist nichts anderes als die Sehnsucht nach
der Erlösung, begleitet von der Ahnung oder der unmittelbaren
Erkenntnis, was sie Ihn gekostet hat, der bezahlen konnte. Das ist
Christentum, und es gibt keine andere Art, Christ zu sein. Knien Sie
also am Rande dieses Brunnens nieder und beten Sie so für mich:
Mein Gott, der du mich zu teurem Preis erkauft hast, ich bitte dich in
aller Demut, mache, daß ich in Glaube, Hoffnung und Liebe verbunden sei
mit diesem Armen, der in deinem Dienst gelitten hat und vielleicht in
geheimnisvoller Weise für mich leidet. Erlöse ihn und erlöse mich zum
ewigen Leben, das du all jenen verheißen hast, die hungern nach dir.
Das ist es, meine sehr liebe und sehr gesegnete Raïssa, was Ihnen heute
ein Mann schreiben kann, der wahrhaft schmerzensreich ist, aber erfüllt
mit der hochfliegendsten Hoffnung für sich selbst und für alle jene,
die er in seinem Herzen trägt.
(aus: "L'Invendable - 1904-1907" 1908; zitiert nach Raïssa Maritain: "Leon Bloy - Der beständige Zeuge Gottes" Salzburg 1953)
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Leon Bloy: Wir müssen beten...!
Alles übrige ist eitel und töricht. Wir müssen beten, um das Grauen
dieser Welt zu ertragen, wir müssen beten, um rein zu sein, wir müssen
beten, um die Kraft zu erlangen, warten zu können. Für den Menschen,
der viel betet, gibt es keine Verzweiflung und keine bittere
Traurigkeit. Lassen Sie sich das von mir gesagt sein. Wenn Sie wüßten,
mit welchem Recht und mit welcher Autorität ich zu Ihnen spreche! Sie
kennen die alltäglichen Beschwerlichkeiten des Lebens, aber Sie kennen
nicht den wirklichen Schmerz. Sie haben nicht den wirklichen Stoß
bekommen, der das Herz durchbohrt. Vielleicht werden Sie ihn niemals
bekommen, denn sehr wenige bekommen ihn, obwohl viele behaupten, ihn
bekommen zu haben. Unendlich groß ist die Zahl der Menschenkinder, die
maßlos zu leiden wähnen und die in Wirklichkeit sehr wenig leiden.
Unendlich groß ist die Zahl derer, die sich einbilden, den Glauben zu
besitzen und deren Glauben nicht ein Staubkorn versetzte. Und welche
Worte gar sind mehr entweiht worden als Hoffnung und Liebe? Glaube,
Hoffnung, Liebe und Schmerz, der ihre Grundlage ist, sind Diamanten
(...). Diamanten kosten sehr viel, vergessen Sie es nicht. Glaube,
Hoffnung, Liebe und Schmerz kosten das Gebet, das selbst ein
unschätzbarer Edelstein ist, den wir erobern müssen.
(aus: "Der undankbare Bettler - Tagebuch von 1892-95")
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