Die Kruzifixe
von
Maria Winowska
«Was geht mich das an», erklärte Petronilla sehr beleidigt. «Was mit
den Kruzifixen geschieht, ist mir völlig gleichgültig! Gestern waren
sie da; heute sind die Mauern leer. Man hat sie also weggenommen. Ich
nicht, so viel ich weiß!»
Das ganze Personal des Sanatoriums, der Direktor eingeschlossen,
bezeugten Petronilla eine mit Angst vermischte Bewunderung. Der
Aufstieg der Arbeiterklasse hatte sie mit einer Anmaßung erfüllt, die
selbst bei den 'Bonzen' eine leise, wehmütige Erinnerung an die
alte Ordnung erweckte, die immerhin die vorlaute, unbezwingbare
Geschwätzigkeit der Hausangestellten in Schranken zu halten verstand.
Seit der Errichtung der Volksdemokratie in Polen waren alle Dämme
geborsten; man konnte nur den Rücken beugen unter der unaufhörlichen
Flut. Was Petronilla zu sagen hatte, brachte sie vor bis zur letzten
Silbe.
Heute früh hatte der Direktor, Herr Sarnecki, selbst die Schleusen
geöffnet, als er sie über die während der Nacht verschwundenen
Kruzifixe befragte. Die Fäuste in die Hüften gestemmt, die Haare in
Kampfstellung, die Wangen aufglühend, begann sie ihren Redeschwall, bis
es Herrn Sarnecki glückte, ein Wort anzubringen.
«Genossin Pchelka, Ihre Rede beeindruckt mich; aber sie löst die Frage
nicht, wohin die Kruzifixe gewandert sind.» Petronilla öffnete gerade
ihren Mund, als man an die Türe klopfte. Fräulein Olga, die
Krankenschwester, stürmte wie ein Wirbelwind herein:
«Das ist offene Auflehnung!» rief sie außer Atem; «die Kinder weigern sich, aufzustehen und sich anzukleiden!»
Petronilla triumphierte: «Sehen Sie, Genosse Direktor! Ich wette, daß
es ein Streich dieser amerikanischen Imperialisten ist! Ich habe am
Rundfunk gehört ...» Beleidigt hob sie die Schultern; Herr Sarnecki
hatte mit Fräulein Olga das Zimmer verlassen.
Ein stürmischer Tag kündigte sich an. Man erwartete den Inspektor aus
Warschau. Um seinen Besuch besonders zu ehren, hatte man am Vorabend
beschlossen, alle Überreste der von den Nonnen, den früheren
Eigentümern des Sanatoriums zurückgelassenen Symbole des Aberglaubens
ein für alle Mal verschwinden zu lassen. Sämtliche religiösen Bilder
waren entfernt worden. Nur noch die Kruzifixe blieben in jedem Saal an
ihrem Ehrenplatz. Der Hauswart Zölestin war beauftragt worden, sie auch
noch zu beseitigen. Heute morgen hing kein Kreuz mehr an der
Wand!
Und jetzt die Auflehnung der Kinder... Der Direktor stürzte in den
nächsten Saal. Die acht Bettchen waren alle besetzt. Die Kinder lagen
unter der hochgezogenen Decke und rührten sich nicht.
«Was ist denn los hier?» donnerte Herr Sarnecki. Keine Antwort. Acht
Augenpaare hefteten sich an ihn wie Pfeile. «Was fällt euch denn ein?»
fragte er schon etwas versöhnlicher. «Schauen wir nach! Das Wasser ist
warm. Warum wollt ihr euch nicht waschen?»
Die Kinder schienen mit Stummheit geschlagen zu sein. Nicht ein
einziges antwortete. Plötzlich hörte man das Knirschen des
Sandes vor der Türe, übertönt von einer dröhnenden Stimme. Petronilla
wirbelte herein.
«Der Herr Inspektor!» Das war nun doch zu viel. Man erwartete ihn
erst gegen Mittag. Wütend griff Herr Sarnecki nach einem achtjährigen
Buben, der schrie und sich wie ein Teufelchen wehrte. Kaum hatte er ihn
aus dem Bett gezogen, als er ihn wieder losließ. «O weh!» Das Kind
hatte ihn in den Arm gebissen, um sich frei zu machen.
«Was geht denn hier vor?» erkundigte sich eine Stimme hinter seinem
Rücken. Der Inspektor war, vom Lärm angezogen, eben eingetreten.
«Es ... Sie wollen ... Die Kinder weigern sich, aufzustehen und auf
meine Frage zu antworten. Das ist das Ergebnis einer rückständigen
Erziehung! Wenn die Eltern sich ...» Der Inspektor trat zum
Knaben hin, der seine Unabhängigkeit so wild verteidigt hatte und
wollte sich auf den Rand des Bettes setzen.
«Berühren Sie mich nicht!» schrie der Knabe und drehte sich um. «Es ist
keine Laune, es ist ein Beschluß! Wir alle, Buben und Mädchen, haben
uns vorgenommen, im Bett zu bleiben und uns nicht zu bewegen, bis man
uns gewährt, was wir verlangen. Wir sind in einem demokratischen Land
und bilden die Mehrheit! Also!»
«Was verlangen sie denn?» wandte sich der Inspektor an Herrn Sarnecki.
Der Direktor rauchte vor Zorn. Mit einem rauhen Griff packte er den
Buben und hob ihn mit den Tüchern und der Decke unter einem Geprassel
von wilden Fußtritten aus dem Bett ...
Ein Schreckensschrei entfuhr den sieben Kehlen, gefolgt von einem
trockenen Schlag auf dem Fußboden, auf den, allen sichtbar, ein Kruzifx
gefallen war. Herr Sarnecki lockerte seine Hand. Der Inspektor blickte
ihn fragend an. Schnell wie eine Katze schob der Bub die Matraze zu
recht, legte das Kruzifix auf sie und kroch ins Bett, die Tücher nach
sich ziehend. Bleich vor Wut donnerte der Direktor:
«Jetzt weiß ich, wo die verschwundenen Kruzifixe sind! Kleine
Rotznasen, ihr werdet es mir schwer büßen!» Mit einer Handbewegung gab
ihm der Inspektor zu verstehen, daß er schweigen solle und legte die
Hand auf den zitternden Bubenkopf.
« Keine Angst, Kleiner! Wie heißt du?»
« Jurek. Ich heiße Jurek!» (Georg)
«Sage mir, warum hast du diesen Gegenstand unter der Decke versteckt?»
Das Kind senkte den Kopf. Auf der andern Seite des Saales ertönte eine
Kinderstimme: «Sag es doch!» Petronilla schlich verstohlen herein,
einen Besen in der Hand. Jurek warf ihr einen hilfesuchenden Blick zu
und zeigte mit dem Finger auf den Direktor:
«Wir wollen nicht, daß er die Kruzifixe wegnimmt», erklärte er und
betonte jedes Wort. Händeklatschen begrüßte die Antwort. Die Kinder
gaben, auf den Betten sitzend, ihrer Zustimmung Ausdruck.
Ermutigt fuhr Jurek fort: «Wir sind alle Christenkinder. Wir lernen
unsern Katechismus. Wir beten. Wir sind die Mehrheit! Deswegen haben
wir beschlossen, daß die Kruzifixe in den Sälen bleiben müssen. Man
wollte sie uns heute wegnehmen; darum haben wir sie in unsern Betten
versteckt. Wir stehen auf, sobald man uns verspricht, daß die Kruzifixe
an ihren Plätzen bleiben. Wenn nicht, gehorchen wir nicht!» Beifall
ertönte aus allen Sälen und widerhallte unter dem Gewölbe des Ganges.
Das ganze Sanatorium schien einig und im Alarmzustand zu sein!
Der Inspektor drehte an seinem Schnurrbart und war sichtlich verlegen.
«Gut, gut, Jurek! Man wird sie euch lassen, die Kruzifixe. Ihr seid
noch zu klein, um zu verstehen. Später werdet ihr begreifen.»
«Ja», fiel ihm ein hohes Stimmchen ins Wort. «Das Kreuz ist das Kreuz,
morgen wie heute. Was sollen wir da noch verstehen lernen?»
Der Inspektor trat den Rückzug an. «Beruhigt euch, Kinder! Man gibt sie
euch ja zurück! Und jetzt, rasch aus den Betten; kleidet euch an! Auf
Wiedersehen!»
Petronilla drehte sich tänzelnd hinter dem Rücken der Herren und schloß
die Türe leise zu. Sie setzte sich neben Jurek und sagte: «Habe ich
euch nicht einen guten Rat gegeben?» Jurek schlang die Arme um ihren
Hals. «Petronilla, du bist ein Schatz!» «Achtung!» erwiderte sie
und löste sich von ihm. «Ihr werdet mich noch verraten!»
Inzwischen nahm die Aussprache im Zimmer des Direktors dramatische
Formen an. «Sehen Sie nicht, Genosse, daß Sie nur den Aberglauben
stärken, wenn Sie ihnen widersprechen? Er verschwindet von selbst, wenn
man ihn einfach übersieht. Wir schlagen den falschen Weg ein, wenn wir
Märtyrer züchten!»
«Aber in diesem Fall», wehrte sich der Direktor, «müßte man ihnen nicht
nur die Kruzifixe lassen, sondern den ganzen Kram! Pfarrer, Messe,
Beichte, Kommunion und das Übrige, wie es ihnen gerade gefällt. Wohin
wird ein solches Verhalten uns führen? Wollen Sie mich etwa auch noch
in die Messe abordnen?»
«Warum nicht?» erwiderte der Inspektor nachdenklich. «Um sie zu
gewinnen, müssen wir sie klug bearbeiten! Brutales Vorgehen bringt nur
kurzen Erfolg. Je undurchsichtiger unsere Methoden sind, um so größer
ist die Gewähr für die Erreichung des Zieles. Wir arbeiten in diesem
Augenblick ein vervollkommnetes Programm aus. Können Sie sich auf ihr
Personal verlassen?»
«Wie auf mich selbst!» «Gut so. Die Zeit arbeitet für uns ...»
«Sind Sie davon überzeugt?» Der Inspektor lächelte und prägte sich
diese Frage ins Gedächtnis. Ein wenig Defaitist, dieser Genosse
Sarnecki!
(aus: Winowska, Maria: "Die Ikone - Tatsachen aus der Kirche des Schweigens" Freiburg/Schweiz-München 1960, S. 156 ff.) |