Das Jahrhundert des Aases
von
Leon Bloy
"Beati mortui" ("glücklich die Toten" - Offb. 14,13), hat in Patmos
eine Stimme vom Himmel gerufen. Derselbe Heilige Geist, der die
Seligkeit der Toten kundtut, will auch, daß man für sie bete, und dies
wird in der furchterweckenden Totenliturgie anbefohlen. Ist für ein
menschliches Wesen irgend etwas ebenso wichtig wie das Totsein? Gibt es
einen Zustand, der liebenswerter wäre, beneidenswerter,
erstrebenswerter, köstlicher, geistiger, göttlicher,
schauereinflößender als der Zustand eines Toten, eines wahren Toten,
den man in die Erde legt und der schon vor Gott erschienen ist, um
gerichtet zu werden? Denn nun ist es doch zu Ende mit den alltäglichen
Zufälligkeiten, mit den Verpfichtungen der Welt gegenüber und mit der
Weisheit der Dummköpfe.
Es kommt nur darauf an, zu wissen, ob man im Herrn gestorben ist. Man
ist vom Absoluten verschluckt. Man ist absolut glücklich oder absolut
unglücklich, und man weiß es absolut. Was ist da noch Gemeinsames
zwischen einer solchen Seinsform, in der alles groß ist, und der
elenden Hinfälligkeit der modernen Kunstgriffe, sich mit dem
Nichtseienden zu verbünden. Ach, wieviel eher kommt der Name Aas doch
den Passagieren des neunzehnten Jahrhunderts zu, und wie paßt dieses
stinkende Jahrhundert zu ihrem Schiff! Erinnert ihr euch an das
grauenvolle Bild, das Edgar Poe ersonnen hat: Schiffbrüchige begegnen
mitten auf dem Ozean einem Sohiff, das für sie die Rettung bedeuten
würde, aber die Mannschaft dieses Schiffes ist verwest, und die Pest
zieht hinter ihr her? Es wird nicht gesagt, ob jene Leute im Herrn
gestorben sind. Man erfährt nichts darüber, man verzichtet sogar auf
jede Mutmaßung.
Die Verfaulten des neunzehnten Jahrhunderts, die das zwanzigste
Jahrhundert zum Ersticken bringen werden — wenn das Feuer nicht
dazwischenkommt —, sind nicht so namenlos wie jene aus der Geschichte
des dämonengejagten Dichters. Jeder von uns hat diese fürchterlichen
Reisenden nur zu gut kennengelernt, und wir werden nicht fertig, ihre
Geschichte zu erzählen. Aber wozu? Schon seit sehr langem fehlt mir der
Schwung, und ich frage mich, welche Hilfe euch ein so mutlos gewordener
Auskehrer bieten könnte? Vor etwa zwanzig Jahren glaubte ich, man
könne, ich will nicht sagen reinigen, aber wenigstens etwas säubern.
Heute suche ich voll Bitterkeit ein armes Abbild Gottes, das sich
ebenso vollständig geirrt hätte. Offen gesagt, es ist zuviel Dreck,
selbst für zwei, selbst für zweihunderttausend.
Ich komme auf das Wort Aas zurück, das nicht gerade fein und dessen
Lieblichkeit bestreitbar ist und das nur selten in katholischen Salons
zur Anwendung gelangt; aber es ist das einzige, was meinen Gedankengang
auszudrücken vermag. Kann mir denn einer ein anderes Wort nennen, das
mir dazu dienen könnte, die Abscheulichkeiten hier genau genug zu
bezeichnen und ihnen gerecht zu werden?
Die kleine Zahl lebendiger Seelen, denen das Blut Jesu noch etwas
bedeutet, steht einer unbegreiflich großen Menge gegenüber, die bis
heute nicht vorstellbar war. Es ist "die Schar, die niemand zählen
kann, aus den Völkern, die vor dem Throne stehen, vor dem Angesicht des
Lammes, angetan in weiße Kleider und mit Palmen in den Händen". (Offb.
7,9) Diese Völker sind die modernen Katholiken.
Endlos schreiten sie über die Wiese dahin, die vor dem Himmelstor
liegt. Und dann wird man plötzlich gewahr, daß die Vögel aus den Wolken
herabfallen, daß die Blumen verdorren, daß alles bei ihrem Vorübergehen
stirbt, daß schließlich eine Schleimspur von Fäulnis sich hinter ihnen
herzieht, und wenn man sie anrührt, scheint man auf ewig angesteckt zu
sein wie Philoktet. Das ist die Prozession des Aases. Ich frage noch
einmal, gibt es denn ein anderes Wort dafür? Dieser Greuel gehört dem
neunzehnten Jahrhundert an. In anderen Zeitläuften fiel man offen und
ehrlich vom Glauben ab. Man war unbefangen und entschlossen ein
Abtrünniger. Man empfing den Leib Christi und ging dann hin, ihn ohne
viel Feilschen zu verkaufen, wie man einem Armen zu Hilfe gekommen
wäre. Das war, kurz gesagt, ein sauberes Geschäft, und man war mit
schöner Freimütigkeit ein Judas. Heute ist das ganz anders; aber bevor
ich fortfahre, bitte ich euch und jene, die mich einmal lesen werden,
steht mir bei mit euren Gebeten.
Seit zwanzig Jahren wiederhole ich es in jeder meiner Schriften. Noch
nie hat es etwas so Hassenswertes, so ganz und gar Fluchwürdiges
gegeben wie das zeitgenössische katholische Kirchenvolk — wenigstens in
Frankreich und in Belgien, und ich versage mir die Frage, was wohl das
Feuer vom Himmel mit größerer Sicherheit herabrufen könnte. Wenn eine
Tatsache bekannt und unerklär-bar ist, so jene, daß Gott dies alles
zuläßt. Das ist eine ausgemachte Sache. Ich will hier nicht von dem
Blutschweiß reden oder von irgend einem anderen Geheimnis der Passion;
das alles glaube ich schon in meiner Kindheit gesehen zu haben, als
eine alte Verwandte, die mich auf ihrem Schoß ein-wiegte, zu mir sagte:
"Wenn du nicht artig bist, spucken dir die Juden ins Gesicht." Ich will
auch nichts anderes ins Gedächtnis zurückrufen, was in Gethsemane
Furcht erregte aber nicht vergessen soll der erstaunliche Hohn sein,
die unverzeihliche und beispiellose Lästerung, mit welcher der
schmutzige Apostel das Zeichen zum Beginn der göttlichen Qualen gibt:
"Osculetur me osculo oris sui." (Hohelied 1,1)
Um es bei dieser Gelegenheit beiläufig zu sagen, wann wird denn der
Bibelausleger, der unvergleichliche Erklärer kommen, durch den wir
endlich erfahren werden, daß das Hohelied Salomonis einfach eine
vorweggenommene Erzählung der Passion ist, einige dreißig Generationen
vor den vier Evangelien? Noch einmal also, Gott läßt das alles zu — nur
eines nicht. "Non patietur vos tentari supra id quod potestis" (Kor.
10,13). Alles, aber nicht dies eine: "Gott läßt es nicht zu, daß ihr
über eure Kräfte versucht werdet." Nun, man könnte glauben, daß wir so
weit sind, und zwar schon seit langem. Es ist niederschmetternd.
Ich erkläre im Namen einer ganz kleinen Gruppe von Menschen, die Gott
lieben und entschlossen sind, wenn es sein muß, für ihn zu sterben, daß
der Anblick der modernen Katholiken eine Versuchung ist, die über
unsere Kräfte geht. Was mich betrifft, so gestehe ich, daß meine Kräfte
sehr abgenommen haben. Ich werde jetzt vierundfünfzig Jahre alt, und
seit wenigstens dreißig Jahren sehe ich die Katholiken die übelsten
Schmutzereien begehen. Ich will gern, daß diese Schweine meine Brüder
seien oder wenigstens meine Vettern, da ich, wie sie, katholisch bin
und verpflichtet, demselben Hirten zu gehorchen, der ohne Zweifel ein
verlorener Sohn ist; aber wie sollte man nicht aufspringen, nicht
entsetzliche Schreie ausstoßen?...
Ich lebe oder, richtiger gesagt, ich vegetiere schmerzlich und
wunderbarerweise hier in Dänemark, ohne Möglichkeit, zu entrinnen,
unter unheilbaren Protestanten, die etwa dreihundert Jahre lang von
keinem Licht mehr getroffen wurden, seit ihre Nation, ohne eine Sekunde
zu zögern, auf die Stimme eines davongelaufenen Mönches sich in einem
Massenaufstand erhoben hat, um Jesus Christus zu verleugnen. Die
Schwächung der Vernunft bei diesen armen Menschen ist eines der
erschreckendsten Wunder der göttlichen Gerechtigkeit. Ihre Unwissenheit
übersteigt alles, was man sich vorstellen kann. Sie sind so weit, nicht
ein einziges umfassendes Gedankenbild mehr formen zu können und
ausschließlich in abgegriffenen Gemeinplätzen zu leben, die sie ihren
Kindern hinterlassen, als seien es Neuheiten. Finsternis über
Gräbern.
Aber die Katholiken! Geschöpfe, die groß geworden und erzogen sind im
Licht, keinen Augenblick im unklaren darüber gelassen, daß sie in einem
erschreckenden Stand der Bevorrechteten leben; sie können gar nicht
immer nur dem Irrtum begegnen, so sehr hat die Gemeinschaft, in der sie
leben — mag sie zerstört sein, wie sie ist —, noch göttliche Einheit
bewahren können! Geistige Wesen, in die gleich den Schalen der von Gott
Eingeladenen nur der starke Wein der wahren Lehre unvermischt gegossen
wurde!... Diese Wesen, sage ich, sind freiwillig in die finsteren Räume
hinabgestiegen, noch tiefer als die Häretiker und die Ungläubigen,
angetan mit dem Geschmeide des Hochzeitsfestes, um dort entsetzliche
Götzenbilder verliebt zu küssen!
Feigherzigkeit, Geiz, Dummheit, Grausamkeit. Nicht lieben, nicht geben,
nicht sehen, nicht begrei-fen, und, so viel man kann, Leiden
verursachen! Genau das Gegenteil des "Nolite conformari huic saeculo"
("Machet euch nicht gleichförmig diesem Jahrhundert" - Röm. 12,2). Die
Verachtung dieses Gebotes ist unzweifelhaft das Vollendetste an
Unseligkeit, was der menschliche Wille fertiggebracht hat, seit das
Christentum verkündet wird... Ich kenne nichts, was meinen Ekel so
erregt, wie über diese Elenden zu sprechen, die das LEIDEN des
Heilandes noch klein erscheinen lassen, so sehr sieht es danach aus,
daß sie imstande gewesen wären, es besser zu machen als die Henker von
Jerusalem...
Wollt ihr, daß wir von ihren Armen sprechen, nur von ihren Armen, zu
denen ich die Ehre habe zu gehören? Eines Tages begegnete mir in Paris
eine Meute sehr schöner Hunde, die irgend einem schlechten Apostel
gehörten, der seinen Herrn für sehr viel mehr als dreißig Silberlinge
zu verkaufen verstanden hatte. Ich habe davon gesprochen, ich weiß
nicht mehr wo. Ich habe der maßlosen und tiefen Empörung mit Worten
Ausdruck geben müssen, der Regung eines ungeheuren Hasses, der in mir
beim Anblick dieser sechzig oder achtzig Hunde aufstieg, die täglich
das Brot von sechzig oder achtzig Armen fraßen. Damals war ich noch
sehr jung, aber schon sehr vom Hunger gepeinigt, und ich erinnere mich
recht genau, daß ich mich vergeblich bemühte, der Armen Geduld zu
begreifen, der man derartige Herausforderungen zumuten konnte, und daß
ich mit knirschenden Zähnen nach Hause kam. Ach, ich weiß es wohl, daß
der Reichtum der entsetzlichste Bannfluch ist, daß den Verdammten, die
ihn zum Schaden der schmerzgepeinigten Glieder Jesu Christi besitzen,
unfaßbare Qualen verheißen sind, und daß jemand ihnen die Behausung des
Heulens und des Entsetzens frei hält. Ja, sicherlich ist diese
biblische Gewißheit erquickend für jene, die in dieser Welt leiden.
Aber wenn man über das gegenseitige Aufeinanderbezogensein der
Schmerzen nachsinnt und sich bewußt macht, daß zum Beispiel ein kleines
Kind in einem eisigen Zimmer von Hunger gequält werden muß, damit eine
entzückende Christin nicht der Lust an einer erlesenen Mahlzeit vor
einem warmen Ofen beraubt ist; ja dann wird es einem schon etwas lang,
zu warten, und wie verstehe ich es, daß die Verzweifelten sich selbst
Gerechtigkeit zu verschaffen suchen!
Ich habe zuweilen geglaubt, jene Meute, die mich in meiner Erinnerung
verfolgt, sei eines der schmerzhaften Bilder, die sich durch den
Traumgrund meines Lebens ziehen, und ich habe mir gesagt, dieses wilde
Rudel sei auf eine besondere Weise - viel genauer, als man glauben
könnte - dazu da, den Armen zu jagen. Schrecklicher Alpdruck! Hört ihr
das Konzert in dem festlichen Palast, die Musik, die Instrumente der
Freude und der Liebe, welche die Menschen glauben machen, daß ihr
Paradies nicht verloren ist! Nun, für mich ist das immer die Fanfare
zum Loslassen der Meute, das Signal zur Parforcejagd. Gilt es heute
mir? Gilt es meinem Bruder? Und wie sollen wir uns verteidigen?
Aber jene Grausamen, deren laute Freude den Armen in Angstschweiß
versetzt, sind immerhin Katholiken, Christen wie er, nicht wahr? Und
alles, was das Zeichen Gottes auf Erden trägt, die Kreuze am Wegesrand,
die frommen Bilder der alten Zeiten, der Turm einer schlichten Kirche
am Horizont, die Toten, die auf dem Friedhof ruhen und ihre Hände in
den Gräbern falten, selbst die Tiere, die über die Bosheit des Menschen
in Erstaunen geraten und aussehen, als ob sie Kain in den stillen Seen
ihrer Augen ertränken wollen;... alles verwendet sich doch für den
Armen, und alles verwendet sich vergebens. Die Heiligen, die Engel
richten nichts aus; selbst die Gottesmutter wird schroff abgewiesen;
und der Jäger verfolgt sein Opfer ohne den blutüberströmten Heiland
auch nur bemerkt zu haben, der herbeigeeilt ist und ihm seinen Leib
darbietet!...
Ich bin mit diesem Versuch eines Gleichnisses nicht zufrieden, es
vermittelt nur schlecht den Eindruck dessen, was ich denke, und vor
allem dessen, was ich fühle. Aber was tut es? Vom Absoluten her, das
mein Standort ist, kann ich im Reichen, und vor allem im katholischen
Reichen, unmöglich etwas anderes sehen als den Verfolger und
Verschlinger des Armen. So spricht auch der Heilige Geist von ihm, und
es ist genau dieselbe Schau, auf welche die kümmerliche Wissenschaft
hinzielt, die man Nationalökonomie hat nennen wollen.
Es ist für die Vernunft unerträglich, daß der eine Mensch mit
Reichtümern vollgestopft geboren wird und der andere auf dem Grunde
einer Dunggrube. Das Wort Gottes ist aus Widerwillen gegen diese Welt
in einen Stall herabgekommen, die Kinder wissen es, und alle Klügeleien
der Dämonen werden an dem Mysterium nichts ändern, daß die Freude des
Reichen zum LEBENSMARK den Schmerz des Armen hat. Wenn man das nicht
versteht, ist man ein Dummkopf in Zeit und Ewigkeit. - Ein Dummkopf in
Ewigkeit!
Ach, wenn die modernen Reichen noch echte Heiden wären, erklärte
Götzendiener! es wäre nichts dagegen zu sagen. Ihre oberste Pflicht
wäre dann offenbar, die Schwachen zu vernichten, und die der Schwachen
wäre es ihrerseits, die Reichen umzubringen, wenn sich die Gelegenheit
dazu bietet. Aber sie wollen ja trotz allem Katholiken sein, und was
für Katholiken! Sie maßen sich an, ihre Götzen noch in den
anbetungswürdigen heiligen Wunden zu verstecken ! ...
Und ihr wollt, daß ich sie nicht als Aas bezeichne!
(aus: Mon journal II)
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