Die Brunnquelle
von
Bischof Joh. Michael Sailer
In einem großen Königreich war eine Brunnquelle, aus der Tag und Nacht
das reinste Wasser floß und sich in tausendmal tausend Kanälen ergoß,
die, unsichtbar angelegt, unzählige Öffnungen hatten und jedes offene,
hingehaltene Gefäß füllten nach seiner Empfänglichkeit. Die besseren
Untertanen und Diener des Königs brachten ihre Gefäße zur nächsten
Öffnung des nächstliegenden Kanals und ließen sie voll anlaufen, labten
sich dankbar an dem geschöpften Wasser und gingen gestärkt an ihr
Tagewerk; kamen täglich wieder, befriedigten jedesmal ihr Bedürfnis,
und gebrauchten die Gabe und die dadurch ergänzten Kräfte zur Ehre des
Königs und der Brunnquelle.
Aber die besseren waren leider nicht die meisten, denn
1. einige waren zu träge, die Quellen in ihren Kanälen und Öffnungen
selbst zu besuchen, kauften von Krämern ein Wasser, das diese für
Quellwasser ausgaben, tranken die verfälschte Ware und wurden immer
krüppeliger.
2. Andere, nicht bloß träge, sondern böse, die die Wirkungen des
verfälschten Wassers an ihren Zeitgenossen sahen, lästerten die
Brunnquelle als eine vergiftete Quelle und sagten laut und schrieben
und ließen es drucken: die Quelle töte - tranken selbst nicht aus der
Quelle und ließen auch andere nicht daraus trinken.
3. Es fehlte auch nicht an erzbösen Untertanen, die heimlich die Kanäle
verstopften, oder Kot und Steine in die Abflüsse warfen, oder den
Schöpfgeschirren den Boden ausschlugen, und dann die Schuld von
allledem - einzig auf die Brunnquelle legten: sie sei eine ärmliche,
unreine Quelle, und ihre ersten Freunde wären vor Durst auf dürren
Sandwüsten verschmachtet.
4. Da traten rüstige Männer auf, studierten über die Brunnquelle, statt
daraus zu trinken, und nahmen es über sich, die Brunnquelle in großen
Streitschriften zu verteidigen, da sie doch keiner Apologie bedurfte
oder sich selbst am besten verteidigte, indem ihre wohltätigen
Ausflüsse alle empfänglichen Gefäße füllten, und alle redlichen Pilger,
die die angebotene Hilfe nicht verschmähten, labten und stärkten. Das
schlimmste dieser Apologeten war wohl dies, daß sie in der Hitze der
Verteidigung ihr eigenes Bedürfnis zu befriedigen vergaßen, und so in
die größte Gefahr gerieten, selbst zu verschmachten. Das schlimmste
ihrer Apologien aber war dies, daß ihr Verfasser, weil sie die
Wohltätigkeit der Brunnquelle nicht aus Erfahrung kannten, eigentlich
auch nicht recht wissen konnten, was sie verteidigten, und so fort
durch ihre Apologien selbst dem lauernden Auge der Lästerung neue
Blößen gaben, und die heilige Brunnquelle durch ihre Ehrenrettung in
neues Geschrei brachten.
5. Nicht wenige gruben sich, nahe bei ihren Wohnungen, eigene
Zisternen, die kein gesundes Wasser sammeln konnten, weil sie an
Pfützen und Moräste angrenzten, - keines halten konnten, weil sie
löcherig waren; umpflanzten sie mit hohen Pappeln, faßten sie mit
großen Mauern und schönen Geländern ein, und schrieben mit goldenen
Buchstaben auf eine eingemauerte Marmorplatte: "Hier ist das beste
Quellwasser", und glaubten wirklich, in diesen Zisternen das ewige
Leben zu finden.
6. Wieder andere ließen sich die Brunnquelle in ihre Geheimstuben
malen, und glaubten durch ordentliche Betrachtungen des Gemäldes ihren
Durst löschen zu können, und sahen mit Verachtung auf die, welche zur
lebendigen Brunnquelle wallfahrteten.
7. Einige trugen ein gutes oder schlechtes Gemälde an dem Halse oder an
der Brust oder in der Rocktasche, und glaubten auf diese Weise vor dem
Verschmachten in den Tagen der Dürre sicher zu sein.
8. Endlich kamen einige mit breiten, andere mit schmalen Denkzetteln,
und rückten mit ihrer gewaltigen Demonstration heraus, daß es im
Königreiche gar keine Brunnquelle gebe, und nannten alle Erzählungen
von ihr und der Kraft ihres Wassers Schwärmerei, Hyperphysik,
Supernaturalismus, Pfaffentrug und wie die Worte des Tages weiter
heißen.
9. Umsonst traten andere mit dem authentischen Berichte von der
Brunnquelle auf, der im Archive des Königreiches lag, und wollten
daraus das Dasein und die Wohltätigkeit derselben beweisen; denn nun
ergingen über den Bericht alle die Schicksale von Streit und Lästerung,
die bisher über die Brunnquelle selbst obwalteten.
(aus: Sailer, Johann Michael: "Christliche Briefe eines Ungenannten", hrsg. v. Franz Keller, Freiburg 1919, S. 13 ff.) |