PREDIGT ÜBER DIE HIMMELFAHRT DES HERRN
vom
hl. Leo d.Gr., Papst von 440-461
Geliebteste!
1. Heute sind es vierzig Tage seit der segenbringenden und ruhmreichen
Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus, durch die Gottes Macht den
durch die Bosheit der Juden zerstörten wahren "Gottestempel" wieder
aufrichtete (vgl. Joh. 2,19ff.). Nach ihrem hochheiligen Ratschlusse
waren diese Tage dazu bestimmt, uns zu fördern und zu belehren. Dadurch
nämlich, daß der Herr noch so lange mit seinem Leibe auf Erden weilte,
sollte der Glaube an die Auferstehung durch notwendige Beweise gestützt
werden; denn der Tod Christi hatte seine Jünger sehr verwirrt. Infolge
der Kreuzigung Jesu, seines Verscheidens und der Bestattung seines
entseelten Leibes hatte eine Art lähmenden Mißtrauens ihre von Schmerz
erfüllten Herzen beschlichen.
So kam es, daß die Apostel und die übrigen Jünger den Bericht der
heiligen Frauen, die ihnen, wie das Evangelium erzählt (vgl. u.a.
Matth. 28,1 ff; Mark. 16,4 ff.), die Kunde brachten, daß der Stein
weggewälzt und der Leichnam nicht mehr im Grabe sei, und daß Engel die
Auferstehung des Herrn bezeugt hätten, für törichtes Gerede hielten
(Luk. 24,11). Dieses aus der menschlichen Schwachheit entspringende
Schwanken hätte der Geist der Wahrheit sicherlich von seinen Herolden
ferngehalten, wenn nicht durch ihre Ängstlichkeit und ihr wißbegieriges
Zögern unser Glaube gefestigt worden wäre. Unserer Unsicherheit und der
Möglichkeit unseres Falles wurde in den Aposteln Rechnung getragen. Wir
wurden in jenen Männern gegen die Schmähungen der Gottlosen und die
Scheingründe irdischer Weisheit gewappnet. Uns kam es zugute, wenn sie
den Herrn sahen, seine Worte hörten und ihn betasteten. Laßt uns
darum Gott für seine Anordnungen und den heiligen Vätern für ihre
notwendige Kleingläubigkeit danken! Andere zweifelten, damit wir
nicht mehr zu zweifeln brauchten.
2. Die Tage zwischen der Auferstehung und der Himmelfahrt des
Herrn verstrichen, Geliebteste, nicht fruchtlos, sondern es wurden
während dieser Zeit große Sakramente eingesetzt und große Geheimnisse
enthüllt: In diesen Tagen wurde die Furcht vor dem bitteren Tode von
uns genommen und uns die Unsterblichkeit der Seele und des Leibes vor
Augen geführt. In diesen Tagen wurde allen Jüngern durch den Hauch des
Herrn der Heilige Geist verliehen (vgl. Joh. 20,22) und dem seligen
Petrus als Vorrang vor den übrigen Aposteln nach Übertragung der
Schlüsselgewalt auch die Sorge für die Schäflein Christi anvertraut
(vgl. ebd. 21,15ff.; Matth. 16,19).
In diesen Tagen gesellte sich der Herr als Dritter auf dem Wege zu den
zwei Jüngern und tadelte die Verzagtheit der von Furcht Erschütterten,
um alle Nebelschwaden unseres Zweifels zu zerstreuen (vgl.
Luk. 24,25 ff.). Und, in den erleuchteten Herzen flammte der Glaube
auf, und was soeben noch lau gewesen war, das entbrannte vor Eifer, als
der Herr die Schrift erschloß. Auch beim Brechen des Brotes wurden
jenen, die mit Christus am Mahle teilnahmen, die Augen geöffnet (vgl.
ebd. 30f.). Und dieses "Aufgehen der Augen" war bei diesen, denen die
Verherrlichung ihrer Natur geoffenbart wurde, weit freudiger als bei
unseren Stammeltern, die das Verdammungsurteil ihres Ungehorsams hörten
(vgl. Gen. 3,16ff).
3. Trotz dieser und anderer Wunder überließen sich die Jünger bald mehr
bald weniger ihren verzagten Gedanken. Da erschien der Herr in ihrer
Mitte und sprach zu ihnen:"Der Friede sei mit euch!" (Luk. 24,36; Mark.
16,14 Joh. 20,19). Und damit sie nicht an der Meinung festhielten, die
sie in ihrem Inneren hatten - sie glaubten nämlich, einen Geist und
nicht ein Wesen von Fleisch und Blut zu sehen (Vgl. Luk. 24,37) -, wies
er ihnen nach, daß ihre Anschauungen mit der Wahrheit in Widerspruch
stünden. Er zeigte den Zweifelnden die Wundmale, die an seinen Händen
und Füßen erhalten geblieben waren, und lud sie ein, sie genauer zu
betasten (vgl. ebd. 40; Joh. 20,27). Um die Herzen der Kleingläubigen
zu bekehren, ließ er die Spuren der Nägel und der Lanze bestehen.
Sollte man doch nicht nur vermuten, sondern aufs bestimmteste wissen,
daß die Natur, die im Grabe gelegen war, den Thron des Vaters teilen
wird.
4. Während der ganzen Zeit, die zwischen der Auferstehung des Herrn und
seiner Himmelfahrt liegt, hat, Geliebteste, die Vorsehung Gottes für
die Ihrigen gesorgt, sie belehrt und sich ihrem Auge und ihrem Herzen
geoffenbart: Sie sollten erkennen, daß unser Herr Jesus Christus, der
wahrhaft Mensch geworden war, der wahrhaft litt und starb, auch
wahrhaft von den Toten auferstanden sei! Dadurch wurden, die
hochseligen Apostel und alle Jünger, die über den Tod am Kreuze
bestürzt und in ihrem Glauben an die Auferstehung unsicher geworden
waren, derart durch die nun sichtbare Wahrheit gefestigt, daß sie nicht
Trauer, sondern große Freude empfanden (vgl. Luk. 24,52), als der Herr
zu den Himmelshöhen emporstieg. Und in der Tat hatte die heilige
Jüngerschar unsagbar viele Gründe, sich zu freuen, als vor ihren Augen
die menschliche Natur hoch über allen Geschöpfen des Himmels ihren
Platz einnahm, um nunmehr über den Chören der Engel und den erhabenen
Erzengeln zu stehen und erst auf dem Sitze des ewigen Vaters das
Endziel ihrer Erhebung zu finden (vgl. Mark. 16,19) und auf
diesem Throne die Herr Iichkeit dessen zu teilen, mit dessen Wesen sie
durch den Sohn in Verbindung stand.
Weil also die Himmelfahrt Christi unsere eigene Erhebung bedeutet und
unser Leib hoffen kann, dorthin berufen zu werden, wohin ihm des
"Hauptes Herrlichkeit" vorangegangen ist, so wollen wir, Geliebteste,
voll geziemender Freude frohlocken und diese Freude durch
gottgefälligen Dank zum Ausdruck bringen. Heute ist uns nicht nur der
Besitz des Paradieses bestätigt worden, heute sind wir auch durch
Christus in die Höhen des Himmels eingezogen. Wertvoller ist das, was
uns durch die unbeschreibliche "Gnade des Herrn" zuteil wurde, als was
wir durch des "Teufels Neid" (vgl. Weish. 2,24) verloren hatten.
Jene, die der giftige Feind aus der Glückseligkeit ihres ursprünglichen
Wohnsitzes vertrieb, hat Gottes Sohn sich einverleibt und zur Rechten
des Vaters gesetzt, mit dem er lebt und waltet in der Einheit des
Heiligen Geistes als Gott in alle Ewigkeit. Amen.
(Leo d.Gr., Sermo LXXIII - 1. Predigt auf Christi Himmelfahrt - in:
"Bibliothek der Kirchenväter" Bd.55, München 1927, S. 204 ff.) |