EINE ÖFFENTLICHE BEICHTE
von
Maria Winowska
«Herr Pfarrer, man wünscht Sie zu sprechen!» Die breitschultrige
Euphrosine trocknete die Hände am Schürzenzipfel. Von ihrem runden
Gesicht tropfte der Schweiß. Ihr ganzes Wesen strahlte Ordnung und Ruhe
aus. Als richtige Tochter Evas schien sie jetzt voller Neugierde zu
sein. Pfarrer Matthias fuhr auf: «Wer ist es?» «Das weiß Gott!
Sie sehen aus wie Städter.» In Euphrosines Mund war das kein Vorzug.
Sie stand noch immer da und füllte mit ihrer mächtigen Gestalt den
ganzen Türrahmen. Die Wanduhr krächzte und ächzte, bevor sie mit
spürbarer Anstrengung sieben Schläge hören ließ.
«Wenn sie zu lange bleiben, sind die Pfannkuchen für die Katze»,
seufzte Euphrosine. Pfarrer Matthias' Schweigen beeindruckte sie.
«Sagen Sie, Herr Pfarrer, soll ich Philipp
benachrichtigen?» Der Priester erwiderte: «Warum denn
Euphrosine? Führe die Herren herein.» Sie trat beiseite und gab zwei
Männern mit glattem, unpersönlichem Gesicht den Weg frei. Hinter seinem
Arbeitstisch stehend betrachtete Pfarrer Matthias die beiden mit einem
Blick, der Eindruck machen sollte. Seine Hand auf dem Brevier zitterte.
Die Unbekannten warteten die Einladung, Platz zu nehmen, nicht ab. Der
ältere, der das Vorgehen zu bestimmen schien, setzte sich im Lehnstuhl,
gegenüber dem Priester, bequem zurecht, streckte die Beine weit von
sich und zündete eine Zigarette an. «Haben Sie nun überlegt?» fragte
er. Sein Begleiter ließ sich auf einen Schemel nieder und begann zu
pfeifen.
Ein scharfer Regen prasselte im Wind gegen das Fenster. Euphrosine, in
ihr Zimmer verbannt, sang mit näselnder Stimme ein Muttergotteslied.
«Um sich Mut zu machen», dachte Pfarrer Matthias. Er schwieg noch
immer. «Nun, wie steht es?» drängte der Unbekannte. Und mit befehlender
Stimme fuhr er weiter: «Entscheiden Sie sich, Herr Pfarrer, der Handel
ist einfach, und was wir Ihnen vorschlagen, ist ganz zu Ihrem Vorteil.
Was verlangt man von Ihnen, im Grunde ? Eine kleine Unterschrift unten
auf einem Papier. Seien Sie versichert, Sie werden sich in guter
Gesellschaft befinden. Der Nationalen Front anzugehören ist keine
Schande! Wir alle kämpfen für den Frieden, ein jeder mit seinen
Mitteln. Sagt euer Evangelium nicht: 'Friede den Menschen guten
Willens?' Was scheuen Sie sich? Aber sollten Sie sich weigern...»
Er machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte zu verkosten. Das
Gesicht des Geistlichen ließ keinerlei Erregung erkennen, aber seine
Hand, die er nicht überwachte, zitterte mehr und mehr.
«Wenn Sie sich weigern», fuhr der Besucher fort, «wird es zum Skandal
kommen. Ich weiß, daß Ihr Leben seit fünfundzwanzig Jahren untadelig
ist, und daß lhre Pfarrkinder Sie hochschätzen. Aber sie kennen einige
Kleinigkeiten Ihrer überbordenden Jugend nicht! Stellen Sie sich einen
Augenblick vor, man würde ihnen davon berichten... Sie würden von Ihrem
Sockel gestürzt! Der heiligmäßige Pfarrer, der unbestechliche Asket,
der Verteidiger der Witwen und Waisen: in welchem Dreck hat er sich
einst gewälzt und was für kirchliche Strafen hatte er abzubüßen! Ich
weiß, daß eure Kirche es gut versteht, den Schwamm über gewisse Sünden
zu wischen! Aber das Volk begreift das nicht; es richtet! Das Volk
liebt die übertünchten Gräber nicht und weniger noch Fassaden von
morschem Gebälk.» Bleich wie ein Leintuch, die Augen gesenkt, schwieg
Pfarrer Matthias noch immer. Der jüngere der beiden unterbrach die
Prüfung der Bücherbestände, um seinem Genossen Hilfe zu leisten, der
sichtbar am Ende seiner Überredungskunst war. «Verlieren wir unsere
Zeit nicht!» erklärte er und betonte jede Silbe. «Wir haben Ihnen einen
Handel vorgeschlagen. Sie unterzeichnen, und Ihr Ruf bleibt
unangetastet. Im andern Falle führen wir Ihren Pfarrkindern die Frau
vor Augen, die Sie verführt haben und mit ihr die eher mißratene Frucht
Ihrer Liebe. Ist der Vorschlag klar genug? Entscheiden Sie sich!»
Jetzt perlten große Schweißtropfen von der Stirne des Priesters. Das
Zittern der Hände ging auf den ganzen Körper über, der vom Veitstanz
befallen zu sein schien. Er öffnete den Mund, aber kein Laut vermochte
aus seiner verkrampften Kehle zu dringen. In seinem Kopf wirbelte ein
Sturm sich widersprechender Gedanken. Wie ein verfolgtes Tier wich er
einige Schritte zurück und lehnte sich an die Wand. Aus seinem
Unterbewußtsein stieg ein wildes Sehnen: «Eher den Tod! Sie sollen mich
umbringen!» Ein heftiger Schmerz preßte das Herz zusammen wie ein
Schraubstock, und nahm ihm den Atem. Plötzlich durchblitzte ihn ein
Gedanke: «Mein Gott, mein Gott, erbarme Dich meiner!» Die Flut begann
abzuebben und brach sich an unerwarteten Riffen. Von einem unendlich
weichen, schützenden Grundwirbel erfaßt fühlte er sich auftauchen aus
dem Abgrund. Mit rauher Stimme sagte er: «Morgen, nach dem Hochamt,
gebe ich Euch die Antwort.» Die Unbekannten wechselten einen Blick.
«Gut! Wir warten.»
Vergeblich kam Euphrosine wieder an die Türe des Arbeitszimmers, in das
sie die 'Herren' geführt hatte. Ihre Würde untersagte ihr, das Ohr ans
Schlüsselloch zu legen; doch ihre Neugierde war so stark, daß sie es
nicht der Vorsehung überlassen wollte, einige Brocken des Gespräches
zufällig zu erhaschen. Aber sie bemühte sich umsonst und mußte die
Besucher aus dem Hause geleiten, ohne das Geheimnis erfahren zu haben.
«Auf Morgen, also», verabschiedeten sie sich. Es gab demnach eine
Fortsetzung!
Der Herr Pfarrer erwies den Pfannkuchen, die doch hervorragend geraten
waren, keine Ehre. Mehr als je zerstreut und abwesend, trank er nur
eine Tasse Tee und täuschte eine plötzliche Müdigkeit vor, um sich
sogleich zurückzuziehen. Nachdem Euphrosine den Tisch abgeräumt hatte,
zog sie ein dickes Wolltuch über den Kopf und verließ das Haus, um die
Dorfleute zu benachrichtigen. «Meine Nase trügt mich nie», erklärte
sie; «ich lege die Hand ins Feuer, daß es Agenten sind, die den Herrn
Pfarrer einstecken wollen.» Eine Stunde später war das ganze Dorf von
tausendfünfhundert Seelen in Bewegung. «Beruhigen Sie sich,
Euphrosine», ermahnte der Gemeindeamtmann, «das wird den Kerlen nicht
gelingen.»
Am folgenden Tag übertraf sich die Pfarrei, die den Gottesdienst immer
gut besuchte, selbst. Außer den Schwerkranken und Gebrechlichen fanden
sich alle Einwohner in der Kirche ein: Männer, Frauen und Kinder. Das
Gotteshaus war zum Bersten angefüllt, und die zuletzt Gekommenen
drängten sich auf den Treppen der Kanzel und Empore. Auf Gesimsen und
Balken suchten kleine Schlingel das stets gefährdete Gleichgewicht zu
bewahren. Die Männer waren nachdenklich und entschlossen. Alle Blicke
richteten sich verstohlen auf zwei Unbekannte in Gabardinemänteln, die
an der Säule gegenüber der Kanzel standen. Die Frauen beteten das
Muttergottesoffizium, während der Herr Pfarrer die Beichte der in
langen Scharen wartenden Bußfertigen hörte.
Endlich begann die Messe. Die Gläubigen sangen mit aller Kraft ihrer
Lungen Weihnachtslieder. Die Anwesenheit der Unbekannten verdoppelte
ihren Eifer. «Sie sollen es wagen, unseren Pfarrer zu belästigen!»
dachten sie einhellig. Denn sie alle liebten Pfarrer Matthias von
Herzen, und viele hätten sich für ihn in kleine Stücke schneiden
lassen. Nach dem Evangelium legte der Geistliche das Meßgewand ab und
stieg auf die Kanzel. Wie gewöhnlich entstand eine Bewegung; die einen
setzten sich, die andern husteten und niesten 'im voraus'. Erst
bemerkten es, nicht ohne Erregung, die Frauen, dann aber auch die
Männer, daß der Herr Pfarrer gerötete Augen und einen Ausdruck großer
Müdigkeit hatte. Noch einige Geräusche, und es folgte eine solche
Stille, daß man das Summen einer Fliege gehört hätte!
Pfarrer Matthias umfaßte sein Volk mit einem Blick, bemerkte die
Spitzel an der Säule, schlug das Kreuzzeichen mit großer Geste und
begann: «Meine lieben Pfarrkinder! Heute halte ich nicht die
gewohnte Predigt! Ich habe während der letzten Nacht einen schweren
Entschluß gefaßt. Ich bin euer Pfarrer, das heißt, euer Vater. Ich
liebe euch als meine Kinder, und ihr erwidert meine Gefühle, ihr
behandelt mich wie einen Vater. So ist es nur recht, wenn ihr die volle
Wahrheit über mich kennenlernt. Ich gestehe, daß es hart ist, davon zu
sprechen, und darum beten wir gemeinsam ein 'Vater unser' und ein 'Ave
Maria.'» Erstaunt und erschüttert wogte das Volk hin und her wie ein
Feld Ähren im Wind. Noch nie hatten die Gewölbe der Kirche ein
innigeres Gebet gehört! Dann fiel die Stille wieder in ihrer ganzen
Schwere in den Raum. Die Hände auf den Kanzelrand gestützt, fuhr der
Priester fort: «Meine lieben Pfarrkinder, ihr ehrt und schätzt mich als
guten Geistlichen, der ich nicht bin. Ich glaube, daß ihr euch, würdet
ihr mich kennen, wie ich mich kenne, vor mir zurückzöget! Ich bin kein
Heiliger. Ich bin ein großer, ein sehr großer Sünder. Das sind keine
inhaltslosen Worte, das ist auch kein einfacher Reueakt. Ich habe
beschlossen, heute vor euch allen öffentlich zu beichten ...»
Ein heftiges Schluchzen unterbrach die Stille; dann noch eines. «Herr
Jesus!» ertönte eine hohe Stimme. Die lebendige Woge neigte sich zur
Kanzel hin, wie um sie zu umfassen. Alle Blicke waren auf den Priester
gerichtet, der eben niedergekniet war. «Meine lieben Pfarrkinder,
während der ersten Jahrhunderte herrschte in der Kirche die Gewohnheit,
die Sünden öffentlich zu bekennen. Dieser Brauch ist nicht mehr in
Übung. Aber unter gewissen besonderen Umständen wird er weder von Gott
noch von der Kirche verboten. Ich habe schwerwiegende Gründe, heute so
zu euch zu sprechen, wie ich es tue. Hört mich darum an...».
Seine Stimme war einen Augenblick wie verschleiert, wurde nun aber sehr
bestimmt und klar. Er erhob die Augen zum Kruzifix, das der Kanzel
gegenüber hing. «Ich möchte, liebe Pfarrkinder, daß ihr jetzt imstande
wärt, mich so zu sehen, wie Gott mich sieht und wie Er mir meine Seele
zeigt. Am Tage des letzten Gerichtes wird alles ans Licht gezogen. Wenn
ich heute so zu euch spreche, so greife ich dem Jüngsten Gericht vor!
Ihr achtet mich als Priester. Meine Kinder, früher habe ich schwer
gesündigt gegen die Gnade und meine priesterlichen Pflichten. Ich habe
dem Gelübde meines Subdiakonats zuwidergehandelt. Ich habe gesündigt
und war Ursache zur Sünde, vielleicht sogar Ursache der Verzweiflung.
Aus meinem Meineid ist ein Kind geboren worden, ein armes, unschuldiges
Kind. Der Taumel, der Rausch dauerte nur einige Wochen: genug jedoch,
um bis ans Ende meiner Tage mit blutigen Tränen beweint zu werden. Mein
Bischof hat mich gerettet, mich und mein Priestertum. Er hat sich der
Mutter und des Kindes, der beiden armen Geschöpfe, angenommen. Ihm
verdanke ich es, daß ich Gottes Barmherzigkeit tiefer verstanden habe.
Erst wollte ich mich in ein Kloster zurückziehen, doch hatte ich große
Sehnsucht nach der Seelsorge, daß Monsignore mir schließlich eine
Pfarrei anvertraute.»
«Seit fünfundzwanzig Jahren lebe ich nun unter euch, ich leide, ich
trauere, ich freue mich mit euch; ich arbeite mit allen meinen Kräften,
um euch zu dienen, und trotz dem, ihr kennt mich nicht - bis heute! Ich
schämte mich, euch die Wahrheit zu sagen. Ich war zu stolz, um auf die
Ehrfurcht, die Achtung verzichten zu können, die ihr mir bezeugt. Aber
die Vorsehung hat es nun anders gefügt. Ihr seht die beiden Herren dort
an der Säule! Sie haben mich vor die Wahl gestellt: entweder ein Papier
zu unterschreiben, das ich als Priester nicht unterzeichnen kann, oder
mich den Enthüllungen über meinen Fehltritt auszusetzen. Sie haben mich
an die Mauer gestellt. Ich bekenne, daß ich anfänglich versucht war,
ihnen nachzugeben. Dann habe ich aber zu Gott gebetet, und Gott hat
sich meiner erbarmt. So spreche ich heute vor euch, in aller Freiheit,
von meiner Sünde und meiner Schmach. Während fünfundzwanzig Jahren war
ich unter euch wie ein übertünchtes Grab! Jetzt endlich kennt ihr mich.
Ich bin alt, Monsignore wird meine Abberufung, wenn ich ihn darum
bitte, nicht verweigern. Ich möchte gerne die Lebensjahre, die mir noch
verbleiben, in Trauer und Buße für meine Sünden verbringen. Aber
vorerst bitte ich euch, mir zu verzeihen!»
Er mußte eine Pause einschalten, denn das Schluchzen wurde stets lauter
und übertönte seine Stimme. Die Frauen ließen ihrer Erschütterung
freien Lauf; die Männer glitten mit ihrem Rockärmel rasch über die
Augen. Die Kinder staunten, denn sie begriffen nicht gut, um was es
ging; aber sie trugen begeistert ihren Teil zur allgemeinen Erregung
bei. Plötzlich erschallte eine Baßstimme: «Faßt die Schurken!» Die
beiden Unbekannten benützten die Verwirrung, um sich den Säulen entlang
durch die Menge zum Ausgang durchzuzwängen. «Taugenichtse! Spitzel!
Schufte!» Die Schimpfwörter hagelten auf sie ein, und nur die
Heiligkeit des Ortes verhinderte einen bösen Zwischenfall.
Mit Donnerstimme setzte Pfarrer Matthias den Drohungen ein Ende: «Meine
Pfarrkinder, tragt ihr nicht Gott im Herzen ? (Polnische Redeweise).
Glaubt ihr, daß ich um einer billigen Rache willen meine Sünden bekannt
habe? Begreift ihr nicht, daß die beiden Herren meine Wohltäter sind?
Ohne ihr Einschreiten hätte ich mich der Last nie entledigen können;
nie hätte ich die Kraft gefunden, euch von ihr zu sprechen!»
«Dobrodzieyu!» (d.i. Wohltäter: Mit dieser Anrede wendet sich das Volk
an seinen Pfarrer.) rief einer gellend; «verlasse uns nicht!» Die
ganze Kirche wiederholte die Bitte, daß die Scheiben klirrten. «Wir
flehen Sie an, verlassen Sie uns nicht!» Der Gemeindeamtmann schneuzte
sich dröhnend und hob den Kopf zur Kanzel: «Wir lassen Sie nicht
weggehen, nein, nie! Eher ziehen wir alle zu Monsignore, um ihm die
Lage zu erklären. Und wenn Sie glauben, daß wir Sie jetzt weniger
schätzen, so täuschen Sie sich! Jetzt lieben wir Sie noch tiefer als
früher. Wir haben noch größeres Vertrauen in Sie. Das Fleisch ist
schwach, aber Gottes Barmherzigkeit ist unendlich!» Philipp war kein
Redner, und es war das erste Mal, daß er in einer Kirche laut zu
sprechen wagte. Der Schweiß rann von seinem Kopf in großen Tropfen.
Aber seine Worte hatten eingeschlagen und blieben ohne Widerspruch. Wie
die Herde um den Hirten, so scharte sich das Volk um Pfarrer Matthias,
der von der Kanzel herabkam, um sich an den Altar zu begeben. Ein jeder
wollte seine Hand küssen, alle ihn berühren, seine Alba an sich
drücken. Erschöpft, aber glücklich stieg er die Stufen empor. Bevor er
das Meßgewand wieder anzog, wandte er sich gegen die Gläubigen und rief
mit bebender Stimme: «Jetzt geht das Meßopfer weiter! Kniet nieder!»
(aus: Winowska, Maria: "Die Ikone - Tatsachen aus der Kirche des Schweigens" Freiburg / Schweiz-München 1960, S. 99-107)
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