Vor gut vierzig Jahren starb Pius XII.
von
Domenico Card. Tardini
Vorbemerkung der Redaktion:
Am 9 Oktober 1958 starb Papst Pius XII. ... und mit ihm gleichsam die
katholische Rechtgläubigkeit in Rom. Zur verspäteten Erinnerung an
seinen Tod vor nun gut 40 Jahren veröffentlichen wir aus den
Aufzeichnungen von Kardinal Tardini, der vertrauten Umgang mit Pius
XII. hatte und die letzten Stunden des Pacelli-Papstes miterlebte.
***
Ich werde mich immer an die sorgenvolle Nacht vom 8. zum 9. Oktober
1958 erinnern. Ich war bei Pius Xll., der im Sterben lag. Der Papst lag
ausgestreckt auf seinem Bett, schwer atmend, unbeweglich, mit
geschlossenen Augen und einem Röcheln, das ihn manchmal zu ersticken
drohte. Er war im Todeskampf. Auf unsere liebevollen Anrufe, auf die
Stoßgebete, die wir ihm ins Ohr einsagten, auf die Gebete, die wir für
ihn sprachen, konnte er nicht mehr antworten. Wenn seiner heiligen
Seele in der letzten Nacht noch ein Schimmer von Bewußtsein blieb, so
war sie bestimmt in Gott vertieft.
Nach außen drang jedoch nichts. In diesen schmerzlichen Augenblicken
gingen meine Gedanken vier Jahre zurück, als Pius XII. im Dezember 1954
sterbenskrank darniederlag. Seine Leiden waren unsagbar. Der
Schluckauf! Es war ein einziger, ununterbrochener, quälender
Schluckauf, ein krampfhaftes Schütteln, das ständig Kehle, Brust, den
ganzen Körper erfaßte. Der Papst konnte weder essen noch trinken oder
schlafen. Und doch war bei diesen heftigen Kämpfen sein Verstand immer
klar und leuchtend, seine Gelassenheit unerschütterlich, seine
Frömmigkeit beispielhaft. Auf seinem Bett lag immer das
Exerzitienbüchlein des heiligen Ignatius, das er sehr oft in die Hände
nahm. Er stärkte sich und die Anwesenden, in dem er mit großer Andacht
das innige Gebet sprach: „Seele Christi, heilige mich!"
Seine Pflicht wollte er nicht vernachlässigen oder seine Arbeit
unterbrechen. Unsere Audienzen fanden wie immer regelmäßig statt. Er
verlangte, daß ihm alles vorgetragen werde. Die Ärzte forderten, zu ihm
so wenig wie möglich zu sprechen. Bei manchen Gelegenheiten mußte man
sich auf reinste Akrobatenstücke verlegen, um der Wachsamkeit des
Papstes zu entgehen. Als ich mich zum Beispiel eines Tages gerade
anschickte, sein Zimmer zu verlassen, fragte mich Pius XII.: „Ist denn
das möglich, daß es so wenig zu berichten gibt?" Kalter Schweiß
überfiel mich. Mit dem Hinweis auf das schreckliche Wetter - es regnete
Bindfäden - bemerkte ich: „Es scheint, daß durch das schlechte Wetter
der Luftpostverkehr unterbrochen wurde!" Der Papst gab keine Antwort.
Kaum hatte ich aber das Zimmer verlassen, erzählte er dem gerade
Anwesenden, wie Monsignore Tardini „zu kneifen" verstand.
Noch schlechter erging es mir ein anderes Mal. Um die Audienz rasch zu
beenden, faßte ich mich so kurz wie möglich. Beim Hinausgehen aber rief
mich der Papst an sein Bett zurück und fragte, indem er mich mit
forschenden Blicken beobachtete, in beinahe strengem Ton: „Monsignore,
haben Sie mir alles gesagt?" Und dieses „alles" hatte er wohl überlegt.
Darauf eine Antwort zu geben war schwer. Nach einem Augenblick der
Verwirrung fand ich meine Unbefangenheit wieder und sagte: „Heiligkeit,
ich habe fast alles gesagt." Und dieses „fast" hatte ich mir auch sehr
gut überlegt. Der Papst lächelte, entließ mich und erzählte dann meine
Antwort den anderen. Unsere Lage war eigenartig. Dem Papst gehorchen
hieß, seiner Gesundheit schaden, den Ärzten gehorchen bedeutete
Ungehorsam gegen den Papst. Dieser dachte bereits an die Vorbereitungen
seiner Weihnachtsbotschaft. Als er mir das anvertraute, konnte ich es,
offengestanden, nicht glauben. Es schien mir unmöglich, daß der Papst
in diesem Zustand die Kraft besitzen könnte, an die Vorbereitung eines
Dokumentes zu denken, dem er so große Bedeutung beizumessen pflegte.
Ich täuschte mich. Nur wenige Tage später schrieb Pius XII., kaum aus
dem Bett aufgestanden, fast in einem Zug jene ganze Botschaft über die
„Koexistenz" nieder, die so großartig und tief ist daß sie eines der
bedeutendsten Dokumente seines Pontifikates bleiben wird. In den
Leidenstagen hatte der Papst noch inniger als je zuvor die
unaussprechlichen Freuden der Vereinigung mit Gott verkostet.
Man sprach von einer Vision.
„Dominus est..."
Es war Donnerstag, der 2. Dezember 1954.
An diesem Tag hatte ich meine gewohnte Audienz. Kurz darauf machte ich
einige Aufzeichnungen, die ich jetzt vollständig, so wie ich sie damals
in aller Eile niedergeschrieben habe, wiedergebe, auch weil sie zeigen,
wie der schwerkranke Heilige Vater heiter und gelegentlich zum Scherzen
aufgelegt blieb: Um 12.45 Uhr gehe ich zum Heiligen Vater. Die
Schwester bat mich, etwas später wiederzukehren. Sie war mir
zuvorgekommen und hat dem Papst gesagt, es sei mein eigener Wunsch. Ich
trete also später bei seiner Heiligkeit ein, bitte wegen der Verspätung
um Entschuldigung und teile ihm mit, daß ich zwei Kardinäle empfangen
habe. Der Papst sagt mir: „Sie Glücklicher!" Ich antwor-te ihm:
„Diesmal aber haben auch Eure Heiligkeit Glück“, und übergebe ihm zwei
ansehnliche Schecks, die mir die beiden Kardinäle für den Peterspfennig
übergeben hatten. Darauf sagte der Papst zu mir: „Sie haben recht, auch
ich bin glücklich." Er liegt auf dem Sofa (es handelt sich um eine Art
Liegestatt, die ich als Sofa bezeichne. Darauf verbrachte der Papst
einige Stunden am Tage während seiner Krankheit); sein Zustand scheint
mir sehr verschlechtert. In kurzen Abständen überkommen ihn
Brechanfälle, und er erbricht etwas, das wie Kaffee aussieht (es sind
Speisereste, kein Blut). Seine Seelenhaltung ist ausgeglichen wie
immer.
Er sagt mir: „Ihnen sage ich es; die anderen könnten denken, es seien
Halluzinationen eines Kranken. Gestern früh habe ich deutlich eine
Stimme gehört, ganz klar und deutlich!", dabei faßte sich der Papst an
das rechte Ohr und fuhr fort: „Diese sagte: 'Jetzt kommt eine Vision'.
Es kam jedoch nichts. Heute morgen, während ich der heiligen Messe
beiwohnte, habe ich einen Augenblick lang den Herrn gesehen. Es war ein
Augenblick, aber ich habe ihn gut gesehen.“
Ich verlasse ihn um 13.30. (In beispielhafter Beobachtung der
kanonischen Bestimmungen wünschte Pius XII. nicht, daß die heilige
Messe in seinem Schlafzimmer gelesen wurde. Das heilige Opfer wurde im
anschließenden Arbeitszimmer gefeiert, und der kleine Altar stand so,
daß der Papst bei offener Tür von seinem Bett aus den
zelebrierenden Priester sehen konnte.) Zwei Tage später, am Samstag,
dem 4. Dezember, komme ich wieder zur Audienz. Damals schrieb ich
darüber: 12.40 Uhr. Der Papst liegt zu Bett. Er ist mit der
Konsultation zufrieden, lobt die Ärzte sehr und sagt sie seien sehr
optimistisch gewesen, besonders Professor Paolucci.
Mehr als einmal sagte mir Pius XII. im Dezember 1954, daß er auf das
Pontifikat verzichtet haben würde, falls er hätte krank bleiben müssen:
„Ich bleibe auf meinem Platz", sagte er, „nur weil die Ärzte mir
versichert haben, daß ich wie früher wiederhergestellt sein werde." Und
in der Tat konnte der Papst noch nahezu vier Jahre ein gewaltiges
Arbeitspensum bewältigen.
Pius XII. öffnet seine Arme und breitet sie aus, wie wenn er den Segen
erteilt, schaut zum Himmel auf und sagt: „Voca me!" (Rufe mich!)
Dann fügt er hinzu: „Ich glaubte, daß der Herr mich heimrufen würde.
Und statt dessen ..." Wiederum greift er nach dem Exerzitienbüchlein
des heiligen Ignatius und sagt: „Das ist mein Trost!" In seinem Bett,
blaß und schwach, macht der Heilige Vater wirklich den Eindruck einer
Seele, die ganz und allein Gott gehört.
Wir alle haben noch die eindrucksvolle, charakteristische Gebärde in
Erinnerung, mit der Pius XII. die öffentlichen Audienzen beschloß. Die
hagere und hohe Gestalt richtete sich auf, der Papst hob sein Antlitz
und wandte die Augen zum Himmel. Es war eine Gebärde des Gebets. Mit
den weit ausgebreiteten Armen schien der Papst die ganze Menschheit in
einer väterlichen Umarmung umfangen zu wollen. Das war eine Geste des
Segens. Aber dieselben offenen Arme, die ausgestreckten,
feingliedrigen, schmalen Hände, die gleichsam erstarrt scheinende
Körperhaltung gaben dem Papst die Figur eines Kreuzes. Das war eine
Geste des Opfers.
Pius XII. konnte mit dem Apostel sprechen. „Ich bin mit Christus ans Kreuz geheftet." (Gal. 11,19)
In Schmerz und Leiden verzehrte er sich selbst als bewußtes und großherziges Opfer in täglicher Hingabe.
Wenn seine Krone eine Krone von Dornen war, so war das Kreuz seine
Stütze, seine Zuflucht und sein Trost. Wieder einmal wurde am
leuchtenden Himmel der Kirche das Kreuz für einen heiligen und großen
Papst zum Thron der Majestät, zum Lehrstuhl der Wahrheit, zum Banner
des Ruhmes und des Triumphes.
Auszüge aus einer Rede von Domenico Cardinal Tardini,
die er am 20. Oktober 1959 vor Johannes XXIII., dem Kardinalskollegium,
dem versammelten diplomatischen Corps sowie einer großen Anzahl
kirchlicher und weltlicher Persönlichkeiten zum Andenken an Papst Pius
XII. gehalten hat. (zitiert nach KIRCHLICHER UMSCHAU Nr. 4, Nov.
1998, S. 9)
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