Wie ein ätherisches Wesen einer
jenseitigen Welt, so wirkt die Dülmener Augustinernonne, Anna Katharina
Emmerick, auf den Bildern oder Zeichnungen, die wir von ihr kennen. Ein
durchgeistigtes Antlitz voll Zucht und Innerlichkeit, leuchtende Augen,
adelig schmal die Gestalt. Der berühmte Nazarener Edward Steinle, A. M.
von Oer, Julia Gräfin Schmiesing-Kerssenbrock und andere haben uns ihr
Bildnis überliefert.
"Mit ungemeiner innerer Freude bewegte mich ihr reines unschuldiges
Antlitz, ihre lebhaften braunen Augen, ihr freundlicher reiner Mund,
ihre freudig geröteten Wangen, die unschuldige frohe Raschheit ihrer
Rede. " (Brentano, Tagebuchaufzeichnungen).
Das Bauernmädchen wurde am 8. September 1774, dem Fest Maria Geburt, in
Flamschen, nahe Coesfeld in Westfalen, dem Land der roten Erde,
geboren. An diesem Tag erblickte auch ein anderer - die Leuchte der
deutschen Romantik, Clemens Brentano - das Licht der Welt, allerdings
1778, also vier Jahre später. Er war ausersehen, Emmericks Biograph zu
werden. Bis heute rätseln Historiker und Hagiographen über diese
seltsame "Seelen-Symbiose".
Die Sterbedaten weisen ebenfalls eine Merkwürdigkeit auf. Emmerick
starb 1824, Brentano 1842, also 18 Jahre später. Die Quersumme beider
Jahreszahlen ergibt die Mondzahl 15, die Zahl der Rosenkranzgeheimnisse
und jene der Geschlechterfolge des Alten Testamentes. Dort werden die
israelitischen Geschlechter von Abraham bis Salomo mit 15 und von
Salomo bis zum geblendeten Zedekia wiederum mit 15 angegeben.
Ohne zahlenmystischer Spekulation zu verfallen, darf man doch eine
innerliche "Wahlverwandtschaft" (Mager) des Weltmannes und der Nonne,
ja ein Umgriffenwerden beider Personen von der Heilsgeschichte
feststellen. Es scheint, als wirke die Zahl in das Unbewusste und
überschreite die Grenze des Rationalen um Entscheidendes. Jedenfalls
berührt es auch, dass Brentano sein letztes poetisches Werk "Romanzen
vom Rosenkranz" (1809/1810) nannte. Aufschwung zu Hohem, Edlem und der
Blick in die Niederungen des Lebens vermischen sich hier. Die Gedichte
blieben Fragment. Er verzichtete auf die Fertigstellung. Ab 1818
widmete der Dichter-Chronist alle Zeit und Kraft den Aufzeichnungen
über die Schauungen der Dülmener Nonne.
Anna Katharina Emmerick war zweifellos ein geistig-geistliches
Wunderkind. "Gott ließ sie in steten Bildern ihrer Seele die Klarheit
und himmlische Wahrheit unseres Glaubens sehen. (...) Diese wunderbare
Gabe bestand nicht allein in der Vorhersagung künftiger Dinge, als
vielmehr darin, durch den Heiligen Geist die verborgenen Geheimnisse
des Glaubens zu schauen, zu reden, zu lehren. (...) Und nicht allein
dieses vermittelte ihr Gott, sondern er schenkte ihr auch zugleich alle
nötigen Fertigkeiten und Kenntnisse zu den Arbeiten; sie verstand ohne
Erlernung und Anweisung Haus-, Feld-, weibliche Handarbeiten, wie auch
die Schulfächer." (Thomas Wegener)
Es wäre allerdings verfehlt, aus dieser Überfülle der Gnaden und
Geistesgaben auf ein einfaches Leben zu schließen. Drangvolle Armut und
bitterstes Leiden begleiten sie getreu. Nach einem verborgenen
Opferdasein und der Ãœberwindung mannigfacher Hindernisse tritt sie
28-jährig am 18. September 1802 in das Kloster Agnetenberg
(Augustiner-Eremitinnen) zu Dülmen ein. Im Zusammenhang mit den
napoleonischen Wirrnissen wird 1811 die Aufhebung des Klosters verfügt.
Im Kloster lebte Emmerick 9 Jahre verachtet und verkannt. "Armut und
Mühseligkeit" wird ihr Clemens Brentano für das ganze Erdenleben
bescheinigen. (Tagebuch S. 377). Nun, nach der Säkularisation ihres
Klosters sollte sie ein Schauspiel für die vom Kulturkampf und von der
Aufklärung verwüstete Welt werden. Entgegen dem Unverständnis ihrer
Umgebung erkennen im Wesentlichen drei Männer die Bedeutung der
Begnadeten, deren Stigmatisation ab 1812 offenbar wird (die Wunden der
Dornenkrone empfing sie bereits in der Coesfelder-Zeit zwischen 1799
-1802). Zunächst ist der französische Vikar Lambert, selbst
Revolutions-Flüchtling, zu nennen. Er bietet ihr Schutz und Wohnung im
Haus der Witwe Roter. Der Ex-Dominikaner Limberg - ebenfalls von den
Klosteraufhebungen betroffen - wird ihr Beichtvater. Ferner findet sie
Hilfe und Verständnis bei dem Kreisphysikus Wesener, dessen anfängliche
Skepsis einer gläubigen Haltung weicht. Letzterer betreut sie als
Hausarzt und verfasst ein umfangreiches Werk über sie.
Folgende übernatürliche Phänomene sind bei der Augustinernonne
verbürgt: Stigmatisation und Nahrungslosigkeit, Hierognosis,
Bilokation, Sühneleiden, Ekstasen und Visionen. Auch verfügte sie über
ungewöhnliche Heilungskräfte: Sie sah im Geiste sowohl Ursachen von
Krankheiten als auch Heilmittel. "Sie hatte eine innere Erkenntnis von
den Geheimnissen der Natur, unterschied heilsame Kräuter von
schädlichen. Jene gebrauchte sie für sich und andere Krankheiten, diese
vertilgte sie aus der Nähe ihrer Hütte." (Wegener) Weder die kirchliche
(1813) noch die brutale und entwürdigende staatliche (1819) Prüfung der
Zustände Anna Katharinas erbrachten auch nur den geringsten Hinweis auf
eine Täuschung. Der Leibarzt des Preußenkönigs kommentiert das
rücksichtslose, ja rohe Vorgehen seiner Kollegen mit den Worten, da
hätten sie sich aber blamiert.
Rasch verbreitete sich die Kunde von den außergewöhnlichen Ereignissen
um die wunderbar gezeichnete Nonne. Es fanden sich die größten Geister
der Zeit an ihrem Schmerzenslager ein. Overberg, katholischer
Priester-Pädagoge, wurde ihr geistlicher Vater. Domdechant Dr. Franz
Krabbe sammelte Akten und Aufzeichnungen. Clemens August Reichsfreiherr
von Droste zu Vischering, der nachmalige Erzbischof von Köln, ordnete
die kirchliche Untersuchung an, Johann Michael Sailer, der spätere
Bischof von Regensburg, war zusammen mit seinem heiligmäßigen
Weihbischof und Nachfolger, Georg Michael Wittmann, der Emmerick eine
große geistige Stütze. Sailers überragende Persönlichkeit wirkte auf
Männer wie Melchior von Diepenbrock, Christian und Clemens Brentano.
Apollonia Diepenbrock und Luise Hensel wurden Anna-Katharina Emmericks
Freundinnen und erste Verehrerinnen.
In ihrem 44. Lebensjahr sollte die Seherin den "Pilger" finden, dem sie
die empfangenen Visionen mitteilen konnte. Sie hatte ihn längst
erwartet. Vergebens hatte sie die Geistlichen gebeten, ihr bei dem
Aufzeichnen ihrer Gesichte zu helfen. Der Feuergeist, Clemens Brentano,
ein "wonneträumend Trunkener", wie ihn seine berühmte, ihm
wesensähnliche reich begabte Schwester, Bettina von Amim, nennt,
schreibt über sich selbst mit wehmutsvollem Emst:
"Ach, ich dachte schon vor vielen Jahren, was wir doch hätten alle
werden können! so gut, so fromm, so hülfreich und trostreich für
einander, und ein Heil aller Nebenmenschen. O wir hätten wohl heilend
und heilig werden können. Wir hatten alles dazu, und was ist aus uns
geworden? Der Grund der Zerstörung lag darin, daß man alle diese
köstlichen Gottes-Erzstufen nicht mit religiöser Andacht und Weihung
umgeben, und vor der gegenseitigen Zerstörung gewahrt hatte. O mein
Kind! Wir hatten nichts genährt, als die Phantasie, und sie hatte uns
theils wieder aufgefressen " ("Historisch politische Blätter für das
katholische Deutschland", Jahrgang 1845. Bd. I, S. 500).
Durch Graf Christian von Stolberg mit den Dülmener Ereignissen bekannt
gemacht und durch die von ihm glühend verehrte lutherische
Pfarrerstochter, Luise Hensel, energisch auf den Weg zurück in die
katholische Kirche verwiesen, trifft der neubekehrte Dichter
schließlich am 24. September 1818 (dem Fest Commemoratio B.M.V. de
Mercede) am Lager der Anna Katharina Emmerick ein. Fünf Jahre, bis zu
ihrem Tode, wird er bei ihr in der Schule des Kreuzes bleiben. Es gibt
durchaus Span-nungen und Widerstreit der Meinungen, aber Brentano
findet in Dülmen die Fülle des Wunderbaren und er bleibt seinem Auftrag
treu. In einem Gedicht hat er die Stellung der Begnadeten zu seiner
Person ausgedrückt. Er sieht sein eigenes Begräbnis. Ein Blütenkranz
liegt auf dem Sarg. Gewunden hat ihn Anna-Katharina, die Ährenleserin,
die ihn im Weizenfeld der Kirche gefunden hat:
Hat die Ährenleserin
Wird es schmücken mit dem Kranz,
Nichts als Unkraut gleich gefunden, Den sie meinem armen Leben
Hat sie doch mit frommem Sinn
Ohne Tugend,
ohne Glanz,
Diesen Erntekranz gewunden.
Auf den
letzten Weg gegeben.
Keiner folgt, als sie allein,
Wird auch beten bei dem Grab,
Die gern mit dem Kreuze gehet,
Wenn, den sie
verlassen haben,
Und sie wird auch bei mir sein,
Den ihr
Gott als Kranken gab,
Wenn's auf meinem Hügel stehet.
Wenn den Toten sie begraben.
Das Ergebnis der fünfjährigen Tätigkeit Brentanos waren vierzig Foliobände mit mehr als sechzehntausend Seiten:
"Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi" ließ Brentano selbst im
Jahre 1833 erscheinen und führte den Erlös aus sechs Auflagen
ausschließlich wohltätigen Zwecken zu.
"Das Leben der heiligen Jungfrau Maria" erschien 1852, betreut von dem
Orientalisten Haneberg, Christian Brentano und seiner Frau Emilie.
"Das arme Leben unseres Herrn Jesu Christi" brachte der Rektor der
Redemptoristen in Gars am Inn, Pater Karl Erhard Schmöger, zwischen
1858 und 1860 heraus. Ihm waren die Originalnotizen anvertraut worden.
52 Seiten derselben hat er vernichtet.
"Die Geheimnisse des Alten und des Neuen Bundes" legt 1993, 12. Auf. der Christiana Verlag vor.
Immer wieder wurde und wird gefragt, was wäre Emmerick ohne Brentano?
Immer wieder wurden die Aufzeichnungen als Hindernis für den
Kanonisationsprozess bezeichnet. Immer wieder auch werden die
Ereignisse um Therese von Konnersreuth mit den Berichten über die
Dülmener Nonne verglichen.
"Brentanos Emmerick-Schriften gewinnen ihre überzeitliche Bedeutung
nicht so sehr aus der historischen Stelle ihrer Entstehung,... sondern
aus der Position innerhalb der Frömmigkeitsgeschichte (...) Durch die
Gestalt von Brentanos zugleich historischer und fiktionaler Erzählerin
wird der Leser mit den meditativ zu füllenden Lücken dieses
Visionslebens konfrontiert (...). Er wird behutsam in die Umgebung
Christi, in die Nähe des Herrn geführt, sich mit ihm zu befreunden, ihn
ganz zu erkennen. Heimweh nach ihm zu empfinden, das bleibt dem Leser
selbst überlassen." (Wolfgang Frühwald: "Emmerick und Brentano.
Dokumentation eines Symposions" Dülmen 1983, S. 30 f).
Weiterführende Literatur:
L. v. Hammerstein S.J. "Charakterbilder aus dem Leben der Kirche", Trier 1897.
P. H. J. Seiler, P. l. M. Dietz, 0.E.S.A.: "lm Banne des Kreuzes" Würzburg 1949.
Thomas Wegener: "Anna Katharina Emmerick" Christiana Verlag 1990.
Gerd-Klaus Kaltenbrunner: "Die Seherin von Dülmen und ihr Dichter-Chronist" Theresia Verlag 1992.
"Emmerick und Brentano. Dokumentation eines Symposions" Laumann -Verlag, Dülmen 1983.
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