DIE VERLOCKTE TAUBE
von
Theologieprofessor Dr.P.Severin M. Grill,
SOCist, Stift Heiligenkreuz bei Wien
In der Bildersprache der Bibel und der Apokryphen*) spielt die
Tiersymbolik eine bedeutsame Rolle. Durch gewisse Tiere werden
bestimmte Eigenschaften der Menschen dargestellt. So bedeutet der Wolf
die Wildheit, das Pferd das Kriegs- und der Esel das Friedenstier
u.s.w. Die Taube aber gilt (neben dem Lamm) als Sinnbild der
Schlichtheit und Sanftmut. Sie ist kein Raubvogel, der sich vom Fleisch
ernährt und sein Opfer mit Krallen fängt und zerreißt, sondern sie
nährt sich nur von den Körnern und liebt die Musik. Die Taube gilt
daher als Symbol für Israel als auserwähltes Volk.
Durch sein Gesetz soll Israel in Gemüt und Haltung sanft und milde sein
denn darin soll es den anderen Völkern ein Beispiel geben und deren
Erzieher sein. Im 4.Buch Esdras **) 5, 21-27 heißt es: "Gebieter Herr!
Aus allen Erdenwäldern und allen Bäumen hast du einen Weinstock dir
erwählt. Aus aller Welt hast du einen Garten ausgesucht, aus allen
Blumen in der Welt eine Lilie erkoren, aus allen Meerestiefen nur einen
Bach dir angefüllt. Aus allen aufgebauten Städten nur Sion selber dir
geheiligt. Aus allen den geschaffenen Vögeln nur eine Taube dir
berufen, ... aus all den vielen Völkern nur das eine Völklein dir
erworben."
Als auserwähltes Volk steht Israel unter dem besonderen Schutz Gottes.
Es ist die Taube in den Felsenritzen Hl 2,14 (d.h. in Gott geborgen)
und bei Feindangriffen wird es in wunderbarer Weise gerettet, daß die
Stämme wie die Flügel einer ruhenden Taube der Friedenstätigkeit
nachgehen können (Ps 67,14).
Dieser positive Vergleich der nur Schönes aussagt, gilt aber nur für
Gesamtisrael von der Führung von Moses bis zu David und Salomon. In der
Reichespaltung 933 v.Chr. hat sich der Norden von Thron und Tempel
getrennt, aber den Anspruch, Israel zu sein, nicht aufgegeben. Doch mit
der politischen Trennung war auch eine religiöse verbunden. Dieser
Nordstaat Israel hat die wahre Gottesverehrung im Jahvismus aufgegeben
und sich den Götzen durch den Stierdienst und später sogar durch den
Baalismus hingegeben. Und deswegen nennt sie der Prophet Oseas 7,11
eine verlockte Taube: "Ephraim ist wie eine törichte Taube, die keinen
Verstand hat... Weh denen, die sich wegwenden von mir, ich werde über
sie Unglück bringen." Wie eine Taube hin und herflattert und nicht in
ihren Verschlag zurückwill, so läuft der Nordstaat Israel bald den
Ägyptern und bald den Assyrern nach, statt sich auf seinen Eigenwert in
der Einheit mit dem Südstaat Juda zu besinnen. Es spricht also der
Prophet von dem der Häresie verfallenen Samaria.
Aber die Bibel ist ein zeitloses Buch und ihre Aussagen gelten für alle
Zeiten. Nach der Vorbildlehre sind daher auch die Häresien der
Gegenwart angedeutet. Können wir aber heute unter diesen Häresien bloß
die Protestanten und die Anglikaner und die Kalviner verstehen? Müssen
wir nicht die (noch sogenannten) Katholiken dazurechnen, die von der
Tradition nichts wissen wollen und protestantische Wege gehen?
"Abschied von Trient" nennt sich ein kleines Buch mit Aufsätzen
verschiedener Autoren (Pustet 1969), welche die vortridentinische Zeit
nur im negativen Licht sehen. Die Verteidigung der Wahrheit ist für sie
unwissenschaftliche Apologetik.***)
Pius X. ließ sich in das Fahrwasser engstirniger Traditionaliaten
treiben (S,98). Der Ausspruch des Kardinals Ottaviani "Die Kirche ist
nicht nur das Reich Gottes. Sie ist auch das Schönste, was es je
gegeben hat und geben kann in der Menschheitsgeschichte", ist für sie
"dogmatisch und historisch angreifbar" (S.101 usw.). Diese Sätze tun
bereits kund, in welchem Geist dieser Abschied von Trient gehalten ist.
Es tritt einem ähnlichen Werk: "Erneuerung der Messe" von Eugen Egloff
würdig an die Seite (Zürich 1965). Der Autor behauptet, daß in der
katholischen Kirche der Papst als Haupt des mystischen Leibes
eingesetzt wurde. Er findet die von den Rubriken vorgeschriebenen
Gesten bei der Messe irreführend (S.25, S.37). Wie Küng sieht er den
Hauptzweck der Messe in der Predigt (S. 41). Die Gläubigen müßten
lernen, in der Messe nicht sich selber, und irdische Interessen,
sondern Gott zu suchen (S.50) usw. Die Diktion des Buches verrät
durchwegs protestantisches Denken, und die wenigen Zitate der
Kirchenväter stammen aus zweiter Hand.
Die katholische Theologie fühlt sich heute minderwertig und glaubt,
Anleihen machen zu müssen bei den Häretikern und den Juden. Die
radikale Formgeschichte (Methode der Bibelexegese) gleicht frappierend
den Aufstellungen des jüdischen Geschichtsschreibers H.Graetz in seiner
Volkstümlichen Geschichte der Juden (3 Bände, Leipzig, ohne Jahr
(1.Band, S.484-505; 2.Band, S.25-41).
So flattert die verlockte Taube hin und her und findet den Weg nicht in
ihren eigenen Verschlag. Aber die wahre Kirche ist die auserwählte
Taube in den Felsenritzen Hl 2,14 (geborgen im Felsen Gottes), die
einzige Taube unter den 60 + 80 Nebenfrauen ( = die Nationen der Erde)
Hl 6,6, die keusche Jungfrau, die Christus als Braut zugeführt wird (2
Kor 11,2). Sie läßt sich nicht verlocken, sondern sie hält dem
Bräutigam die Treue, bis Er ihr die Krone des Lebens schenkt (Offb
2,10).
Anmerkungen:
*) Die von der Kirche offiziell nicht anerkannten biblischen Schriften
**) Im Anhang zu den meisten Vulgata-Ausgaben. Bei P.Riessler. Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel, 1928, S.263
***) Verteidigung (der christlichen Lehre), Rechtfertigungslehre (Zweig der Theologie)
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