«SIE BESTEHLEN GOTT!»
von
Maria Winowska
Der Teetopf begann zu singen. Kaplan Paul drehte den Strom ab. Darauf
ließ er sich, durchnäßt wie er war und vor Kälte schlotternd, in den
Lehnstuhl fallen, dessen müde Stahlfedern unter dem Gewicht ächzten.
Der Sturm heulte mit erneuter Wut, und der Schnee wirbelte in wilden
Böen durch die Nacht. Ein schlecht befestigter Fensterladen schlug
gegen die Mauer, einmal, zweimal ... Kaplan Paul fuhr
auf: «Herein!» schrie er mit dumpfer Stimme. Keine
Antwort; das Getöse des Windes verstärkte sich.
«Es tönt wie das Jammern einer Seele in Not», murmelte der Priester und
streckte die langen Beine mit den zerlumpten Schuhen von sich. Es war
bitter kalt, doch er war zu erschöpft, um sich zu bewegen.
«Ich muß meine Müdigkeit loskriegen!» seufzte er. Im Seminar schon
hatten ihm die endlosen Selbstgespräche den Übernamen «Rhetor»
eingetragen. «Es ist nun einmal so», erwiderte er den Spöttern;
«ausgesprochene Worte sind weniger trügerisch.» Später, als Vikar im
eigenen Haus ließ er seiner Neigung freien Lauf. «Er spricht mit seinem
Engel», flüsterte die Köchin den Nachbarinnen ins Ohr. Die ganze
Pfarrei war bald davon überzeugt... Wann war das eigentlich? Genau vor
fünfzehn Jahren! Kaplan Paul lächelte und brummte: «Wenn es wahr wäre,
mein schöner Engel, würde ich dich jetzt bitten, mir Tee einzuschenken;
ich bin völlig erledigt und muß gleich wieder in Form sein!»
Vier Stunden verblieben bis zur Mitternachtsmesse. Eben war er von
einer «Filiale», wie er die benachbarten, seiner Obhut anvertrauten
Gotteshäuser nanntel zurück gekommen, und schon standen in seiner
Kirche die Leute in Schlangen vor dem Beichtstuhl.
Der Gedanke daran belebte ihn. «Auf, altes Knochengerüst! Raffe dich
zusammen! Die Redensart des alten Partisanen war nicht immer sehr
gewählt, vor allem nicht, wenn sein Engel der einzige Zuhörer war. «Der
versteht mich», erklärte er lachend;«ist er mir nicht nach Maß
zubestimmt worden?»
Er streckte sich aus, daß die Knochen knackten und er hob sich
unvermittelt. Die kotbespritzte und von grünen Flecken übersäte Sutane
flatterte um den langen, hageren Körper wie um eine Stange.
«Nach einer Tasse Tee geht es besser», zischte er zwischen den Zähnen.
«Es wäre zu dumm, in dieser Nacht zusammenzuklappen. Vorwärts, altes
Phlegma! Weißt du nicht, daß man auf dich wartet? Vielleicht verfangen
sich große Fische im Netz; diese Nacht ist nicht wie die andern!»
«Mit wem sprechen Sie?» fragte eine Stimme hinter seinem Rücken. Er
drehte sich heftig um. Der Lärm des Fensterladens hatte das Ächzen der
Türe übertönt. Ohne anzuklopfen war jemand eingetreten und starrte ihn
ohne Wohlwollen an. «Wer ist bei Ihnen?» fuhr der Unbekannte mit drohen
dem Ton fort. Kaplan Paul faßte sich. Früher oder später mußte es
kommen. «Mein Schutzengel, Donnerwetter!» erwiderte er.«Was wollen Sie
von mir?» «Ein paar kleine Auskünfte, lieber Pfarrer, die ihnen
wohl die Lust verderben, sich über mich lustig zu machen. Ich lasse
Ihnen Zeit, einen Koffer zu packen, was mir er lauben wird, mich hier
etwas umzusehen.»
Kaplan Paul hatte den Mann schon gesehen, kannte ihn aber besser vom
Hörensagen. Seinetwegen litten Hunderte von «Reaktionären» in
Gefängnissen. Er war ein Meister in der Kunst des Untersuchens; er
spielte mit seinen Opfern wie die Katze mit den Mäusen. Verhaßt und als
größter Schurke der Gegend gebrandmarkt, lebte er dem düsteren
Vergnügen, auf Schritt und Tritt Angst und Schrecken zu säen. Der
Geheimdienst vertraute ihm die dunkelsten Angelegenheiten an, in der
richtigen Überzeugung, daß das Organ, das man Herz nennt, in ihm nur
die Pumpe des Blutkreislaufes sei. Man konnte auf ihn zählen, denn er
war gepanzert gegen jeden Anflug von Erbarmen. Kurz: ein Idealtyp für
die U.E. mit ihren zahllosen Aufgaben. Das war Anton Tryk, der ihn
verhaften wollte.
Der Schrecken des ersten Augenblicks wich einem dringenderen Gefühl.
Die Mitternachtsmesse soll-te also nicht gefeiert werden. Die Leute,
die in Scharen um seinen Beichtstuhl standen, warteten vergeblich!
«Königin von Yasna Gora, steh mir bei!» betete Kaplan Paul.
Der Spitzel öffnete Fenster und Türen. Darauf untersuchte er die
Schubladen und warf alles zu Boden: Taufregister, Kerzenstummel,
ungesäuerte Brote, die mit roten und blauen Bändern umbunden waren,
Zigarettenreste und Briefpapier. Nachdem er alle persönlichen Briefe
zusammengerafft und in seine große Mappe verstaut hatte, hielt Anton
Tryk unentschlossen inne: «Wo schlafen Sie?»
Diese Frage mußte gewiß gestellt werden. Im einzigen Zimmer der
Kaplanei, einer armseligen Bretterhütte, war kein Bett zu entdecken.
Bei anderer Gelegenheit hätte Tryk bestimrnt nicht verfehlt, unter
grobem, geilem Lachen wüste Anspielungen zu äußern, zum Schrecken
seiner «Kunden»; aber bei Kaplan Paul, dessen aszetische Lebensweise
bekannt war, wären sie wirkungslos geblieben. Tryk war ehrlich
verwundert:
«Wo schlafen Sie», wiederholte er. Kaplan Paul hob die Schultern: «Je
nach dem! In diesem Lehnstuhl oder auf dem Boden. Ich hatte noch keine
Zeit, an ein Bett zu denken ...»
Während er sprach, fuhr er fort, den himmlischen Hof mit stummen
Anrufen zu bestürmen: «Noch diese eine Messe, vielleicht die letzte!
Gewährt mir noch diese Messe!»
Tryk setzte sich in den Lehnstuhl als wollte er prüfen, wie angenehm
man darauf sitze. Das Krächzen der aus gedienten Stahlfedern brachte
ihn sogleich wieder auf die Beine: «Erbärmliche Kiste!» zischte er
zwischen den Zähnen. «Sie sind wirklich nicht empfindlich!»
«Nehmen Sie eine Tasse Tee?» fragte Kaplan Paul mit einladender Stimme.
Tryk zögerte einen Augenblick. Er war im Dienst, und die Vorschriften
verboten jede Annahme von Speise und Trank bei zukünftigen
Verurteilten. Aber es war eine scheußlich kalte Nacht... und
schließlich war es nicht eine Nacht wie die andern! Selbst ein
ausgewachsener Spitzel erledigt nicht gerne Aufträge in der Heiligen
Nacht. «Einverstanden », brummte er.
Kaplan Paul setzte den Kocher unter Strom, stellte Tassen und Zucker
auf den Tisch und entnahm seiner Blechdose einiges Kleingebäck. «Lieben
Sie ihn stark?» fragte er. «Eher stark», erwiderte der Schurke
mürrisch. Mißtrauisch folgte er den Bewegungen des Priesters. Da
erblickte er, fast zu seinen Füßen, ein Bündel ungesäuerter Brote.
Gedankenlos hob er sie auf und verspürte in seinem verkümmerten
Gedächtnis wie einen Knacks.
Seine Mutter, der einzige Mensch, der ihn wirklich lieb hatte ... Er
war noch ein kleiner Bub. Die Mahlzeit am Heiligen Abend, das Brot, das
man teilte, die Glöcklein des Schlittens auf dem Kirchweg vor der
Mitternachtsmesse... Er hatte eine schöne Stimme und sang mit im
Kirchenchor... Nur mit Mühe entledigte er sich aller Schleifen und
Halstücher, die die weichen Hände der Mutter um ihn geschlungen
hatten.«Gib ja acht, daß du dich nicht erkältest!» sagte sie vor der
Abfahrt.
Kaplan Paul beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. «Teilen wir das Brot,
nicht?» fragte er unvermittelt. Tryk zuckte zusammen wie wenn er
entlarvt worden wäre. «Zum Teufel mit eurem Aberglauben», schrie er ihn
an. Und nahm die Tasse entgegen, die der Geistliche ihm lächelnd
anbot.
«Sie halten mich für ein Scheusal, wie alle andern!»,
Kaplan Paul überlegte einen Moment, dann sagte er: «Scheusal? Nein!
Unglücklich? Ja! Sie glauben, daß niemand sie gern hat» Der Spitzel
brach in ein schallendes Gelächter aus: «Sie alter Rabe werden doch
nicht der Ansicht sein, daß ich besonders liebenswürdig bin?» Ihm
gegenüber auf einem Sessel sitzend, rührte Kaplan Paul nachdenklich den
Zucker in der Tasse um.
«Gewiß nicht», erwiderte er schließlich «aber gerade hier ist der
Punkt, wo Gott uns verblüfft und erregt. Einen Taugenichts gern haben,
wie Sie einer sind: o weh! Und trotzdem ist es so; dagegen gibt es
nichts einzuwenden. Er liebt sie. Ich wage sogar zu behaupten, daß Er
sie ganz besonders liebt.»
«Sie machen sich über mich lustig», schrie der Henkersknecht und erhob
sich wütend. «Achtung, Ihre Tasse», ermahnte ihn der Geistliche
ruhig.«Nein, gewiß nicht! Ich spreche im Ernst. Niemand kann Sie
zwingen, es zu glauben, das ist mir klar. Aber ich weiß es. Wegen so
traurigen Kerlen, wie ich und Sie es sind, gibt es die Weihnachtsnacht!
Gott ist nicht zu uns herabgestiegen, weil wir fromm wie Chorknäblein,
sondern weil wir schmutzig und schmierig sind. Ich wage sogar zu sagen,
daß wir um so mehr Anrecht auf Seine Barmherzigkeit haben, je dreckiger
wir sind!»
Verwünschter Knacks, der die Schleusen öffnet! Durch den klaffenden Riß
drängten sich weitere Erinnerungen; Anton Tryk war plötzlich sehr
beunruhigt: «Sie halten mich für einen Verbrecher. Aber ich erfülle nur
meine Pflicht... und mit Überzeugung. Solange nicht alle Reaktionäre
und Fetischisten - zu denen auch Sie gehören -, ausgemerzt sind, kann
die Volksdemokratie Polen sich nicht entfalten. Ich bin kein
Dieb...»
Kaplan Paul hörte mit zuckenden Lippen zu. In seinen blauen Augen
blitzte es plötzlich auf: «Doch Sie sind ein Dieb!» rief er aus. «
Gerade Diebstahl ist Ihr größtes Verbrechen.» Bleich vor Wut erhob sich
der Spitzel mit einem Ruck. «Sie wagen...» heulte er, «Sie haben die
Frechheit...» Er bohrte seinen Blick in die Augen des Priesters:
«Wen habe ich bestohlen» - «Gott!» Die Hand auf dem Revolvergriff
verkrampft, zuckte der Häscher unter dem unerwarteten Wort zusammen.
«Gott?» murmelte er.«Ich soll Gott bestohlen haben? Was soll das
heißen, mit Verlaub?»
«Mit Ihren Sünden, das ist klar», warf ihm der Kaplan entgegen und trat
vor ihn hin wie ein Richter vor den Angeklagten. «Gott ist nicht zum
Vergnügen auf diese elende Erde herabgestiegen, sondern um unsere
armseligen Sünden schaufelweise aufzuhäufen! Die meinen, die Ihren, die
Sünden der ganzen Welt! Wenn man sie Ihm verweigert, bestiehlt man Ihn
und nimmt dem Weihnachtsfest den Sinn! Fühlen Sie sich nie so dreckig,
daß Sie vor Ekel Brechreiz bekommen? Fällt es Sie nicht hin und wie der
an, daß Sie sich selbst verachten als das Scheusal, das Sie sind? Aber
Gott wollte den Schmutz auf sich nehmen; Er hat Ihre Sünden auf sich
genommen. Immerhin, man muß sich damit einverstanden erklären. Es steht
ihnen frei, ja oder nein zu sagen! Wissen Sie, was ja sagen bedeutet?
Weihnachten im Herzen und auf Erden, mein Sohn! Die wiedergewonnene
Unschuld, den Frieden den Menschen guten Willens, das Geheimnis der
göttlichen Kindheit in uns! Sie hatten eine Mutter, nicht? Waren Sie
nicht auch einmal ein glückliches Kind? Das ist es, was Weihnachten uns
bringt; man muß nur ja sa gen!»
Erschüttert, mit sterbensbleichem Gesicht, heftete Anton Tryk die
erschrockenen Augen auf die hagere Gestalt des Geistlichen: «Und wenn
ich ja sage, was geschieht?» «Donnerwetter, dann müssen Sie beichten!»
In den Falten und Fältchen ihrer zarten Gewissen verloren, waren die
Frommen der Gemeinde schon ernstlich ungeduldig, als Kaplan Paul gegen
elf Uhr die Sakristeitüre geräuschvoll öffnete und mit großen Schritten
auf seinen Beichtstuhl losstürmte.
«Wieder eine Privataudienz», flüsterte Frau Z. gereizt, doch mit
würdiger Miene. «Wegen des menschlichen Abschaums, dem er nachgeht,
vernachlässigt er seine Gläubigen!» Und ihre Verblüffung nahm
Skandaltönung an, als der Kaplan seinen Kopf plötzlich aus dem
Beichtstuhl streckte und mit dröknender Stimme forderte:
«Platz für die Zöllner! In einer Nacht wie dieser haben die Verstockten
den Vortritt!» Darauf teilte er mit ausgeholender Gebärde die Wogen der
Bußfertigen. «Und wir?» zischte Frau X. aufgeregt. «Ich werde dem
Bischof Bericht erstatten!»
Närrisch vor Freude versenkte sich Kaplan Paul in Dankgebete. Es war
ihm jetzt gleichgültig, daß er nur einen Aufschub erwirkt hatte. Er
hatte ihn gefangen, den «großen Fisch», der jetzt hinten neben dem
Portal der Kirche im Zwielicht sich duckte, vermummt in sein Halstuch
und weinend vor Glück wie ein Kind.
«Herr Jesus, Du hast wirklich gut getan, zu uns herab zusteigen»,
murmelte er, als er den Schieber vor dem einen Gitter im Beichtstuhl
zuschob, um jenen auf der andern Seite zu öffnen. «Ohne Dich wäre alles
dahin ...»
Sobald er gerührt war, roch seine Rede nach der Kaserne. Gut, daß Gott
seit dem Abenteuer des Zenturio eine Schwäche für Soldaten zeigt! Mußte
nicht eine Lanze her, um Sein Herz zu öffnen? Von Weihnachten bis zur
doppelten Flut des Blutes und des Wassers, läuft eine gerade Linie, ein
Weg ohne Bedauern.
(aus "Die Ikone - Tatsachen aus der Kirche des Schweigens" Freiburg/Schweiz - München 1960, S. 13 ff.)
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