DIE KIRCHE
von
Papst Pius XII.
Die Kirche ist der mystische Leib Christi
ZUR BETRACHTUNG DIESER LEHRE regt zunächst das Apostelwort an: "Als die
Sünde übergroß geworden war, wurde die Gnade noch überwältigender"
(Röm. 5, 20). Der Stammvater des ganzen Menschengeschlechtes war, wie
bekannt, von Gott in einen so erhabenen Stand versetzt, daß er seinen
Nachkommen zugleich mit dem irdischen auch das überirdische Leben der
himmlischen Gnade übermitteln sollte. Aber nach dem traurigen Falle
Adams verlor die gesamte Menschheitsfa-milie, von der Erbschuld
angesteckt, die Teilnahme an der göttlichen Natur (vgl. 2 Petr. 1, 4),
so daß wir alle Kinder des Zornes wurden (Eph. 2, 3). Doch der
erbarmungsreiche Gott "hat so... die Welt geliebt, daß er seinen
eingeborenen Sohn hingab", und das Wort des ewigen Vaters hat mit der
gleichen göttlichen Liebe aus der Nachkommenschaft Adams eine
menschliche Natur angenommen, freilich eine sündenlose und von jedem
Makel freie, damit von dem neuen, himmlischen Adam die Gnade des
Heiligen Geistes auf alle Kinder des Stammvaters niederströme. Diese
waren durch die Sünde des ersten Menschen der göttlichen Kindschaft
verlustig gegangen. Jetzt aber hatten sie durch das menschgewordene
Wort, dem Fleische nach Brüder des eingeborenen Sohnes Gottes geworden,
die Macht erlangt, Kinder Gottes zu werden. So hat denn Christus durch
seinen Tod am Kreuze nicht bloß der verletzten Gerechtigkeit des ewigen
Vaters Genüge getan, sondern er hat uns als seinen Brüdern zugleich
eine unaussprechliche Fülle von Gnaden verdient. Diese hätte er selbst
unmittelbar dem gesamten Menschengeschlecht zuteilen können; er wollte
es aber tun durch die sichtbare Kirche, zu der die Menschen sich
vereinigen sollten, damit so bei der Verteilung der göttlichen
Erlösungsfrüchte alle ihm gewissemmaßen Helferdienste leisten könnten.
Wie nämlich das Wort Gottes unsere Natur gebrauchen wollte, um durch
seine Schmerzen und Pein die Menschen zu erlösen, so gebraucht es
ähnlicherweise im Laufe der Jahrhunderte die Kirche, um dem begonnenen
Werk Dauer zu verleihen.
Bei einer Wesenserklärung dieser wahren Kirche Christi, welche die
heilige, katholische, apostolische, römische Kirche ist, kann nichts
Vornehmeres und Vorzüglicheres, nichts Göttlicheres gefunden werden als
jener Ausdruck, womit sie als "der mystische Leib Jesu Christi"
bezeichnet wird. Dieser Name ergibt sich und erblüht gleichsam aus dem,
was in der Heiligen Schrift und in den Schriften der heiligen Väter
häufig darüber vorgebracht wird.
Die Kirche ist der sichtbare Leib
Daß die Kirche ein Leib ist, sagen die heiligen Bücher des öftern
"Christus" - so der Apostel - "ist das Haupt des Leibes, der Kirche"
(Kol. 1, 18). Wenn aber die Kirche ein Leib ist, so muß sie etwas
Einziges und Unteilbares sein nach dem Worte des hl. Paulus: "Viele
zwar, bilden wir doch nur einen Leib in Christus" (Röm. 12, 5). Doch
nicht bloß etwas Einziges und Unteilbares muß sie sein, sondern auch
etwas Greifbares und Sichtbares, wie Unser Vorgänger seligen
Angedenkens Leo XIII. in seinem Rundschreiben "Satis cognitum"
feststellt: "Deshalb, weil sie ein Leib ist, wird die Kirche mit den
Augen wahrgenommen." Infolgedessen weicht von der göttlichen Wahrheit
ab, wer die Kirche so darstellt, als ob sie weder erfaßt noch gesehen
werden könnte, als ob sie, wie man behauptet, nur etwas "Pneumatisches"
wäre, wodurch viele christliche Gemeinschaften, obgleich voneinander im
Glauben getrennt, doch durch ein unsichtbares Band untereinander
vereint wären.
Aber ein Leib verlangt auch eine Vielheit von Gliedern, die so
untereinander verbunden sein müssen, daß sie sich gegenseitig Hilfe
leisten. Und gleichwie in unserem sterblichen Leib, wenn ein Glied
leidet, alle andern mitleiden und die gesunden Glieder den kranken zu
Hilfe kommen, so leben auch in der Kirche die einzelnen Glieder nicht
einzig für sich, sondern unterstützen auch die andern, und alle leisten
sich gegenseitig Hilfsdienste, zu gegenseitigem Trost, wie besonders
zum weiteren Aufbau des ganzen Leibes.
Wie außerdem in der Natur ein Leib nicht aus einer beliebigen
Zusammensetzung von Gliedern entsteht, sondern mit Organen ausgestattet
sein muß, das heißt mit Gliedern, die verschiedene Aufgaben haben und
die in geeigneter Ordnung zusammengesetzt sind, so muß die Kirche
hauptsächlich deshalb ein Leib genannt werden, weil sie aus einer
organischen Verbindung von Teilen erwächst und mit verschiedenen,
aufeinander abgestimmten Gliedern versehen ist. Nicht anders beschreibt
der Apostel die Kirche, wenn er sagt: "Gleichwie... wir an dem einen
Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder den gleichen Dienst
verrichten, so sind wir viele ein Leib in Christus, die einzelnen aber
untereinander Glieder" (Röm. 12, 4).
Man darf jedoch nicht glauben, dieser organische Aufbau des Leibes
beziehe und beschränke sich allein auf die Stufenfolge der kirchlichen
Ämter, noch auch, wie eine entgegengesetzte Meinung behauptet, sie
bestehe einzig aus Charismatikern, wenngleich solche mit wunderbaren
Gaben ausgestattete Menschen niemals in der Kirche fehlen werden. Gewiß
ist unbedingt festzuhalten, daß die mit heiliger Vollmacht in diesem
Leibe Betrauten dessen erste und vorzügliche Glieder sind, da durch sie
in Kraft der Sendung des göttlichen Erlösers selbst die Ämter Christi,
des Lehrers, Königs und Priesters für immer fortgesetzt werden. Aber
mit vollem Recht haben die Kirchenväter, wenn sie die Dienstleistungen,
Stufen, Berufe, Stellungen, Ordnungen und Ämter dieses Leibes
hervorheben, nicht nur jene vor Augen, die heilige Weihen empfangen
haben, sondern auch alle jene, die nach Übernahme der evangelischen
Räte ein tätiges Leben unter den Menschen, oder ein in der Stille
verborgenes führen, oder auch beides je nach ihrer besonderen
Verfassung zu verwirklichen trachten; ferner jene, die, obgleich in der
Welt lebend, doch sich eifrig in Werken der Barmherzigkeit betätigen,
um andern seelische oder leibliche Hilfe zu leisten; endlich auch jene,
die in keuscher Ehe vermählt sind. Ja, es ist zu beachten, daß, zumal
in den gegenwärtigen Zeitverhältnissen, die Familienväter und -mütter,
auch die Taufpaten und namentlich jene, die als Laien zur Ausbreitung
des Reiches Christi der kirchlichen Hierarchie hilfreiche Hand bieten,
einen ehrenvollen, wenn auch oft unansehnlichen Platz in der
christlichen Gemeinschaft einnehmen, ja daß auch sie mit Gottes Huld
und Hilfe zur höchsten Heiligkeit aufsteigen können, die gemäß den
Verheißungen Jesu Christi niemals in der Kirche fehlen wird.
Die heiligen Sakramente
Wie aber der menschliche Leib offensichtlich mit eigenen Werkzeugen
ausgerüstet ist, mit denen er für das Leben, die Gesundheit und das
Wachstum seiner selbst und der einzelnen Glieder sorgen kann, so hat
der Heiland den Menschen in seiner unendlichen Güte wunderbar für
seinen mystischen Leib ausgerüstet, indem er ihn mit Sakramenten
bereicherte, um dadurch die Glieder gleichsam in ununterbrochener
Gnadenfolge von der Wiege bis zum letzten Atemzuge zu erhalten und
zugleich für die sozialen Bedürfnisse des ganzen Leibes reichlich zu
sorgen. Durch das Bad der Taufe werden die in dieses sterbliche Leben
Geborenen nicht nur aus dem Tode der Sünde wiedergeboren und zu
Glie-dern der Kirche gemacht, sondern auch mit einem geistlichen
Merkmal gezeichnet und dadurch befä-higt und instandgesetzt, die
übrigen heiligen Sakramente zu empfangen. Durch die Salbung der Firmung
wird den Gläubigen neue Kraft verliehen, daß sie die Mutter Kirche und
den Glauben, den sie von ihr erhielten, tapfer schützen und
verteidigen. Durch das Sakrament der Buße wird den Gliedern der Kirche,
die in Sünde fielen, ein wirksames Heilmittel geboten, womit nicht nur
für deren eigenes Heil gesorgt, sondern zugleich von den andern
Gliedern des mystischen Leibes die Gefahr der Ansteckung ferngehalten
und ihnen überdies ein Ansporn und ein Tugendbeispiel gegeben wird.
Doch nicht genug. Durch die heilige Eucharistie werden die Gläubigen
mit einem und demselben Mahle genährt und gestärkt, sowie untereinander
und mit dem göttlichen Haupte des ganzen Leibes durch ein
unaussprechliches, göttliches Band geeint. Und zuletzt steht die
liebevolle Mutter Kirche dem Todkranken bei, um ihm durch das heilige
Sakrament der Ölung, wenn Gott will, die Genesung dieses sterblichen
Leibes zu spenden, wenn nicht, so doch der wunden Seele ein himmlisches
Heil-mittel zu reichen und so dem Himmel neue Bürger und sich selbst
neue Anwälte zu schenken, die Gottes Güte für ewig genießen.
Für die sozialen Bedürfnisse der Kirche hat Christus sodann durch zwei
von ihm eingesetzte Sakramente noch in besonderer Weise Sorge getragen.
Durch die Ehe, in welcher die Brautleute sich gegenseitig Spender der
Gnade sind, wird die äußere und geordnete Zunahme der christlichen
Gemeinschaft und, was noch wichtiger ist, die rechte religiöse
Kindererziehung gewährleistet, ohne die der mystische Leib aufs
schwerste bedroht wäre. Durch die heilige Priesterweihe aber werden
jene Gott völlig zum Dienste geweiht, welche die eucharistische Hostie
opfern, die Schar der Gläubigen mit dem Brote der Engel und mit der
Speise der Lehre nähren, sie mit den göttlichen Geboten und Räten
leiten und mit den übrigen himmlischen Gaben stärken sollen.
Dabei ist dies zu bedenken: Wie Gott zu Beginn der Zeit den Menschen
mit einer überaus reichen körperlichen Ausstattung bedachte, kraft
deren er die Schöpfung sich unterwerfen und sich vermehrend die Erde
erfüllen sollte, so hat er am Anfang des christlichen Zeitalters die
Kirche mit den nötigen Mitteln ausgestattet, daß sie nach Überwindung
schier unzähliger Gefahren nicht nur den ganzen Erdenkreis, sondern
auch den Himmel erfülle.
Den Gliedern der Kirche aber sind in Wahrheit nur jene zuzuzählen, die
das Bad der Wiedergeburt empfingen, sich zum wahren Glauben bekennen
und sich weder selbst zu ihrem Unsegen vom Zusammenhang des Leibes
getrennt haben noch wegen schwerer Verstöße durch die rechtmäßige
kirchliche Obrigkeit davon ausgeschlossen worden sind. "Denn", so sagt
der Apostel, "durch einen Geist wurden wir alle zu einem Leib getauft,
ob Juden oder Heiden, ob Sklaven oder Freie" (1Kor.12,13)
Es gibt nur einen Glauben
Wie es also in der wahren Gemeinschaft der Christgläubigen nur einen
Leib gibt, nur einen Geist, einen Herrn und eine Taufe, so kann es auch
nur einen Glauben in ihr geben (vgl. Eph. 4, 5); und deshalb ist, wer
die Kirche zu hören sich weigert, nach dem Gebot des Herrn als Heide
und öffentlicher Sünder zu betrachten (vgl. Matth. 18,17). Aus diesem
Grund können die, welche im Glauben oder in der Leitung voneinander
getrennt sind, nicht in diesem einen Leib und aus seinem einen
göttlichen Geiste leben.
Es wäre aber auch falsch zu glauben, daß der Leib der Kirche deshalb,
weil er den Namen Christi trägt, schon hienieden, zur Zeit seiner
irdischen Pilgerschaft, nur aus heiligmäßigen Gliedern, oder nur aus
der Schar derer bestehe, die von Gott zur ewigen Seligkeit vorher
bestimmt sind. In seiner unendlichen Barmherzigkeit versagt nämlich
unser Heiland in seinem mystischen Leib auch denen den Platz nicht,
welchen er ihn einst beim Gastmahle nicht versagte. Denn nicht jede
Schuld, mag sie auch ein schweres Vergehen sein, ist dergestalt, daß
sie, wie dies die Folge der Glaubensspaltung, des Irrglaubens und des
Abfalls vom Glauben ist, ihrer Natur gemäß den Menschen vom Leib der
Kirche trennt. Auch gehen die nicht allen übernatürlichen Lebens
verlustig, die zwar durch ihre Sün-de die Liebe und heiligmachende
Gnade verloren haben und deswegen unfähig geworden sind zu
übernatürlichem Verdienst, die aber den Glauben und die christliche
Hoffnung bewahren und durch himmlisches Licht erleuchtet, durch die
Einsprechungen und inneren Antriebe des Heiligen Geistes zu heilsamer
Furcht gebracht und zum Gebet und zur Reue über ihren Fall angespornt
werden.
So möge denn jeder vor der Sünde zurückschrecken, da durch sie die
mystischen Glieder des Erlösers befleckt werden. Wer aber das Unglück
gehabt hat zu sündigen, ohne sich durch Verstocktheit der Gemeinschaft
der Christgläubigen unwürdig gemacht zu haben, dem soll man mit größtem
Wohlwollen begegnen und in ihm in echter Liebe nichts anderes sehen als
ein krankes Glied Jesu Christi. Es ist nämlich besser, wie der Bischof
von Hippo bemerkt, "im Lebenszusammenhang mit der Kirche geheilt, als
aus ihrem Körper als unheilbares Glied ausgeschnitten zu werden". "Denn
was noch mit dem Leibe zusammenhängt, an dessen Heilung braucht man
nicht zu verzweifeln; was aber abgeschnitten ist, kann nicht mehr
gepflegt und geheilt werden." 1)
Der Heilige Geist
So hatte er also die Kirche durch sein Blut gegründet. Am Pfingstfeste
aber stärkte er sie mit der ihr eigenen Kraft vom Himmel. Denn als er
den schon früher zu seinem Stellvertreter bestimmten Apostelfürsten
feierlich in sein erhabenes Amt eingesetzt hatte, war er zum Himmel
gefahren und wollte nunmehr, sitzend zur Rechten des Vaters, seine
Braut durch die sichtbare Herabkunft des Heiligen Geistes unter dem
Brausen eines gewaltigen Sturmes und unter feurigen Zungen offenbaren
und kundmachen. Christus der Herr war ja selber beim Beginn seiner
Lehrtätigkeit von seinem ewigen Vater durch den Heiligen Geist, der in
leiblicher Gestalt gleich einer Taube herabkam und über ihm blieb,
geoffenbart worden. So sandte nun auch er, als die Apostel ihr heiliges
Predigtamt antreten sollten, seinen Geist vom Himmel herab, der sie
mittels feuriger Zungen berührte und auf die übernatürliche Sendung und
das übernatürliche Amt der Kirche wie mit göttlichem Finger hinweisen
sollte.
Christus ist das Haupt des Leibes
Daß der mystische Leib, den die Kirche bildet, Christi Namen trägt,
geht an zweiter Stelle daraus hervor, daß Christus tatsächlich von
allen als Haupt der Kirche angesehen werden muß. "Er ist", wie Paulus
sagt, "das Haupt des Leibes, der Kirche". Er ist das Haupt, von dem der
ganze Leib in passender Ordnung zusammengehalten wird, heranwächst und
zunimmt in seinem Aufbau.
Es ist euch wohlbekannt, ehrwürdige Brüder, wie lichtvoll und klar die
Meister der Scholastischen Theologie, und vor allem der engelgleiche,
allgemeine Lehrer, über diese Wahrheit gehandelt haben. Ihr wißt auch
sicher, daß die von St. Thomas vorgebrachten Beweise den Ansichten der
heiligen Väter getreu entsprechen, die übrigens nichts anderes
wiedergaben und erläuterten als die Aussprüche der Heiligen
Schrift.
Dennoch möchten Wir hier zum allgemeinen Nutzen diesen Punkt genauer
besprechen. Zunächst ist es klar, daß Gottes und der seligen Jungfrau
Sohn wegen seiner einzigartigen Stellung Haupt der Kirche genannt
werden muß. Nimmt doch das Haupt die höchste Stelle im Leibe ein. Wer
ist aber höher gestellt als Christus, unser Gott, der, das Wort des
ewigen Vaters, als der "Erstgeborene aller Schöpfung" (Kol. 1,15)
angesehen werden muß? Wer steht auf erhabenerem Gipfel als Christus der
Mensch, der, von der makellosen Jungfrau geboren, wahrer und wirklicher
Sohn Gottes ist und nach seinem Sieg über den Tod durch die wunderbare,
glorreiche Auferstehung der "Erstgeborene unter den Toten" ward?
Christus leitet seine Kirche vom Himmel
Aber unser göttlicher Erlöser lenkt und leitet auch selbst unmittelbar
die von ihm gegründete Gesellschaft. Er selber regiert nämlich im
Geiste und Herzen der Menschen, beugt und spornt nach seinem
Wohlgefallen sogar den widerspenstigen Willen. "Das Herz des Königs ist
in der Hand des Herrn. Er lenkt es, wohin er will." Durch diese innere
Leitung sorgt er nicht nur als "Hirte und Bischof unserer Seelen" für
die einzelnen, sondern trägt auch Fürsorge für die Gesamtkirche. Bald
erleuchtet und stärkt er ihre Vorsteher, damit jeder von ihnen getreu
und fruchtbar sein Amt ausübe. Bald - und dies zumal in schwierigeren
Zeitumständen - erweckt er im Schoße der Mutter Kirche Männer und
Frauen, die durch den Glanz ihrer Heiligkeit hevorleuchten, um den
übrigen Christgläubigen zum Beispiel zu dienen für das Wachstum seines
geheimnisvollen Leibes. Mit besonderer Liebe aber blickt Christus vom
Himmel auf seine makellose Braut, die hier auf Erden in der Verbannung
leidet. Sieht er sie in Gefahr, so entreißt er sie persönlich, oder
durch seine Engel, oder durch sie, die wir als Hilfe der Christen
anrufen, und durch andere himmlische Helfer der Sturmflut. Haben sich
dann die Wogen gelegt und beruhigt, dann tröstet er sie mit jenem
Frieden, "der alle Vorstellung über-steigt".
Der Papst: Sichtbarer Stellvertreter Christi
Man darf aber nicht glauben, er leite sie nur auf unsichtbare oder
außerordentliche Weise. Unser göttlicher Erlöser übt auch eine
sichtbare, ordentliche Leitung über seinen mystischen Leib aus durch
seinen Stellvertreter auf Erden. Ihr wißt ja, ehrwürdige Brüder, daß
Christus unser Herr während seiner irdischen Pilgerfahrt "die kleine
Herde" persönlich und auf wahrnehmbare Weise regiert hat. Als er aber
die Welt dann verlassen und zum Vater zurückkehren wollte, hat er die
sichtbare Leitung der ganzen von ihm gegründeten Gemeinschaft dem
Apostelfürsten übertragen. In seiner Weisheit konnte er ja den von ihm
geschaffenen gesellschaftlichen Leib der Kirche keineswegs ohne
sicht-bares Haupt lassen. Man kann auch nicht, um diese Wahrheit in
Abrede zu stellen, behaupten, durch den in der Kirche aufgestellten
Rechtsprimat sei dieser mystische Leib mit einem doppelten Haupte
versehen. Denn Petrus ist kraft des Primates nur der Stellvertreter
Christi, und daher gibt es nur ein einziges Haupt dieses Leibes,
nämlich Christus. Er hört zwar nicht auf, die Kirche auf geheimnisvolle
Weise in eigener Person zu regieren. Auf sichtbare Weise jedoch leitet
er sie durch den, der auf Erden seine Stelle vertritt. Bereits nach
seiner glorreichen Himmelfahrt war die Kirche nicht nur auf ihm selber,
sondern auch auf Petrus als dem sichtbaren Grundstein erbaut. Daß
Christus und sein Stellvertreter auf Erden nur ein einziges Haupt
ausmachen, hat Bonifaz VIII., Unser Vorgänger unvergeßlichen Andenkens,
durch das apostolische Schreiben "Unam Sanctam" feierlich erklärt, und
seine Nachfolger haben diese Lehre immerfort wiederholt.
In einem gefährlichen Irrtum befinden sich also jene, die meinen, sie
könnten Christus als Haupt der Kirche verehren, ohne seinem
Stellvertreter auf Erden die Treue zu wahren. Denn wer das sichtbare
Haupt außer acht läßt und die sichtbaren Bande der Einheit zerreißt,
der entstellt den mystischen Leib des Erlösers zu solcher
Unkenntlichkeit, daß er von denen nicht mehr gesehen noch gefunden
werden kann, die den sicheren Port des ewigen Heiles suchen.
Die Stellung der Bischöfe innerhalb der Kirche
Was wir aber hier von der allgemeinen Kirche sagen, das muß auch von
den besonderen christlichen Gemeinschaften, den Diözesen, gesagt
werden, sowohl von den orientalischen wie von den lateinischen, aus
denen die eine katholische Kirche besteht und sich zusammensetzt. Jede
von ihnen wird von Jesus Christus durch das Wort und die
Regierungsgewalt ihres eigenen Bischofs geleitet. Deshalb sind die
kirchlichen Oberhirten nicht bloß als die vorzüglicheren Glieder der
allgemeinen Kirche anzusehen, weil sie durch ein ganz spezielles Band
mit dem göttlichen Haupte des ganzen Leibes verbunden und daher mit
Recht "die wichtigsten Teile der Glieder des Herrn" genannt werden,
son-dern jeder einzelne in seinem Sprengel weidet und leitet im Namen
Christi als wahrer Hirte seine eigene ihm anvertraute Herde. Bei dieser
Tätigkeit sind sie freilich nicht völlig eigenen Rechtes, son-dern der
dem Römischen Papst gebührenden Gewalt unterstellt, wiewohl sie eine
ordentliche Juris-diktionsgewalt besitzen, die ihnen unmittelbar
gleichfalls vom Papste erteilt wird. Deshalb müssen sie als Nachfolger
der Apostel zufolge göttlicher Einsetzung vom Volke verehrt werden. Und
mehr als von den Regierenden dieser Welt, auch den allerhöchsten, gilt
von den Bischöfen, da sie mit der Salbung des Heiligen Geistes versehen
sind, das Schriftwort: "Vergreifet euch nicht an meinem
Gesalbten!"...1)
Die Kirche als mysticher Leib Christi
Gehen wir nun einen Schritt weiter, und erörtern wir den Punkt, der den
Grund, warum Christi Leib, die Kirche, mystisch, d.h. geheimnisvoll,
genannt werden muß, in das rechte Licht rücken soll. Diese Benennung,
die schon bei mehreren Kirchenschriftstellern der Frühzeit üblich war,
wird durch nicht wenige Dokumente der Päpste bestätigt. Aber nicht bloß
aus einem Grund ist dieses Wort berechtigt. Es unterscheidet zunächst
den gesellschaftlichen Leib der Kirche, dessen Haupt und Lenker
Christus ist, von dessen physischem Leib, der, aus der jungfräulichen
Gottesmutter geboren, jetzt zur Rechten des Vaters thront und unter den
eucharistischen Gestalten verborgen ist.
Ebenso,- und dies ist wegen der Zeitirrtümer von großer Bedeutung -
schließt diese Bezeichnung jeden natürlichen Leib, sei es einen
physischen, sei es einen sogenannten moralischen, aus. In einem
natürlichen Leibe nämlich verbindet das einigende Prinzip die einzelnen
Teile derart, daß sie kein eigenes Fürsichsein mehr besitzen. Im
mystischen Leib dagegen verbindet das einigende Prinzip, obschon es bis
ins Innerste geht, die Glieder so untereinander, daß die einzelnen ihre
Eigenpersönlichkeit vollauf bewahren. Wenn Wir sodann das gegenseitige
Verhältnis zwischen dem Ganzen und den einzelnen Gliedern betrachten,
so ergibt sich folgendes: In jedem lebendigen physischen Leibe sind
alle einzelnen Glieder in letzter Linie einzig zum Wohle des ganzen
Organismus da, während jede gesellschaftliche Gliederung von Menschen,
wenn man auf deren letzten Nützlichkeitswert sieht, hingeordnet ist,
auf den Nutzen aller und zugleich jedes einzelnen Gliedes, da diese ja
Personen sind. Um also auf unsere Frage zurückzukommen, wie der Sohn
des ewigen Vaters um des ewi-gen Heiles unser aller willen vom Himmel
herab gestiegen ist, so hat er den Leib der Kirche gebildet und mit dem
göttlichen Geiste beseelt zu dem Zwecke, das ewige Glück der
unsterblichen Seelen zu wirken und zu sichern, gemäß dem Ausspruch des
Apostels: "Alles gehört euch, ihr aber gehört Christus und Christus
Gott." Wie nämlich die Kirche zum Wohl der Gläubigen da ist, so hat sie
die Bestimmung, Gott, und den er gesandt hat, Jesus Christus, zu
verherrlichen.
Vergleichen wir sodann den mystischen Leib mit einer sogenannten
moralischen Körperschaft, so müssen wir auch da einen keineswegs
geringfügigen, sondern höchst bedeutungsvollen und schwerwiegenden
Unterschied feststellen. In der moralischen Körperschaft nämlich ist
das einigende Prinzip nichts anderes als der gemeinsame Zweck und das
gemeinsame Zusammenwirken aller zu demselben Zweck mittels einer
gesellschaftlichen Obrigkeit. Im mystischen Leibe dagegen, von dem Wir
handeln, kommt zu diesem Zusammenwirken noch ein anderes, inneres
Prinzip, das sowohl dem ganzen Organismus wie den einzelnen Gliedern
wirklich und kraftvoll innewohnt und von solcher Erhabenheit ist, daß
es, in sich betrachtet, alle einigenden Bande, die einen physischen
oder einen moralischen Leib zusammenhalten, unermeßlich weit überragt.
Dieses Prinzip gehört, wie oben gesagt, nicht der natürlichen, sondern
der übernatürlichen Ordnung an, ja es ist in sich selber geradezu
unendlich und unerschaffen: der Geist Gottes, der, wie der hl. Thomas,
der engelgleiche Lehrer, sagt, "der Zahl nach ein und derselbe, die
ganze Kirche erfüllt und einigt".
Die Kirche ist ihrem übernatürlichen Wesen nach höherer Ordnung als der Staat
Die richtige Bedeutung der Bezeichnung "mystisch" erinnert also daran,
daß die Kirche, die als eine in ihrer Art vollkommene Gesellschaft
anzusehen ist, nicht bloß aus gesellschaftlichen und rechtlichen
Bestandteilen und Beziehungen besteht. Sie ist ja weit vorzüglicher als
irgendwelche andern menschlichen Körperschaften, die sie überragt, wie
die Gnade die Natur hinter sich läßt und wie das Unsterbliche alles
Vergängliche. Jene rein menschlichen Gesellschaften, namentlich der
Staat, sind gewiß nicht zu verachten oder geringzuschätzen. Allein die
Kirche als Ganzes gehört nicht der Ordnung dieser Dinge an, gleichwie
der Mensch als Ganzes nicht mit dem Gebilde unseres sterblichen Leibes
zusammenfällt. Denn die rechtlichen Beziehungen, auf welchen die Kirche
ebenfalls beruht und welche zu ihrem Bestandteil gehören, stammen zwar
aus ihrer göttlichen von Christus gegebenen Verfassung und haben ihren
Anteil bei Erreichung ihres übernatürlichen Zieles. Doch was die Kirche
über jedwede natürliche Ordnung hoch hinaushebt, ist der Geist unseres
Erlösers, der als Quelle aller Gnaden, Gaben und Charismen fortwährend
und zu innerst die Kirche erfüllt und in ihr wirkt. Wie der Bau unseres
sterblichen Leibes zwar ein wundervolles Werk unseres Schöpfers ist,
jedoch weit unter der erhabenen Würde unserer Seele zurückbleibt,
geradeso hat das gesellschaftliche Gefüge der christlichen
Gemeinschaft, wie sehr es auch die Weisheit seines göttlichen Meisters
verkündet, doch nur einen ganz untergeordneten Rang, so bald man es
vergleicht mit den geistlichen Gaben, mit denen die Kirche ausgestattet
ist und von denen sie lebt, sowie mit deren göttlichem Ursprung.
Aus alledem, was Wir in Unserem Schreiben an euch, ehrwürdige Brüder,
bisher dargelegt haben, geht klar hervor, daß sich jene in einem
schweren Irrtum befinden, die sich nach eigener Willkür eine
verborgene, ganz unsichtbare Kirche vorstellen, ebenso wie jene, die
sich die Kirche als eine Art menschlicher Organisation denken mit einer
bestimmten satzungsmäßigen Ordnung und mit äußeren Riten, aber ohne
Mitteilung übernatürlichen Lebens. Nein, wie Christus, das Haupt und
Urbild der Kirche, "nicht ganz ist, wenn man in ihm entweder nur die
menschliche, sichtbare ... oder bloß die göttliche, unsichtbare Natur
betrachtet..., sondern wie er einer aus beiden und in beiden Naturen
ist... so sein mystischer Leib"; hat doch das Wort Gottes eine
menschliche leidensfähige Natur angenommen, damit nach der Gründung
einer sichtbaren und mit dem göttlichen Blute geweihten Gesellschaft
"der Mensch durch eine sichtbare Leitung den Weg zum Unsichtbaren
zurückfinde".
Rechtskirche und Liebeskirche
Deshalb bedauern und verwerfen Wir auch den verhängnisvollen Irrtum
jener, die sich eine selbstersonnene Kirche erträumen, nämlich eine nur
durch Liebe aufgebaute und erhaltene Gesellschaft, der sie - mit einer
gewissenVerächtlichkeit - eine andere, die sie die Rechtskirche nennen,
gegenüberstellen. Eine solche Unterscheidung einzuführen ist ganz
verfehlt. Sie verkennt, daß der göttliche Erlöser die von ihm
gegründete Gemeinschaft von Menschen als eine in ihrer Art vollkommene
Gesellschaft mit allen rechtlichen und gesellschaftlichen Bestandteilen
gerade zu dem Zwecke wollte, damit sie dem Heilswerk der Erlösung hier
auf Erden dauernden Bestand sichere, und daß er sie zur Erreichung
desselben Zweckes vom Tröster - Geist mit himmlischen Gnaden und Gaben
reich ausgestattet wissen wollte. Gewiß, sie sollte nach dem Willen des
ewigen Vaters "das Reich des Sohnes seiner Liebe" sein, dabei aber in
Wahrheit ein solches Reich, in welchem alle durch ihren Glauben eine
vollkommene Unterwerfung des Verstandes und Willens darbringen und in
Demut und Gehorsam dem ähnlich werden sollten, der für uns "gehorsam
ward bis zum Tode". Es kann also kein wirklicher Gegensatz oder
Widerspruch bestehen zwischen der unsichtbaren Sendung des Heiligen
Geistes und dem rechtlich von Christus empfangenen Amt der Hirten und
Lehrer. Beide ergänzen und vervollkommnen einander wie in uns Leib und
Seele und gehen von einem und demselben aus, unserm Erlöser: Er hat
gewiß seinen Aposteln den göttlichen Odem eingehaucht mit den Worten:
"Empfanget den Heiligen Geist", aber er hat ihnen auch den klaren
Auftrag erteilt: "Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch",
und in gleichem Sinne gesagt: "Wer euch hört, der hört mich."
Schwäche und Sünde sind nicht ausgeschlossen
Wenn man aber in der Kirche einiges wahrnimmt, was die Schwäche unserer
menschlichen Natur verrät, so fällt das nicht ihrer rechtlichen
Verfassung zur Last, sondern vielmehr der beklagenswerten Neigung der
einzelnen zum Bösen. Diese Schwäche duldet ihr göttlicher Stifter auch
in den höheren Gliedern seines mystischen Leibes deswegen, damit die
Tugend der Herde und der Hirten erprobt werde und in allen die
Verdienste des christlichen Glaubens wachsen. Denn wie oben gesagt,
Christus wollte die Sünder aus der von ihm gegründeten Gemeinschaft
nicht ausgeschlossen wissen. Wenn also manche Glieder an geistlichen
Gebrechen leiden, so ist das kein Grund, unsere Liebe zur Kirche zu
vermindern, sondern vielmehr mit ihren Gliedern größeres Mitleid zu
haben. Ohne Fehl erstrahlt unsere verehrungswürdige Mutter in ihren
Sakramenten, durch die sie ihre Kinder gebiert und nährt, im Glauben,
den sie jederzeit unversehrt bewahrt, in ihren heiligen Gesetzen, durch
die sie alle bindet, und in den evangelischen Räten, zu denen sie
ermuntert, endlich in den himmlischen Gaben und Charismen, durch die
sie in unerschöpflicher Fruchtbarkeit unabsehbare Scharen von
Märtyrern, Jungfrauen und Bekennern hervorbringt. Ihr kann man es nicht
zum Vorwurf machen, wenn einige ihrer Glieder krank oder wund sind. Sie
fleht ja in deren Namen selbst täglich zu Gott: "Vergib uns unsere
Schuld", und widmet sich ihrer geistlichen Pflege mit mütterlich
starkem Herzen unablässig.
Wenn wir also den Ausdruck "mystischer" Leib Christi gebrauchen, so
liegen schon in der Bedeutung dieses Wortes sehr ernste Lehren für uns.
Solche Mahnung klingt an in den Worten des heiligen Leo: "Erkenne,
Christ, deine Würde, und der göttlichen Natur einmal teilhaftig
geworden, kehre nicht durch unwürdiges Betragen zum alten erbärmlichen
Zustand zurück! Denke daran, wessen Haupt und wessen Leibes Glied du
bist!" 1)
Aufforderung zur Rückkehr in das gemeinsame Vaterhaus
Wie euch sicher bekannt ist, ehrwürdige Brüder, haben Wir von Anfang
unseres Pontifikats an auch die, die nicht zur sichtbaren Gemeinschaft
der katholischen Kirche gehören, Gottes Schutz und Lei- tung empfohlen
und feierlich versichert, daß Uns in Nachahmung des Beispiels des guten
Hirten nichts mehr am Herzen liegt, als daß auch sie das Leben haben
und es in Fülle besitzen. Wir wünschen diese Unsere feierliche
Versicherung durch diese Enzyklika, die der Ehre "des großen und
glorreichen Leibes Christi" geweiht ist, zu wiederholen, nachdem Wir
soeben um die Gebete der ganzen Kirche nachgesucht haben. Alle jene und
jeden einzelnen von ihnen laden Wir mit liebendem Herzen ein, den
inneren Antrieben der göttlichen Gnade freiwillig und freudig zu
entsprechen und sich aus einer Lage zu befreien, in der sie des eigenen
ewigen Heiles nicht sicher sein können. Denn mögen sie auch aus einem
unbewußten Sehnen und Wünschen heraus schon in einer Beziehung stehen
zum mystischen Leib des Erlösers, so entbehren sie doch so vieler
wirksamer göttlichen Gaben und Hilfen, deren man sich nur in der
katholischen Kirche erfreuen kann. Möchten sie also eintreten in den
Kreis der katholischen Einheit und, alle mit uns in der gleichen
Gemeinschaft des Leibes Jesu Christi geeint, an das eine Haupt sich
wenden in ruhmreicher Liebesverbundenheit. In unablässigem Flehen zum
Geiste der Liebe und der Wahrheit erwarten Wir sie mit ausgebreiteten
Armen, nicht als Fremde, sondern als solche, die in ihr eigenes
Vaterhaus einkehren.
Nur ein freiwilliger Eintritt
Doch wenn es auch Unser Wunsch ist, es möchten unaufhörlich die
Gemeinschaftsgebete des ganzen mystischen Leibes, um möglichst baldigen
Eintritt aller Irrenden in die eine Hürde Jesu Christi zu Gott
emporsteigen, so müssen Wir doch betonen, daß solch ein Schritt aus
freiem Willensentschluß geschehen muß, da niemand glauben kann, der es
nicht freiwillig tut. Sollten also Menschen, die nicht glauben,
wirklich zum Eintritt in den äußerlichen Bau der Kirche, zum Hintreten
an den Altar und zum Empfang der Sakramente genötigt werden, so können
dies gewiß keine wahren Christ-gläubigen sein. Denn der Glaube, ohne
den man Gott unmöglich gefallen kann, muß eine völlig freie "Hingabe
des Verstandes und Willens" sein. Sollte daher einmal der Fall
eintreten, daß jemand gegen die beständige Lehre dieses Apostolischen
Stuhles wider seinen Willen zum katholischen Glauben gezwungen würde,
so müßten Wir dies im Bewußtsein Unserer Amtspflicht unbedingt
zurückweisen. Weil aber die Menschen einen freien Willen haben und ihre
Freiheit infolge ihrer verkehrten Neigungen und Leidenschaften auch
mißbrauchen können, kann nur der Vater der Erleuchtung sie durch den
Geist seines geliebten Sohnes wirksam zur Wahrheit bewegen. Wenn also
bedauerlicherweise so viele Menschen noch außerhalb der Wahrheit des
katholischen Glaubens stehen und dem Walten der göttlichen Gnade ihre
Freiheit nicht unterwerfen, so hat dies seinen Grund nicht nur darin,
daß sie selbst (vgl. August. In Joh. ev.), sondern auch darin, daß die
Christgläubigen keine glühenderen Gebete um diese Gnade an Gott
richten. Stets aufs neue wiederholen Wir darum Unsere Mahnung, daß alle
in brennender Liebe zur Kirche und nach dem Beispiel des göttlichen
Heilandes solche Gebete beharrlich verrichten."
Die katholische Kirche ist also das große sichtbare Geheimnis, weil ihr
Oberhaupt auf Erden, der Stellvertreter Christi, sichtbar ist, weil
ihre Diener sichtbar sind, weil ihr Leben sichtbar ist, ihr Kult, ihr
Handeln und Wirken zum Heil und zur Vervollkommnung der Menschen.
Sichtbar ist auch ihre Unzerstörbarkeit, soweit sie geschichtlich
beweisbar ist, indes ihr Weg in der Vergangenheit Unter-pfand ihrer
Zukunft ist. Daher hat ein großer nichtkatholischer Geschichtsschreiber
des vergangenen Jahrhunderts, nachdem er gegen seinen Willen anerkannt
hatte, daß die katholische Kirche "voll Leben und jugendlicher Kraft"
geblieben sei, bemerkt: "Wenn wir an die schrecklichen Angriffe
den-ken, die sie überstanden hat, so finden wir es schwer, uns
vorzustellen, wie sie untergehen könnte." Aber wenn man auch diese
Unzerstörbarkeit aus der Erfahrung aufweisen kann, so ist sie doch ein
Geheimnis, weil sie nicht auf natürliche Weise erklärbar ist, es sei
denn durch die Tatsache, die wir aus der göttlichen Offenbarung kennen,
daß Christus, der sie gegründet hat, in allen Drangsalen mit ihr ist
bis ans Ende der Zeiten. 2)
Die Kirche altert nicht
Die Kirche hatte und hat ihren Frühling, wunderbar wie sie selbst. Die
drei großen Feste: Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten, in der
Jahreszeit, in der die Natur, zu neuem Leben erwachend, sich mit Grün
und Blüten schmückt und sich mit inneren Wehen darauf vorbereitet ihre
Ernten und ihre Früchte zu schenken, sind jene Feste etwa nicht ein
geistlicher Frühling, der uns den Frühling der Natur süßer und teurer
und schöner macht? Sie sind gleichsam eine Sonne, in der die drei
höchsten Wahrheiten aufleuchten, die drei überwältigenden
geschichtlichen Tatsachen, die drei Geheimnisse höchsten Glanzes im
Werk der Erlösung; sie sind drei unerschütterliche Grundpfeiler des
gewaltigen Gebäudes der heiligen Kirche. In ihrem Lichte, in ihrer
übernatürlichen Festigkeit erleuchten diese Wahrheiten, gleich
gegenwärtig in jedem Jahrhundert der Kirchengeschichte und gleich
offenkundig für alle Geschlechter, mit ihrer geschichtlichen
Wirklichkeit den Frühling des Christentums, sein Grünen, Wachsen und
Blühen auch in Sturm und Ungewitter; denn das Christentum ist als Riese
geboren, die Stirn umgürtet mit den Strahlen jener drei Wahrheiten,
welche die mit Recht als heroisch bezeichnete Epoche einleiten: die
drei Jahrhunderte von der Gründung der Kirche bis zum Frieden mit dem
Römischen Reich im Jahre 312, zur Zeit Konstantins.
Diese drei grundlegenden Geheimnisse, als der leuchtendste Glanz jenes
Lichtes der Welt, das Christus ist, leiten und begleiten den Weg der
jungen Braut Christi, der Kirche, wachen über ihre Schritte und flößen
ihr Mut ein, sich aufrechtzuhalten in dem dunklen Wald des Heidentums,
um den Berg ihrer vorbestimmten Größe zu erreichen. Den Sinn mit zäher
Beharrlichkeit dem Glauben verhaftet an die neue Welt und die eigene
Auferstehung, das Auge mit heiligem Verlangen auf den Verherrlichten
gerichtet, der zur Rechten des Vaters sitzt im himmlischen Jerusalem,
der ewigen, glückseligen Heimstatt jener, die treu bleiben werden bis
in den Tod, die Seele beherrscht von der Gewißheit der stärkenden
Gegenwart des Geistes, den Jesus versprochen und gesandt hatte: So seht
ihr die ersten Christen hervorragen durch die Größe ihres Denkens, die
Kraft ihres Handelns, durch Mut und Wetteifer in sittlichem Heldentum,
in der Behauptung des Glaubens, in Kämpfen und Leiden, ein Beispiel
hinterlassend, dessen erobernde Macht sich offenbart und fortpflanzt
von Jahrhundert zu Jahrhundert bis in unsere Tage - unsere Tage, da es
mehr denn je gilt, die christliche Ehre zu retten und den christlichen
Namen zu bewahren, Kämpfe und Prüfungen zu bestehen, die denen von
damals nicht unähnlich sind. Vor solchen Helden, auf deren Haupt sich
mit dem Siegeslorbeer des christlichen Kämpfertums oft die Palme des
Martyriums verschlingt, verschwindet jede Ungewißheit und jedes Zögern.
Genügt die Mahnung, die ihr Heldenleben uns mit so mächtiger Stimme
erteilt, etwa nicht, den Nebel in den Geistern zu zerteilen, die Herzen
wieder zu kräftigen, die Stirnen der Christen von heute wieder
aufzurichten, da ihnen ihre hohe Würde ins Bewußtsein gerufen wird, das
Verlangen nach erhabener Größe in ihnen geweckt und sie an die
Verantwortung erinnert werden, die ihnen das christliche Bekenntnis
auferlegt?
Das geistige Profil dieser ersten Christenheit, in deren Anfänge uns
das Fest der Auferstehung und das Pfingstfest demnächst zurückführen
werden, ist gekennzeichnet durch vier charakteristische und
unverwechselbare Wesenszüge:
1. Eine unerschütterliche Siegesgewißheit, die sich auf einen tiefen Glauben stützt;
2. eine grenzenlos heitere Bereitschaft zu Opfer und Leiden;
3. eine eucharistische Glut und Innerlichkeit, die aus der Überzeugung
von der sozialen Wirksamkeit des eucharistischen Gedankens auf alle
Formen des gesellschaftlichen Lebens hervorbricht;
4. ein Streben nach immer festerer und unzerstörbarer Einheit im Geiste und in der Hierarchie.
Dieses vierfache Wesensbild der jungen Kirche bedeutet in jedem seiner
beherrschenden Merkmale einen Weckruf und zugleich eine Hoffnung und
ein Versprechen für die Christenheit unserer Tage. Aber das wahre
Christentum von Heute ist von dem anfänglichen nicht verschieden. Die
Jugend der Kirche ist ewig, denn die Kirche altert nicht, wenn sie
ihren Schritt auf dem Wege zur Ewigkeit je nach den Umständen der Zeit
ändert; die Jahrhunderte, die sie zählt, sind für sie ein Tag, wie die
Jahrhunderte, die sie erwartet, ein Tag sind. Ihre Jugend zur Zeit der
Cäsaren ist dieselbe, die zu uns spricht. 3)
Übernationalität der Kirche
Die Katholische Kirche ist ihrem Wesen nach übernational Das schließt
einen zweifachen Sinn ein, einen negativen und einen positiven. Die
Kirche ist Mutter, Sancta Mater Ecclesia, wahre Mutter, Mutter aller
Nationen und aller Völker nicht weniger als aller einzelnen Menschen,
und eben weil sie die Mutter aller ist, gehört sie nicht und kann sie
nicht ausschließlich diesem oder jenem Volk angehören und auch nicht
einem Volke mehr und einem anderen weniger, sondern allen gleich. Sie
ist Mutter, und daher ist sie an keinem Ort eine Fremde und kann es
nicht sein, denn sie lebt oder soll wenigstens ihrer Natur nach in
allen Völkern leben. Während indessen die Mutter mit ihrem Gatten und
ihren Kindern eine Familie bildet, ist die Kirche kraft einer
unvergleichlich engeren Einheit mehr und etwas Besseres als eine
Familie, nämlich der mystische Leib Christi. Die Kirche ist also
übernational, weil sie ein unsichtbares, allumfassendes Ganzes
ist.
Die Kirche verbindet alle Zonen und alle Zeiten der erlösten Menschheit
ohne Ausnahme. Kraftvoll begründet mittels einer so tiefreichenden
Wurzel, steht die Kirche, mitten in der Geschichte des
Menschengeschlechts, auf dem bewegten und aufgewühlten Feld
auseinanderstrebender Kräfte und widerstreitender Richtungen; und mag
sie auch immer wieder Angriffen gegen ihre unteilbare Einheit
ausgesetzt sein, sie ist weit davon entfernt, dadurch erschüttert zu
werden. Im Gegenteil, aus ihrem Leben in Ganzheit und Einheit strahlen
und ergießen sich immer neue heilbringende und einigende Kräfte auf die
zerrissene und entzweite Menschheit, Kräfte der einigenden göttlichen
Gnade, Kräfte des einigenden Geistes, nach dem alle hungern,
Wahrheiten, die immer und überall gelten, Ideale, die immer und überall
leuchten.
Daraus erhellt, daß es ein frevelhafter Anschlag gegen den totus
Christus, gegen Christus in seiner Ganzheit ist, und zugleich ein
unheilvoller Schlag gegen die Einheit des Menschengeschlechts, wenn man
gewagt hat und immer wieder wagt, die Kirche gleichsam zur Gefangenen
und Sklavin dieses oder jenes bestimmten Volkes zu machen, sie in die
engen Grenzen einer Nation einzuschließen oder sie daraus zu verbannen.
Eine solche Zerreißung der Einheit der Kirche hat in den Völkern, die
ihre Opfer waren, das Gut ihres wirklichen und vollen Lebens mehr und
mehr verringert und verringert es noch. - Aber der nationale und
staatliche Individualismus der letzten Jahrhunderte hat nicht nur das
Interesse der Kirche zu verletzen, ihre einigenden Kräfte zu schwächen
und zu hemmen gesucht, die doch eine Zeit hindurch wesentlichen Anteil
an der Bildung der Einheit des europäischen Abendlandes gehabt haben.
Ein abgestandener Liberalismus wollte die Einheit einer laizistischen
Kultur und eines säkularisierten Humanismus ohne und gegen die Kirche
schaffen. Hier wie dort ist ihm als Frucht seiner zersetzenden
Tätigkeit und zugleich als Feind der Totalitarismus nachgefolgt. Mit
einem Wort: Was war nach wenig mehr als einem Jahrhundert das Ergebnis
aller dieser Bemühungen ohne und oft genug gegen die Kirche? Untergang
der gesunden menschlichen Freiheit; Zwangsorganisationen; eine Welt,
die an Brutalität und Barbarei, an Trümmern und Zerstörung, vor allem
aber an verhängnisvoller Spaltung und Unsicherheit nicht ihresgleichen
kennt.
In einer bewegten Zeit wie der unseren muß die Kirche zu ihrem eigenen
Wohl und zum Wohl der Menschheit alles tun, um ihre ungeteilte und
unteilbare Einheit zur Geltung zu bringen. Sie muß heute mehr denn je
übernational sein. Dieser Geist muß ihr sichtbares Oberhaupt erfüllen
und durchdringen, das Heilige Collegium, das ganze Handeln des Heiligen
Stuhls, auf dem gerade heute schwere, nicht nur die Gegenwart, sondern
noch mehr die Zukunft betreffende Aufgaben lasten.
Es handelt sich hier in der Hauptsache um eine Tat des Geistes, nämlich
darum, den rechten Sinn für die Übernationalität zu haben und ihn nicht
nach mathematischen Proportionen oder auf Grund strenger statistischer
Grundsätze über die Nationalität einzelner Personen zu messen oder zu
bestimmen. In dem langen Zeitraum, in dem durch Anordnung der Vorsehung
die italienische Nation mehr als andere der Kirche ihr Oberhaupt und
viele Mitarbeiter an der Zentralregierung des Heiligen Stuhls gegeben
hat, hat die Kirche in ihrer Gesamtheit doch immer ihren übernationalen
Charakter gewahrt.
Übernational, weil mit derselben Liebe alle Nationen und Völker
umfassend, ist die Kirche auch, weil sie an keinem Ort eine Fremde ist.
Sie lebt und entfaltet sich in allen Ländern der Welt, und alle Länder
der Welt tragen bei zu ihrem Leben und ihrer Entfaltung.
So vollendet sich in der Kirche von Heute immer mehr das, was der
heilige Augustinus in seiner Civitas Dei (dem "Gottesstaat")
verherrlicht hat: "Die Kirche" - so schreibt er - "ruft ihre Bürger aus
allen Stämmen: in allen Sprachen vereinigt sie, die eine Pilgerin ist,
ihre Gemeinschaft auf Erden. Nicht kümmert sie, was verschieden ist an
Sitten, Gesetzen, Einrichtungen. Nichts davon hebt sie auf, nichts
zerstört sie, sondern sie erhält es und befolgt es. Auch was
verschieden ist an den verschiedenen Nationen, richtet sich doch auf
das eine gleiche Ziel des irdischen Friedens, wenn es nicht die
Verehrung des einzigen höchsten und wahren Gottes verhindert." Wie ein
mächtiger Leuchtturm wirft die Kirche in ihrer allumfassenden Ganzheit
ihr Lichtbündel in die dunklen Tage, durch die wir gehen.
Was Uns angeht, so verlangen Wir selbst danach, dieses Haus immer
fester, immer wohnlicher für alle ohne Ausnahme zu machen. Daher wollen
Wir nichts unterlassen, was die Übernationalität der Kirche sichtbar
ausdrücken kann, als Zeichen ihrer Liebe zu Christus, den sie sieht,
und dem sie dient in dem Reichtum ihrer über die ganze Welt verstreuten
Glieder. 4)
Die Kirche ist Mutter
Die Kirche, die vom göttlichen Erlöser zu allen Völkern gesandt worden
ist, um sie zu ihrem ewigen Heil zu führen, hat nicht die Absicht, in
Streitigkeiten über rein irdische Dinge einzugreifen. Die Kirche ist
Mutter. Verlangt von einer Mutter nicht, für das eine oder das andere
ihrer Kinder Partei zu ergreifen, hier zu begünstigen da zu bekämpfen.
Alle müssen in ihr in gleicher Weise jene großherzige, klarsehende
Liebe finden, jene innige und unwandelbare Zärtlichkeit, die ihren
getreuen Kindern die Kraft gibt, mit festerem Schritt auf dem
königlichen Wege der Wahrheit und des Lichtes zu wandeln, und die den
Verirrten und Irrenden die Sehnsucht einflößt, unter ihre mütterliche
Leitung zurückzukehren. 5)
Jeder aufmerksame Beobachter, der die gegenwärtigen Umstände in ihrer
konkreten Wirklichkeit zu erwägen und abzuschätzen weiß, bleibt
zwangsläufig betroffen angesichts der großen Hindernisse, die sich dem
Apostelamt der Kirche entgegenstellen. Wie der Fluß der glühenden Lava,
der Meter um Meter den Hang des Vulkans herunterfließt, so dringt die
zerstörende Woge des Weltgeistes drohend vor und breitet sich über alle
Bereiche des Lebens, über alle Gesellschaftsklassen aus. Ihr Gang und
ihr Rhythmus nicht weniger als ihre Wirkungen wechseln nach den
verschiedenen Ländern, von einem mehr oder weniger bewußten Verkennen
des sozialen Einflusses der Kirche bis zum systematischen Mißtrauen,
das in einigen Regierungsformen den Charakter offener Feindseligkeit
oder Verfolgung annimmt. 6)
Die Kirche kann sich nicht untätig in die Stille ihrer Gotteshäuser
zurückziehen und so die von der göttlichen Vorsehung ihr zugewiesene
Sendung aufgeben, nämlich den ganzen Menschen zu bilden und dadurch
rastlos mitzuarbeiten am Bau des festen Fundaments der Gesellschaft.
Diese Sendung gehört zu ihrem Wesen selbst. So betrachtet, kann sich
die Kirche die Gesellschaft derer nennen, die unter dem übernatürlichen
Einfluß der Gnade, in der Vervollkommnung ihrer persönlichen Würde als
Kinder Gottes und in der harmonischen Entfaltung aller menschlichen
Anlagen und Kräfte, den mächtigen Bau des menschlichen Zusammenlebens
errichten.
Kollektiv- und Individualschuld
So ist der vornehmliche Sinn der Übernationalität der Kirche der, über
alle Grenzen von Raum und Zeit hinweg dauernd am Fundament der
menschlichen Gesellschaft zu gestalten und zu formen. Ein hartes Werk,
besonders in unseren Tagen, wo das gesellschaftliche Leben den Menschen
schier zum Rätsel, zu unentwirrbarem Knäuel geworden zu sein scheint.
Es gehen verhängnisvolle Irrtümer um, die einen Menschen für schuldig
und verantwortlich erklären, nur weil er Mitglied einer bestimmten
Gemeinschaft ist, ohne daß man sich die Mühe nimmt zu prüfen oder
festzustellen, ob seinerseits wirklich eine persönliche, schuldhafte
Handlung oder Unterlassung vorliegt. Das heißt, die Rechte Gottes, des
Schöpfers und Erlösers sich anmaßen, der allein in den geheimnisvollen
Ratschlüssen seiner immer liebevollen Vorsehung absoluter Herr der
Ereignisse ist und als solcher, wenn er es in seiner unendlichen
Weisheit so beschließt, die Geschicke von Schuldigen und Unschuldigen,
von Verantwortlichen und Nichtverantwortlichen verkettet. Dazu kommt,
daß vor allem die wirtschaftli-chen und militärischen Verwicklungen aus
der Gesellschaft gleichsam eine riesige Maschine gemacht haben, die der
Mensch selber nicht mehr meistert und die er geradezu fürchtet. Die
Kontinuität hatte stets als eine Wesenseigenschaft des
gesellschaftlichen Lebens gegolten, und es hatte den Anschein, als
könne man sich dieses soziale Leben nicht vorstellen, wenn man den
Menschen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft loslöse. Nunmehr ist
aber gerade dies der unheimliche Vorgang, deren Zeugen wir sind.
Allzuoft weiß man von der ganzen Vergangenheit nahezu nichts oder kaum
so viel, um die wirren Runen in ihren Trümmerhaufen zu erahnen. Die
Gegenwart ist für viele nur wie die jagende Flucht eines Gießbachs, der
die Menschen wie Treibholz in die dunkle Nacht einer Zukunft stürzt, in
der sie sich mitsamt dem reißenden Strom verlieren, der sie
dahinträgt.
Die Kirche allein kann den Menschen aus dieser Finsternis ins Licht
zurückzuführen; nur sie kann ihm das Bewußtsein einer kraftvollen
Vergangenheit wiedergeben, die Meisterung der Gegenwart, die Sicherheit
für die Zukunft. Aber ihre Übernationalität wirkt sich nicht aus wie
ein Imperium, das seine Fühler nach allen Seiten ausstreckt und nach
Weltherrschaft strebt. Wie eine Familienmutter vereinigt sie täglich
ihre in der Welt verstreuten Kinder im vertrauten Kreis; sie schließt
sie zusammen in der Einheit ihres göttlichen Lebensprinzips. 7)
Anmerkungen:
1) Aus der Enzyklika "Mystici Corporis Christi", 29.6.1943
2) Aus der Ansprache an die Fastenprediger, 13.3.1943
3) Aus der Rundfunkbotschaft, 13.5.1943
4, 5, 6) Aus den Allokutionen an das Heilige Collegium, 24.12.1945; 24.12.1946; 23.12.1950
7) Aus der Allokution an die neuen Kardinäle, 20. Februar 1946
(zitiert nach: Chinigo, Michael: "Der Papst sagt - Lehren Pius' XII." Frankfurt a.M., 1955, S.197-216)
|