Theologisch gesehen ist über "Die
Passion Christi" alles gesagt worden, was zu sagen ist. Man muß aber
keineswegs allem zustimmen, was da geäußert wurde. Wenn z.B. der Exeget
Klaus Berger recht einseitig die Hauptschuld am Justizmord an Jesus bei
dem römischen Prokurator und Landpfleger Pilatus sieht („Pilatus heißt
die Kanaille“, FAZ v. 21.8.03), zieht Josef Blinzler in seinem
erst-mals 1951 erschienen Buch „Der Prozeß Jesu“ eine ganz andere
Bilanz. Blinzler, der den Prozeß nach juristischen, historischen und
theologischen Kriterien untersucht, spricht Pilatus zwar nicht frei von
Schuld, besteht aber darauf, daß dieser durchaus ernsthaft versuchte,
das Leben Jesu zu retten. Die ganze Gehässigkeit und Bosheit der
Hohenpriester, Ältesten und pharisäischen Schriftgelehrten, aber auch
die Unnachgiebigkeit der Masse der Einwohner Jerusalems erkennend, gab
er diesem „Druck der Straße“ – wie man heute sagen würde – jedoch
schließlich nach und übergab ihnen Jesus zur Kreuzigung, obwohl er
eigentlich bis zum Schluß von dessen Unschuld überzeugt war. Sogar die
von Pilatus angeordnete Geißelung interpretiert Blinzler als
gewissermaßen letzten Versuch, die Hinrichtung noch abzuwenden.
Ohne also die leidige "Antisemitismus"-Diskussion noch einmal
wiederzukäuen zu wollen, dazu nur ein einziger Satz: Dieser Film ist in
keiner einzigen Sekunde antisemitisch. Gibson hat sogar, um auch jeden
möglichen Verdacht in diese Richtung auszuräumen, auf das durch die
Evangelisten überlieferte Wort „Sein Blut komme auf uns und unsere
Kinder“ (Matthäus 22,25), jene Selbstverwünschung, die sich bereits mit
der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 nach Christus erfüllte, (in der
Untertitelung, Anm. d. Red.) bewußt verzichtet. Nachdem diese
scheinbare Trumpfkarte des „Antisemitismus“ offensichtlich nicht mehr
gestochen hat, haben die liberalen Kritiker nun eine neue
Diffamierungskampagne gestartet. Von einem "sadomasochistischen
Spektakel" ist nun die Rede, einer "hochgradig brutalisierenden
Erfahrung", einem "sakralen Snuff-Film" oder gar einem "Ãœbelkeit
erregenden Todestrip." "Ohne jegliche Spiritualität" habe Gibson die
"Botschaft der Liebe" in eine "des Hasses" verwandelt und eines der
"grausamsten Werke der Filmgeschichte" geschaffen.
Diese Vorwürfe - dazu noch von Leuten, die sonst die blutigsten
Tarantino-Filme als "große Kunstwerke" bejubeln -, sind so flach und
leicht zu durchschauen, wie die hingeworfene Behauptung, Gibsons Glaube
sei "vortheologisch", er "verabscheue den Intellekt", und sei
"abergläubisch von Satan und der "anderen Seite" fasziniert." In eben
dieses gleiche Horn stößt auch ausgerechnet die EKD mit ihrem
Vorurteil, dem Film mangele es an „theologischer Tiefe“, und der
unvermeidliche Michel Friedman, von dem man dachte, daß er ob seiner
Verfehlungen wenigstens für die nächsten zehn Jahre den Mund halten
würde, besitzt tatsächlich die Schamlosigkeit zu erklären, Gibsons
„Passion Christi“ sei ein „verantwortungsloser Rückschritt ins
Mittelalter“. Abgesehen davon, daß diese Aussage von einem der
typischsten Repräsentanten unseres Jahrhunderts der finstersten
Geistesferne an Ignoranz und Arroganz kaum noch zu überbieten ist, ist
es in der Tat so, daß dort, wo transzendentale Erfahrungen keinerlei
Stellenwert mehr besitzen, Satan und seine Dämonen natürlich auch nicht
existent sein dürfen. Der Mensch des Hochmittelalters, unabhängig von
seiner Religion, war dagegen noch fasziniert von der Existenz reiner
Geistwesen, und der "Aufklärer" Voltaire, der mehr von der
Schöpfungsordnung verstand, als unsere heutigen Kleriker, schrieb: "Der
Satan! Dies ist das ganze Christentum; kein Satan, kein Heiland!"
Diesen tiefsten Gedanken des Christentums können Gibsons Kritiker nicht
verstehen und wollen es auch gar nicht.
Und natürlich war die christliche Religion nie nur eine "Botschaft der
Liebe", sonst müßte sie ja auch eine "Botschaft des Hasses" sein, wie
so manche nichtchristlichen Religionen, deren aggressive Töne einfach
ignoriert werden, und mit denen man stattdessen "auf Teufel komm raus"
dialogisiert. Das Christentum, und das wird in Mel Gibsons Film selbst
jedem Atheisten, der noch einen Funken Gefühl und Verstand hat, klar,
war immer ein Kampfplatz in der Welt, auf dem viele Schlachten
geschlagen, aber nur wenige Siege errungen werden. Darum ist "Die
Passion Christi" auch keine "manische Spielart des christlichen
Glaubens", wie Leon Wieseltier in der "New Republic" schreibt. Es war
nie Gibsons Absicht einen religiösen Erbauungsfilm für fromme Seelchen,
die mit verzücktem Augenaufschlag das liebe Jesusknäblein anhimmeln, zu
drehen, sondern er wollte jenen, die sich selbstbewußt für aufgeklärt
halten, ihre mangelnde Erkenntnispotenz in Sachen Glaube und Wissen
demonstrieren, vor allem aber wollte er endlich den falschen
Mysterienspielen der kirchlichen Modernisten ein Ende machen.
Daher enthält der Film auch nichts eigentlich Sensationelles, und wenn
ein Kritiker sagen würde, Gibson habe einen Action-Thriller gedreht,
der auf Tatsachen, nämlich der in den Evangelien überlieferten
christlichen Wahrheit, beruht, käme man vielleicht ins Gespräch. Nur
wissen unsere intellektuellen Kritiker leider nichts mehr davon, was
vor vierzig Jahren noch jedes alte Mütterchen wußte, daß nämlich der
traditionell-kirchliche Antijudaismus mit Antisemitismus aber auch gar
nichts zu tun hatte, sondern sozusagen als Reflex auf einen oft sehr
aggressiven jüdischen Antichristianismus, wie er in manchen
haßerfüllten Passagen des Talmuds zu lesen ist, zustande kam. Und
selbstverständlich wissen sie auch nichts davon, daß das Christentum
die Religion der Inkarnation, der Bejahung des Sinnlichen ist, weil der
geistige Sieg, die geistige Befreiung durch das Selbstopfer Christi, in
dem Gibson den Herzpunkt des unverfälschten christlichen Glaubens
sieht, von oben her geheiligt ist.
Mel Gibson, ein traditionalistischer Katholik, dessen religiöse Wurzeln
vor jener als "Konzil" bekanntgewordenen unseligen Versammlung in Rom
von 1962 bis 1965 liegen, hat seinen Film in dieser Wahrheit gedreht.
Das ist etwas ganz anderes als die Wahrheit zu suchen, wie der Atheist
Pasolini vor vierzig Jahren mit dem "1.Evangelium-Matthäus", der sich
der Sache zwar mit Respekt und Staunen näherte, die Heilsgeschichte
aber auf den sozialen Aspekt der Botschaft Jesu reduzierte. Nur der
Drehort ist der gleiche geblieben: Sassi di Matera, ein unter
Denkmalschutz stehendes süditalienisches Städtchen, dessen malerische
Kulisse dem biblischen Jerusalem in nichts nachsteht. Nur unweit
entfernt, in der Basilicata, wurden die ersten Szenen der letzten zwölf
Stunden Christi aufgenommen. Hier, im Garten Gethsemane am Ölberg,
erscheint ihm nach dem letzten Abendmahl und der Fußwaschung der
Teufel, und hier nehmen ihn nach Judas' Verrat die Häscher fest.
Die Dialoge in diesem Film werden ausschließlich in den damaligen
Originalsprachen Aramäisch und Latein geführt. Das hat u.a. den
Vorteil, daß kein eifriger Übersetzer mit seinen Privatoffenbarungen
hausieren gehen kann. Gibson hält sich nämlich - die spärlichen
Untertitel bezeugen es -, wortgetreu an die Ãœberlieferungen der
Evangelisten. Eine weitere Quelle der Inspiration lag in den
Passionsvisionen der deutschen Mystikerin und Augustinerin Anna
Katharina Emmerich, die an Drastik nichts zu wünschen übrig lassen.
Platz für Sentimentalitäten, wie man das aus früheren Christus-Filmen
gewohnt war, gibt es hier nicht. Von der Festnahme im Ölgarten, dem
Verhör durch die Hohenpriester, Ältesten und Pharisäer unter Führung
von Kaiphas und Annas, und der Vorführung bei Pilatus über den Kreuzweg
bis zur Kreuzigung auf Golgatha werden wir mit unvorstellbar grausamen
Szenen konfrontiert, und doch ist dies ein realistisches Bild der
Passion.
Aber es gibt auch ergreifende Szenen in diesem Film. Wenn Claudia, die
Frau des Pilatus, Maria (Maia Morgenstern) die Tücher reicht, und diese
damit den vom Blut ihres Sohnes getränkten Boden um den Geißelungsblock
säubert; wenn Seraphia, die Frau eines Mitglieds des Tempelrates, den
zerschlagenen und bespieenen Jesus (Jim Caviezel) mit Wein laben
möchte, von den rasenden Folterknechten zurückgestoßen wird, es ihr
aber gelingt mit einem Tuch das blutüberströmte Antlitz Christi zu
trocknen, oder wenn Simon von Cyrene sich zunächst weigert Jesus zu
helfen das Kreuz zu tragen, aber angesichts dieses zerschmetterten
Mannes seine Meinung ändert, dann verdichten sich diese Bilder
tatsächlich zu einer Botschaft der Liebe. In einer der wenigen
Rückblenden des Films erzählt Gibson die Geschichte der Maria Magdalena
(Monica Bellucci), jener Frau, die von den Pharisäern wegen Ehebruch
und Hurerei zum Tod verurteilt worden war. Nachdem Jesus ihre
Steinigung verhindert hat, küßt sie ihm aus Dankbarkeit die Füße, aber
er zieht sie sanft, beinahe zärtlich empor. Wo Scorsese sich in „Die
letzte Versuchung Christi“ in blasphemischen Anzüglichkeiten erging,
scheinen bei Gibson die Grundzüge der christlichen Nächstenliebe und
Caritas auf.
Daß Gibson Gott auch als gerechten Vergelter begreift, zeigt eine
andere Szene. Während die Frauen um Johannes, Maria und Maria Magdalena
unter dem Kreuz beten, verspricht Jesus dem guten Schächer, der seine
Untaten bereut und ihn als Sohn Gottes erkennt, daß er noch heute mit
ihm im Paradies sein werde. Dem Hohngelächter des zweiten,
unbußfertigen Schächers folgt die Strafe auf dem Fuß. Eine Krähe läßt
sich auf dem Kreuz nieder und hackt ihm die Augen aus. Das letzte Bild
zeigt - in der gebotenen Kürze - die Auferstehung. Nur die tiefen
Wundmale der Annagelung sind noch zu sehen, der geschundene, zerrissene
Körper ist wieder makellos. Der Tod ist besiegt.
Ist Gibsons Film ein religiöses Kunstwerk, ein Stein des Anstoßes oder
gar ein Erweckungserlebnis? Vielleicht sollte man die Antwort nicht den
Kritikern und schon gar nicht den Theologen überlassen, sondern jenen
Gläubigen, deren Prozession zum Osterfest der Bischof von Rom als
Pontifex, gekleidet in das Blut- und Lichtgewand der Märtyrerkirche,
abnimmt. Denn hier offenbart sich im zweitausendjährigen Kern des
Kanons der abendländischen Geschichte das Ereignis des ewigen
Schicksals des Menschen.
Werner Olles