STELLUNGNAHME
ZUM VORLIEGENDEN ENTWURF DER "ERKLÄRUNG"
St. Agatha-Tag 2000
Sehr geehrter Herr Dr. Heller,
haben Sie vielen Dank für den Entwurf der "Erklärung" zur Lage der
Kirche oder, genauer gesagt, der "kleinen Herde", die davon übrig
geblieben ist. Natürlich können Sie meinen Weihnachtsbrief ganz oder
teilweise abdrucken. Dies gilt auch für das, was ich nun, völlig
unsystematisch, zu den Vorschlägen der "Erklärung" sagen will.
1. Wie immer man über gewisse
Aktivitäten von Herrn Dr. Siebel denken mag, so kommt ihm ein für alle
Male das hohe Verdienst zu, logisch einwandfrei nachgewiesen zu haben,
daß die heutige römische Kirche nicht mit der katholischen Kirche
identisch ist, in der wir älteren Menschen noch aufgewachsen sind. Die
wahre katholische Kirche besteht inzwischen aus lauter Einzelgängern,
die noch dazu untereinander zerstritten sind.
2. Grundlegend für eine
theologisch einwandfreie Beurteilung der "nachkonziliaren",
insbesondere aber der durch den polnischen Professor geprägten Zustände
sind die Schriften von Johannes Dörmann. Sie sind keine einfache, auch
keine erbauliche Lektüre. Wer sie aber aufmerksam gelesen hat und noch
zu logischem Denken und Schlußfolgern fähig ist, muß abermals zu dem
Ergebnis gelangen: das heutige "Rom" lehrt eine völlig andere Religion
als das Rom von Petrus dem Ersten bis zu Pius dem Letzten. Die einzig
mögliche Konsequenz für alle denkfähigen, einsichtigen, glaubenstreuen
und überlieferungssinnigen Katholiken ist der Austritt aus der
vorgeblichen "römisch-katholischen Kirche".
3. Der "Sedisvakantismus" ist
keine Sekte, keine neue Religion, sondern bloß eine Kurzformel für die
Situation, wie sie sich einem intelligenten, urteilsfähigen Katholiken,
der den Mut hat, die Realität wahrzunehmen, unvermeindbar darstellt.
Dies sollten wir immer wieder unseren Gegnern klarmachen.
4. Leider ist viel, viel
kostbare Zeit verflossen. Das verfluchte Zweite Vaticanum endete
ausgerechnet am 8. Dezember 1965. Bereits knapp ein Jahr zuvor - am St.
Martinstag 1964 - hatte Montini die Tiara abgelegt, die seitdem auch
keiner seiner Nachfolger mehr getragen hat. Dann folgte die
Liturgiereform, die "Neue Messe", der "Dialogismus", der
Pseudo-Ökumenismus und so fort. Inzwischen sind mindestens zwei
Generationen herangewachsen, die den authentischen katholischen Glauben
gar nicht mehr aus lebendiger Anschauung und Übung kennen - daran sind
auch wir Älteren in höchstem Maße mitschuldig.
5. Wir befinden uns nun schon
seit Jahrzehnten in der Lage, wie sie Psalm 78 so eindringlich
beschwört: "Die Heiden sind in Dein Erbe eingedrungen, o Herr; sie
haben Deinen heiligen Tempel befleckt, Jerusalem machten sie einem
Steinhaufen gleich... Wir wurden unserm Nachbarn zur Schmach, zum Hohn
und Spott unsrer Umgebung ..." Als geschichtliche Parallelfälle und
Analogien, an denen wir uns schöpferisch ausrichten können, nenne ich:
die Juden nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. und die
russischen Raskolniki, auch "Altgläubige" oder "Altritualisten"
genannt. Letztere widerstanden den "Reformen" des Moskauer Patriarchen,
verteidigten die altrussische Frömmigkeit und nahmen dafür Bann,
Repressalien und Spott auf sich. Im siebzehnten Jahrhundert entstanden,
gibt es die Raskolniki heute noch.
6. Sowohl die Juden als auch
die russisch-orthodoxen Raskolniki beweisen, daß eine Religion auch
weltuntergangsähnliche Katastrophen überstehen kann. Juden und
Raskolniki stellen überdies zwei unterschiedliche Fälle von
Glaubensgemeinschaften dar, in der es kein Priestertum, keinen Tempel,
keine Opfer im traditionellen Sinne mehr gibt. Die Rabbiner sind, wie
Sie zweifellos wissen, keine Priester; und die Synagogen keine Tempel,
auch keine Surrogat-Tempel.
7. So wie in äußersten Fällen
die sogenannte Begierdetaufe genügt, um die Früchte des Erlösungswerkes
Christi zu erlangen, so haben wir uns darauf einzustellen auf den
"übergesetzlichen Notstand" in der una sancta catholica. Bald wird es
nur noch "Begierde-Katholiken" geben. Da nicht wir, sondern die
"Hierarchie" vom Glauben abgefallen ist, müssen wir uns mit
Gottvertrauen damit abfinden, daß es - abgesehen von den beiden
Ausnahmen nämlich Taufe und Ehe - in absehbarer Zeit keine Sakramente
mehr geben wird. Wir müssen uns als heitere Apokalyptiker mit dem
begnügen, was immer noch möglich ist - auch ohne Priester, ohne
Hierarchie, ohne "Amtskirche", immer im Bewußtsein der untrüglichen
Verheißung: "Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da
bin ich in ihrer Mitte" (Matthäus 18,20; vgl. 1 Korinther 5,4).
8. Unvermeidlich ist eine
gewisse Intellektualisierung des Glaubens. Er ist zwar der alte, der
ewig junge Glaube, aber er wird mehr als in früheren Zeiten ein
durchdachter, ein - soweit dies an uns liegt - ein intellektuell, ein
philosophisch abgestützer Glaube sein. Dies bedeutet nicht im
geringsten "Rationalismus", ganz im Gegenteil! Mehr denn je wird uns
gerade durch geistige Anstrengung, intellektuelle Disziplin und
philosophische Unterscheidungsfähigkeit bewußt, daß Glaube ein
Mysterium ist, ein Leben im Wunderbaren, eine Lebensform der Gnade. Wir
müssen heilige Intellektuelle, intelligente Heilige sein; vergessen wir
nicht, daß Klugheit eine Tugend ist.
Wir gehören auch dann zur Kirche, deren unfehlbares Haupt ER selbst
ist, wenn es keine apostolische Sukzession, keinen Papst, keine
Hierarchie gibt. Gibt es nicht auch eine intellektuelle, ja
metaintellektuelle, mystische Sukzession? Lesen wir die alten
Kirchenväter, etwa Augustinus und Gregor von Nyssa, Clemens von
Alexandrien und Dionysius vom Areopag, Ambrosius und Johannes
Chrysostomus, dann nicht nur Thomas von Aquin, sondern auch Anselm von
Canterbury, Bona-ventura und Duns Scotus. Vergessen wir auch nicht die
"Legenda aurea", den "Gesandten der gött-lichen Liebe" der Heiligen
Gertrud von Helfta, die Werke Hildegards von Bingen, die nicht nur
theologisch, sondern auch philosophisch hochbedeutsamen
Dominikaner-Mystiker Eckhart, Seuse und Tauler! Greifen wir endlich
nach den Schätzen, die uns die großen Franzosen des siebzehnten
Jahrhunderts in überreichem Maße anzubieten haben: Charles de Condren,
Pierre de Bérulle, Fénelon und François de Sales! Von späteren Autoren
nenne ich so unterschiedliche wie Anna Katharina Emmerich und Matthias
Joseph Scheeben; sie sind leuchtende Sterne am Himmel des katholischen
Deutschland.
9. Das Wichtigste aber ist,
auch im intellektuell hochgerüsteten "Begierde-Katholizismus" des 21.
Jahrhunderts, eine glaubenstreue und traditionsorientierte
Spiritualität. Wir werden schon bald keine Priester mehr haben, aber
jeder und jede von uns kann, ja soll zu geistlicher Existenz sich
aufschwingen. Halten wir uns an die Psalmen, am besten an alte
"vorkonziliare" Ausgaben des Römischen Breviers. Für Neulinge ist
empfehlenswert das auch ins Deutsch übersetzte "Officium Divinum
Parvum", herausgegeben von P. Hildebrand Fleischmann O.S.B. (Neunte
Auflage 1958) oder auch das von Pius XII. erneuerte "Officium
Marianum". Anfänger können auch das von Josef Dillersberger um 1950
herausgegebene Laienbrevier benützen (Restauflage noch beim Verlag Otto
Müller, Salzburg). Die Kirche verwirklicht sich ja keineswegs nur in
Meßopfer und Sakramenten, sondern im traditionellen Stundengebet, das
den gesamten Tag heiligt und erhellt: "Siebenmal täglich preise ich
Dich ..." (vgl. Psalm 118,164).
Schließlich: Neben Lesen und
Gebet kommt als Drittes die Lehre, die Weitergabe, auch das Erzählen.
Auch hierin sollen wir die ihres Tempels beraubten Juden, die dem
"alten Glauben" anhangenden Raskolniki auf katholische Weise nachahmen.
Vielleicht wird es schon sehr bald nur den allerwenigsten möglich sein,
eine wahre heilige Messe mitzufeiern. Aber wir können an allen Sonn-
und Feiertagen mit Hilfe eines alten "Schott" uns eine gültige Messe
meditativ vergegenwärtigen. Wir können dazu, als Predigtersatz,
ergänzend etwa die unausschöpfbaren Bücher von Leonhard Goffiné (vor
allem seine "Hauspostille") oder, um eine modernere Autorin zu nennen,
"Das Herrenjahr. Das Mysterium Christi im Jahreskreis der Kirche" von
Aemiliana Lohr O.S.B. lesen. Sie sind in theologischen Antiquariaten
für verhältnismäßig wenig Geld erhältlich.
Wir werden uns wohl in kurzem keiner Heiligen Messe mehr erfreuen; aber
wir können bis zum Ende, auch nach dem Greuel der Verwüstung am
Heiligen Ort (Matthäus 24,15), die Erinnerung an dieses Mysterium
bewahren. Dies können, dürfen, ja müssen wir tun, auch um unserer
Kinder willen. Wir können und sollen alle bewährten katholischen
Bräuche im Rahmen des Möglichen beibehalten oder erneuern:
Herrgottswinkel und Hausaltar, Maiandacht und Gebet für die Armen
Seelen, Ablaßgewinnung (nach vorkonziliaren Ablaß-Brevieren) und
Weihnachtskrippe ohne Fünfzack-stern. Und wer etwas vermögender ist,
kann ohne "kirchliche Erlaubnis im eigenen Garten sogar eine
Privatkapelle errichten. Und lesen wir immer wieder: Dante!
Dies ist gewiß ein Minimalprogramm.
Es hat jedoch den Vorzug, daß mit seiner Verwirklichung sofort, schon
heute, begonnen werden kann. Alles andere sollten wir, so denke ich IHM
überlassen, wie dies auch der Judasbrief 17-25 nahezulegen scheint. Wir
sind die Kirche, sofern wir uns Christus bewahren, mit dessen
Menschwerdung, Passion und Auferstehung die Endzeit bereits begonnen
hat.
Gerd-Klaus Kaltenbrunner
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