ZWEI PREDIGTEN ÜBER DAS LEIDEN DES HERRN
- Sermo LII und LIII -
vom
hl. Leo d.Gr., Papst von 440-461
Geliebteste! 1)
1. Das Geheimnis des Leidens, das unser Herr Jesus, der Sohn Gottes,
für die Erlösung der Menschheit auf sich nahm und durch welches er
seinem Versprechen gemäß, nachdem er erhöht war, alles an sich zog, ist
uns im Evangelium so ausführlich und anschaulich erzählt, daß die
verlesenen Worte auf fromme und gottesfürchtige Hörer denselben
Eindruck machen, als ob sie den Hergang mit eigenen Augen gesehen
hätten. Da nun die Darstellung der Heiligen Schrift unbestreitbare
Glaubwürdigkeit besitzt, so müssen wir mit Hilfe des Herrn darnach
streben, auch mit unserem Geiste klar zu erfassen, womit uns die
Geschichte bekannt gemacht hat. Denn seit jenem ersten und allgemeinen
Sündenfalle, demzufolge "durch einen einzigen Menschen die Sünde in die
Welt kam und durch die Sünde der Tod, und so der Tod auf alle Menschen
überging weil alle in jenem gesündigt haben" (Röm. 5,12), könnte
niemand der schrecklichen Herrschaft des Satans entgehen und niemand
die Bande seiner grausamen Gefangenschaft von sich streifen, könnte
keiner mehr den Weg zur Verzeihung finden oder den Pfad, der ihn zum
Leben zurückführt, wenn sich nicht der mit seinem göttlichen Vater
gleich ewige und wesensgleiche Sohn Gottes dazu herabließe, auch des
"Menschen Sohn" zu sein, wenn er nicht käme, "zu suchen und selig zu
machen, was verloren war." (Luc. 19, 10) So sollte also durch unseren
Herrn Jesus Christus die "Auferstehung" von den Toten kommen, wie durch
Adam der "Tod" gekommen war. Wenn nun auch nach dem unerforschlichen
Ratschluß der göttlichen Weisheit erst in jüngstvergangenen Tagen, "das
Wort Fleisch geworden ist" (Joh. 1, 14), so war doch die Geburt der uns
das Heil bescherenden Jungfrau nicht bloß für die Geschlechter der
letzten Zeit von Nutzen. Nein, auch den früheren Jahrhunderten
gereichte sie zum Segen. Die Gesamtheit derer, die im Altertum den
wahren Gott verehrten, die ganze Schar der Heiligen verflossener
Zeiten, sie alle lebten vielmehr in diesem Glauben und fanden durch ihn
Gottes Wohlgefallen. Nur die Erlösung unseres Herrn Jesus Christus
brachte den Patriarchen und Propheten und allen sonstigen Frommen
Rettung und Rechtfertigung. Der erwarteten durch zahlreiche
Weissagungen und Vorbilder verheißenen Erlösung entsprach also auch
ihre gnadenreiche Verwirklichung.
2. So wollen wir uns denn, Geliebteste, die schwache menschliche Natur
des Herrn auf seinem ganzen Leidenswege nicht etwa so vorstellen, daß
wir glauben, es habe ihr göttliche Macht gefehlt. Andererseits aber
wollen wir uns die Natur (formam) des eingebornen Sohnes Gottes, der
ebenso ewig wie der Vater ist und die gleiche Wesenheit wie dieser
selbst besitzt, auch nicht so denken, daß wir für Schein halten, was
uns der Gottheit unwürdig dünkt. Um es kurz zu sagen: Beide Naturen
gehören zu dem einen Christus. In ihm ist weder das "Wort" vom Menschen
geschieden, noch der Mensch vom "Worte". Und da seine Hoheit
unangetastet blieb, verschmähte er auch nicht unsere Niedrigkeit. Nicht
den geringsten Schaden brachte es der "leidensunfähigen" Natur, daß sie
sich mit der "leidensfähigen" vereinen mußte. Das ganze
Erlösungsgeheimnis, an dessen Verwirklichung Gottheit und Menschheit
zugleich Anteil haben, ward ersonnen von der Barmherzigkeit und
vollendet von der Liebe. Denn solche Fesseln hielten uns gefangen, daß
wir nur durch solche Hilfe befreit werden konnten. So ist also die
Erniedrigung der Gottheit unsere Erhöhung.
So groß mußte der Preis sein, damit wir erlöst würden, so groß das
Opfer, damit wir gesundeten. Wie könnte denn die Sünde den Weg zur
Gerechtigkeit und Erdennot den Pfad zum Glücke wiederfinden, wenn nicht
der Gerechte zu den Ungerechten und der Selige zu den Unseligen
herniederstiege?
3. Darum dürfen wir uns auch nicht, Geliebteste, des Kreuzes Christi
schämen, das er auf Grund göttlichen Ratschlusses, nicht aber wegen
einer persönlichen Schuld auf sich nahm. Obgleich nämlich der Herr
Jesus unserer schwachen Natur nach wirklich gelitten hat und auch
wirklich gestorben ist, so entsagte er doch nicht in dem Grade seiner
Herrlichkeit, daß er während seines an Beschimpfungen so reichen
Leidens von seinem göttlichen Wirken gar keinen Gebrauch gemacht hätte.
Versetzen wir uns in den Garten Gethsemani! Der gottlose Judas warf da
das Schafskleid ab und zeigte jetzt seine wilde Wolfsnatur, indem er
sein furchtbares Verbrechen unter dem Schein des Friedens begann und
mit einem Kusse, der grausamer war als jede Waffe, das Zeichen gab, das
Christus verraten sollte. Ein wütender Volkshaufen, der sich der
Abteilung bewaffneter Soldaten angeschlos-sen hatte, um den Herrn
gefangenzunehmen, vermochte bei seiner Verblendung trotz aller Fackeln
und Laternen das "wahre Licht" (Joh. 1,9) nicht zu erkennen. Da fragte
der Herr, der nach dem Zeugnisse des Evangelisten Johannes die tobende
Menge lieber erwarten als vor ihr fliehen wollte, ohne noch entdeckt zu
sein, wen sie suchten. Und als jene antworteten: "Jesus", fuhr er fort:
"Ich bin es" (Joh. 18,4) Und dieses Wort traf die aus den rohesten
Gesellen zusammengewürfelte Rotte wie ein vernichtender Blitzstrahl, so
daß der ganze unbändige, wilde und Furcht einflößende Haufe zurückwich
und zu Boden stürzte. Was half da alle Verschwörung seiner grausamen
Feinde, was all die Wut seiner erbitterten Gegner, was das Aufgebot
bewaffneter Knechte? Der Herr spricht: "Ich bin es" (Joh. 18,4), und
die ganze Horde der Gottlosen stürzt auf dieses Wort hin zu Boden. Wie
gewaltig muß da erst seine Macht sein, wenn er in Glanz und
Herrlichkeit kommen wird, um zu richten, da er schon als armseliger
Mensch, der gerichtet werden sollte, so Großes vermocht
hat!
4. Da jedoch der Herr wußte, was für die Durchführung des übernommenen
Erlösungsgeheimnisses geeigneter war, so beharrte er nicht darauf,
seine Macht noch weiter fühlen zu lassen. Er gestattete vielmehr seinen
Feinden, ihre frevelhafte Absicht zu verwirklichen; denn nie und nimmer
würden sie es vermocht haben, ihn festhalten zu lassen. Allein wer
könnte gerettet werden, wenn Christus seine Gefangennahme verhindert
hätte? Denn auch der heilige Petrus, der dem Herrn mit allzu
leidenschaftlicher Ergebenheit anhing und aus glühender und heiliger
Liebe zu seinem Meister gegen die gewaltsam vorgehenden Verfolger
erbittert war, erhob sein Schwert gegen einen Knecht des Hohenpriesters
und hieb ihm das Ohr ab, als dieser zu ungestüm vordrang. Allein Jesus
duldet es nicht länger, daß der eifernde Apostel in seiner frommen
Erregung noch weiter geht. Er befiehlt ihm, das Schwert in die Scheide
zu stecken, und läßt es nicht zu, daß man ihn mit bewaffneter Hand
gegen die Gottlosen verteidigt. Stünde es doch im Widerspruche mit dem
geheimen Plane unserer Erlösung, wenn sich der nicht ergreifen lassen
wollte, der gekommen war, um für alle zu sterben. Auch sollte der
Triumph des siegreichen Kreuzes nicht hinausgeschoben werden, weil
sonst die Herrschaft des Satans noch länger angehalten und die
Knechtschaft der Menschen noch länger gedauert hätte. So erlaubt also
der Herr seinen Feinden, ihre Wut an ihm zu kühlen. Aber dennoch
verschmäht er es nicht, auch solchen Menschen seine göttliche Natur zu
offenbaren. Fügt ja die Hand Christi dem entstellten Haupte das Ohr
wieder an, das infolge der Lostrennung bereits abgestorben war und sich
mit dem lebenden Körper nicht mehr hätte verbinden lassen. So gibt er
dem die richtige Gestalt zurück, was er selbst einst gestaltet hatte.
Und augenblicklich gehorcht das Fleisch dem Befehle seines Schöpfers.
5. Diese beiden Taten sind also ein Ausfluß göttlicher Kraft. Wenn aber
der Herr seine Macht und Majestät zurückhält und seinen Verfolgern
Gewalt über sich gibt, so geschieht dies nach jenem Willen, durch den
er uns geliebt und sich selbst für uns dahingegeben hat. An der
Ausführung dieses Willens ist aber auch der Vater beteiligt, "der
seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle geopfert
hat". Verfolgen doch Vater und Sohn, entsprechend ihrer gleichen
göttlichen Natur, auch die gleichen Ziele. Daß diese aber verwirklicht
wurden, dafür schulden wir euch, o Juden, und dir, o Judas, nicht den
geringsten Dank, wenngleich euere Gottlosigkeit - freilich ohne daß ihr
es wolltet - unserer Erlösung diente und durch euch vollendet wurde,
"was Gottes Hand und Ratschluß festgesetzt hatten". Darum bringt uns
der Tod Christi Befreiung, während er gegen euch als Kläger auftritt.
Und mit Recht habt ihr allein an dem keinen Anteil, was ihr allen
rauben wolltet. Dennoch ist unser Heiland so gütig, daß auch ihr
Verzeihung finden könnt, wenn ihr nur an Christus als an den Sohn
Gottes glaubt und euch dadurch von der Bosheit derer lossagt, die ihren
Vater mordeten. Nicht umsonst betete der Herr am Kreuze: "Vater, vergib
ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun". Selbst dir, o Judas, wäre
diese Gnade nicht vorenthalten worden, hättest du zu jener Buße deine
Zuflucht genommen, die dir den Weg zu Christus zeigte, statt zu der,
die dich dazu aufstachelte, zum Strick zu greifen. In deinen Worten:
"Ich habe gesündigt, weil ich unschuldiges Blut verriet," zeigte sich,
daß du noch immer in deinem schändlichen Unglauben verharrtest. So
hieltest du selbst noch in deinen letzten Todesnöten Jesu nur für einen
Menschen, wie wir sind, nicht aber für Gott und Gottes Sohn. Und doch
hättest du dir seine Erbarmung erflehen können, wärest du nicht zum
Leugner seiner Allmacht geworden.
Mit diesen Worten, denen ihr, Geliebteste, voll Andacht gelauscht habt,
soll es für heute genug sein, damit euch nicht bei längeren
Ausführungen Ermüdung beschleicht. Was aber an Vollständigkeit fehlt,
das versprechen wir, euch am Mittwoch mit Hilfe des Herrn vorzutragen.
Denn er, der uns diese Predigt eingab, wird uns sicherlich auch ihre
Fortsetzung finden lassen. Durch unseren Herrn Jesus Christus, dem Ehre
und Herrlichkeit eigen ist in Ewigkeit. Amen.
(Fortsetzung und Schluß der vorausgehenden Rede)
1. Um unser Wort einzulösen, wollen wir euch mit dem Beistande des
Herrn die versprochene Fortsetzung unserer Predigt über sein Leiden und
Sterben geben. Sicherlich werdet ihr mich dabei durch euere Gebete
unterstützen; denn euch allen frommt es, wenn ihr an mir einen
treubesorgten Hirten habt .Stellen wir doch die ganze uns verliehene
Kraft in den Dienst eurer Erbauung. - Der Erlöser der Welt war also
durch den verruchten und verabscheuungswürdigen Handel des Judas seinen
Verfolgern, den Juden, ausgeliefert worden. Unter gotteslästerlichen
Hohnreden hatte man ihn, die verkörperte Sanftmut, zur Richtstätte
geführt. Und dann kreuzigte man mit ihm zwei Räuber, indem auf beiden
Seiten Schandpfähle errichtet wurden. Von diesen Räubern wird plötzlich
der eine zum Bekenner Christi, obwohl er bis zu diesem Augenblick
seinem Genossen in allem glich, und er ein Wegelagerer und
gewohnheitsmäßiger Mörder war und die Strafe des Kreuzes wohl
verdiente. Mitten unter den furchtbarsten körperlichen und seelischen
Qualen, die durch des Todes Pein und Nähe noch gesteigert wurden, rief
er, durch ein Wunder bekehrt und umgewandelt: "Herr, gedenke meiner,
wenn du in dein Reich kommst." Auf wessen Mahnungen ist ein solcher
Glaube zurückzuführen? Wer hat ihn gelehrt, welcher Prediger ihn
entzündet? Jener Räuber hatte nicht die früher gewirkten Wunder
gesehen, auch wurden jetzt keine Kranken mehr geheilt, keine Blinden
mehr sehend gemacht und keine Toten mehr zum Leben auferweckt. Auch
gehörte noch der Zukunft an, was bald geschehen sollte. Und doch
bekennt er den als Herrn und König, den er die gleiche Strafe erleiden
sieht. Diese Gnade ging eben von dem aus, der auf jenen Glauben auch
die Antwort gab; denn Jesus sprach zu ihm: "Wahrlich, ich sage dir,
heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein". Eine solche Verheißung
übersteigt das Vermögen eines bloßen Menschen. Aus ihr spricht nicht so
sehr der Gekreuzigte als vielmehr jener, der in Macht und Herrlichkeit
thront. Von jenem hohen Throne aus, auf dem der Schuldbrief des
Menschen getilgt wird, erhält auch der Glaube (des Schächers) seinen
Lohn. Ist ja die göttliche Natur des Herrn nicht von der knechtischen
geschieden, indem selbst inmitten der Todesqualen sowohl die
"unverletzbare Gottheit" als auch der "leidensfähige Mensch" Eigenart
und Einheit wahrten.
2. Um unser Hoffen (auf Erlösung) zu betsätigen, kam noch das Zeugnis
der ganzen Schöpfung hinzu. Als nämlich Christus seinen Geist aufgab,
erbebten alle Elemente Und da die Sonne ihren Glanz verdunkelte, so
hüllte sich zu ungewöhnlicher Stunde der Tag in Finsternis. Die durch
gewaltige Erschütterungen wankend gewordene Erde verlor ihre
Festigkeit, und das harte Felsgestein barst und spaltete sich. Im
Tempel zerriß der Vorhang, der nicht länger mehr die Geheimnisse des
Alten Bundes verbergen sollte. Die Gräber öffneten sich, und viele
Heilige, die gestorben waren, kehrten zum Leben zurück, um dadurch im
voraus den Glauben an die Auferstehung zu festigen. Himmel und Erde
gaben also gegen euch, ihr Juden, ihr Verdammungsurteil ab. Die Sonne
versagte euch ihren Dienst und entzog euch ihr Licht. Alle Elemente
sagten sich von euch los. Indem also die (sonst so) willfährige
Schöpfung von ihren Gesetzen abwich, gab sie euch eure Verirrung und
Verblendung deutlich zu erkennen. Und da ihr schriet: "Sein Blut komme
über uns und unsere Kinder", so ist euch mit Recht dadurch vergolten
worden, daß die Gesamtheit der gläubigen Heiden erhielt, was der
gottlose Teil eueres Volkes verscherzt hat.
3. Gerade wir, für die, Geliebteste, unser gekreuzigter Herr
Jesus weder ein "Ärgernis" noch eine "Torheit", sondern "Gottes Kraft"
und "Gottes Weisheit" ist, gerade wir, so sage ich, die wir als
"geistiger Samen Abrahams" nicht Kinder eines in Knechtschaft
schmachtenden Geschlechtes, sondern Kinder eines wiedergeborenen, zur
Freiheit geführten Volkes sind, die "eine starke Hand und ein
ausgestreckter Arm" aus dem Lande der ägyptischen Gewaltherrschaft
geleitete, und für die sich Christus, das wahre und unbefleckte
Lamm, zum Opfer brachte, gerade wir sollen also das wunderbare
Geheimnis des uns die Erlösung bringenden Osterfestes freudig begrüßen
und uns erneuern, indem wir den zum Vorbild nehmen, der unsere
gebrechliche Natur zur seinigen machte! Erheben wir uns zu dem, der
seine Herrlichkeit in unserem armseligen aus Staub gebildeten Menschen
verkörperte. Und damit wir würdig werden an seiner Auferstehung
teilzunehmen, so wollen wir gleich ihm in allem Geduld und Demut üben.
Haben wir doch zur Fahne eines gewaltigen Kriegsherrn geschworen und
die Verpflichtungen eines schweren Dienstes auf uns genommen. Wer
Christus nachfolgen will, der darf nicht vom Wege seines Königs
abweichen. Und wer nach der Ewigkeit trachtet, für den geziemt es sich
nicht, am Irdischen zu hängen. Und weil das kostbare Blut Christi unser
Kaufpreis ist, so laßt uns Gott verherrlichen und ihn in unserem Leibe
tragen, damit wir es verdienen, zu dem einzugehen, was der Gläubigen
harrt! Durch unseren Herrn Jesus Christus, dem Ehre und Herrlichkeit
eigen ist, in Ewigkeit. Amen.
Anmerkung:
1) Die (neunzehn) Passionspredigten wurden insgesamt am
Palmsonntag, am Karmittwoch oder am Karfreitag gehalten, wahrscheinlich
in den Jahren 441-449. |