DER SYMBOLISMUS DER GESCHICHTE
von
Leon Bloy
Jetzt wandte sich Marchenoir wieder entschieden der Geschichte zu. Ihr
galt das eifrigste Streben und die glühendste Liebe seines Denkens...
So hatte er seinem Freund anvertraut, er träume davon, der Champollion
der Geschichte zu werden, deren Ereignisse als göttliche Hieroglyphen
einer Offenbarung durch Symbole betrachtet werden müßten, welche die
andere Offenbarung bekräftigt...
Die erste Idee dazu war ihm bei jenen exegetischen Studien gekommen,
die in ihrer bisher vielleicht beispiellosen Absonderlichkeit gleich
nach seiner Bekehrung der Ausgangspunkt seines Denkens geworden waren.
Dieser absolute Geist hatte, auf die souveräne Behauptung des heiligen
Paulus gestützt: daß wir alles "in Rätseln" schauen, vom Symbolismus
der Schrift zwingend auf einen die ganze Welt umfassenden Symbolismus
geschlossen, und er war zu der Überzeugung gekommen, daß alle
menschlichen Taten, welcher Art sie auch immer sein mochten, mitwirken
bei der nie endenden Zusammenstellung der Worte für ein ungeahntes und
voller Geheimnisse steckendes Buch, welches man die Paralipomena zum
Evangelium nennen könnte. Von diesem Gesichtspunkt aus - der sehr
verschieden war von dem eines Bossuet zum Beispiel, welcher unter
Mißachtung des heiligen Paulus meinte, alles sei aufgeklärt - erschien
ihm die Weltgeschichte wie ein Text, in dem die Einzelheiten streng
miteinander verbunden waren, gleichsam zu einem einheitlichen Gefüge
von Wirbeln und Knochen, und in dem jede aus der anderen mit logischer
Notwendigkeit folgte, ein Text aber, der vollkommen verhüllt ist, und
den man in eine einigermaßen zugängliche Grammatik erst übertragen
müßte.
Er hatte die Hoffnung, das zu verwirklichen, und lebte nur noch für
diesen Plan, der das Nervenzentrum seiner Gedankenwelt geworden war. Es
lag ihm wenig daran, ob man ihn für überspannt oder lächerlich hielt.
Er hatte sich seit langem damit abgefunden, niemals Anklang zu finden,
und kümmerte sich sogar kaum um die Anfeindungen, deren unmittelbare
Äußerungen schließlich einem Manne nicht so ohne weiteres beikommen
können, den seine Feder, seine Sprache und seine Muskeln gleicherweise
gefürchtet machen.
Ach, gewiß griffen die recht zahlreichen Feinde, die er sich schon in
der Presse gemacht hatte, zu dem üblichen Mittel, ihm großzügig alle
Türen zu verschließen und in folgedessen einen armen Schriftsteller,
den sein Talent hätte ernähren müssen, jeder Verdienstmöglichkeit zu
berauben. Hier lag die unmittelbare und keineswegs zu unter schätzende
Gefahr. Aber was sollte er tun? Er fühlte sich auf seinem Schmerzensweg
an den Haaren vorwärtsgerissen und mußte, ob er wollte oder nicht,
seinem Schicksal folgen. Eine große Aussage hinstellen, wenn es möglich
wäre, und dann von der Welt ins Gesicht geschlagen und angespien
sterben! - Um Gottes willen! sagte er oft. Das ist eine Redensart
vieler Verwegener, aber in seinem Munde hatte sie eine sehr hohe und
gleichsam heilige Bedeutung...
Denn so lautete das Vorladungsschreiben dieses Magiers der Exegese, der
alles gleichzeitig vor den Gerichtshof seines Geistes fordern wollte:
jedes irdische Ding ist für den Schmerz bestimmt. Und dieser Schmerz
war in seinen Augen der Anfang, wie er auch das Ende war. Er war nicht
nur das Ziel, der drohende letzte Vorsatz, nein, er war einfach das
innere logische Gesetz dieser geheimnisvollen heiligen Schriften, in
denen, wie er annahm, der Wille Gottes gelesen werden mußte. Den
schrecklichen Richterspruch der Genesis bei der Vertreibung aus dem
Paradies wandte er in seiner ganzen Strenge an: noch der geringfügigste
Umschwung in dem alles Leben auf der Erde umfassenden Roman mußte in
Schmerzen geboren werden.
Ja, auf diesem verfluchten Planeten, der dazu verdammt ist, nur Dornen
hervorzubringen, erfüllte sich also in sechstausend Bibeljahren an dem
gefallenen Menschengeschlecht der entsetzliche Hohn auf allen
sogenannten Fortschritt in den stäudig aufs neue wiederkehrenden
Vorbildungen jener Katastrophe, welche am Ende der Zeiten alles
erklären und alles vollenden sieht.
Die Engel müssen Furcht und Mitleid gehabt haben bei diesem Schauspiel;
wie sehr mußte man in Angst sein, daß der Vorhang einer göttlichen
Scham niemals fallen würde! Die Geschlechter der Menschen, immer auf
dem Gastmahl der Starken verschlungen, auf allen Erdteilen, auf welche
die Kinder Nimrods ihr Tischtuch ausgebreitet hatten; und daneben der
Arme, dessen erstaunliches Schicksal es ist, Gott selbst darzustellen,
der Arme, immer besiegt, verhöhnt, geohrfeigt, geschändet, verdammt, in
Stücke geschnitten, aber doch nicht sterbend - wie Abfall unter dem
Tisch mit dem Fuß gestoßen von Asien bis Afrika und von Europa in die
ganze Welt -, ohne daß ihm eine einzige Stunde gegönnt wäre, den Durst
an seinen eigenen Tränen zu stillen und den Schorf seines Blutes
abzukratzen! Und das während der ganzen Dauer der antiken Gesellschaft,
dargestellt in gewaltiger Abkürzung auf dem wüsten Gelage des Königs
Belsazar.
Und dann die Ankunft des vollkommenen Armen, an dem sich die
auserlesensten Greuel des Elends zusammen gefaßt wiederholten und der
selbst der Belsazar eines Festes der Qualen war, zu dem alle Mächte des
Leidens eingeladen waren. Erlösung, die erzittern läßt, sie erhob die
Schaffensmächtigkeit des Menschen auf eine andere Ebene, erneuerte
aber, dem, was verkündigt worden war, zum Hohn, nicht sein Herz.
Es wurde einfach ein zweites Aktenstück eröffnet, und die große Freude
der Böcke und der Geier begann von neuem. In den unermeßlichen vom
Christentum noch unberührten Landstrichen änderte sich die Sudelküche
der Völkerhirten nicht, aber in der Christenheit wurde der Arme
manchmal liebevoll eingeladen, sich von den Exkrementen der Macht zu
nähren, deren Nahrung er selber war. Die Last der Schwachen, von nun an
noch durch den Trost einer falschen Geistigkeit beschwert, ließ die
Knochen von neun Zehntel der Menschheit krachen.
Als ob das Erscheinen des Kreuzes die Völker bestürzt hätte, verwirrte
sich die Welt in einem wun-derlichen Durcheinander. Auf das römische
Kaiserreich, das verzerrt von Bauchgrimmen war, mit Gicht in den Füßen,
altersschwachen Herzens und kahl geworden wie sein erster Cäsar,
brachen Millionen Untiere mit Menschenschnauzen los. Die Goten, die
Vandalen, die Hunnen und die Franken bauten sich auf, grinsten über
ihre Schilde hinweg und stürzten dann wie eine Lawine gegen alle Tore
Roms, das unter dem Anprall zerbarst. Die von wilden Völkerstämmen
angeschwollene Donau ergoß sich in Wasserfluten über die schlammigen
Niederungen des Rheines. Im Morgenland hingegen hockte der
Kameltreiberprophet auf dem Mist seiner Herde und brütete schon in
seinem verlausten Schoß die hungrigen Heuschrecken aus, mit denen er
zwei Drittel der bekannten Welt überfallen würde. Achthundert Jahre
lang, vom äußersten Ende Persiens bis zum Atlantischen Ozean, schlug
man sich, schlitzte sich den Bauch auf, fraß die Eingeweide.
Schließlich errichtete man über dem blutigen Sumpf das Gerüst des
Feudalsystems.
Man glaubte, es sei die Stütze eines gleichsam himmlischen Jerusalems,
was man da aufrichten wollte, aber es stellte sich heraus, daß dies
noch ein Schafott war. Selbst das Rittertum, die edelste Einrichtung,
welche die Menschen erfunden haben, war oft nicht barmherzig genug
gegen die leidenden Glieder des Herrn, die zu beschützen seine Aufgabe
war. Selbst die Kreuzzüge, ohne welche die Vergangenheit Europas noch
nicht einmal ein Kehrichthaufen wäre, blieben nicht ohne die
schrecklichen Eiterspuren des einzigen Lebewesens, das für seine
Handlungen verantwortlich ist. Und dennoch war es eine Jugend mit
brennendem Herzen, es war die Zeit der Liebe und der Begeisterung für
das Christentum! Heilige gab es damals wie heute, ein halbes Dutzend
auf hundert Millionen mittelmäßiger und verworfener Seelen - beinah -,
und das widerwärtige Gesindel, das sie nach ihrem Tode verehrte, hatte
des öfteren nicht genug Schleim und Speichel, um sie nach Herzenslust
anspucken zu können, wenn es die Ehre hatte, sie lebendig unter seinen
schmutzigen Füßen zu haben.
Eigentlich schien es sich Marchenoir nur um zweier Dinge willen zu
lohnen, den Ekel, der bei dieser scheußlichen Betrachtung aufstieg, zu
bezwingen: das war der unzerstörbare Vorrang des Papsttums und die
unveräußerliche überlegene Stellung Frankreichs als der ältesten
Tochter der Kirche. Nichts konnte gegen diese beiden Privilegien
obsiegen. Nicht die Feindseligkeiten der Zeiten, nicht die
Geschäftemacherei der Judasse, nicht die alles übertreffende
Unwürdigkeit einiger Amtsträger, nicht Revolutionen, nicht Niederlagen,
nicht Verleugnungen, nicht die unbewußten Entweihungen durch
gotteslästerliche Dummheit!... Als der Vorrang des Papsttums oder die
Überlegenheit Frankreichs zu erlöschen drohten, schien die Welt dem
Bann verfallen. Die päpstliche Bulle Unoam Sanctam des Bonifatius
VIII., die berühmte Zwei-Schwerter-Bulle, fand zwar keine Gläubigen
mehr, und Frankreich war von Troßknechten regiert... Aber was tut's!
Ein paar Menschen noch wußten darum, daß zu ihren Gunsten eine
Verordnung existiert gegen alle Klagen des Nichts auf Rückerstattung,
und Marchenoir fühlte sich eins mit der kleinen Schar dieser
Unglücklichen, die auf einer schmelzenden Eisscholle, in mitten eines
Ozeans der Lauheit, einem Tropenland der Schwachsinnigkeit zutrieben!
Aber vor dem Untergang wollte dieser Chiliast die modernen Zeiten, die
ungemäßesten und dümmsten, die jemals waren, vor einen Richter
zitieren; er ahnte sein nahe bevorstehendes Kommen, obwohl dieser
Richter seit Jahrhunderten tief zu schlafen schien, und hoffte, ihn
durch viele verzweifelte Schreie ein für allemal aus seinem Himmel
herabzuholen! Diese Schreie hatte er von überallher zusammen gelesen,
aufgehäuft, gemischt und miteinander verschmolzen. Als gelehriger
Schüler seiner eigenen Qualen hatte er in einer Algebra, welche die
klugen Leute verblüffte, alle Schmerzen der Welt in einer Gleichung
zusammengebracht. Aus diesem tiefen Wald trat aufbrüllend eine
unbekannte Symbolik hervor, die er die Symbolik der Tränen hätte nennen
können, und die seine Sprache werden sollte, um zu Gott zu sprechen. Es
war, als sei das unaufhörliche Grollen aller klagenden Stimmen der
Zertretenen aller Zeitalter auf eine wunderbar abgekürzte Formel
gebracht, die - aus der Notwendigkeit irgend eines göttlichen
Lösegeldes - die endlosen Vertagungen der Gerechtigkeit und die
scheinbare Unwirksamkeit der Erlösung erklärte.
Das wollte er zunächst seinen unaufmerksamen Zeitgenossen vor die Augen
halten; dann es aber dem klaren Blick Gottes, dessen Kommen er
herbeirief, unterbreiten als ein erdrückendes Zeugnis für den
verschlammten Glaubensabfall einer Generation, die möglicherweise die
letzte sein wird vor der Sintflut - wenn nämlich die ungeheure
Gleichgültigkeit dieser Generation Gott gegenüber die Schmähungen der
Vorfahren mitbüßen muß, ihre Gotteslästerungen, die im Grunde weniger
verabscheuenswert waren als die moderne Gleichgültigkeit, obwohl die
Geschichtsschreibung feige und unsicher die Vergangenheit anschuldigt!
(aus "Le Désespéré" - "Der Verzweifelte", zitiert nach: "Leon Bloy -
Der beständig Zeuge Gottes" hrsg. von Raissa Maritain, Salzburg 1955,
S. 352 ff.)
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