Über das Papsttum der römischen Bischöfe,
die Eigenart des Apostolischen Stuhles
und eine Kirche ohne Papst
von
Prof. Diether Wendland
"Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese?" (Joh 21, 15)
Einleitung: Enthüllung einer religiösen Katastrophe
Vor einiger Zeit hatten katholische Christen, die sich als
"Sedisvakantisten" 1) bezeichnen, mit nicht geringen Schwierigkeiten
eine Umfrage unter erwachsenen Katholiken veranstaltet und dabei nur
eine einzige Frage gestellt. Diese aber sollte ohne lange Überlegungen
so kurz wie möglich beantwortet werden, um auf diese Weise von
vornherein einem ausufernden Gerede aus dem Wege zu gehen, wie dies in
religiösen Diskussionen so oft der Fall ist. Die zu beantwortende Frage
lautete: "War der Apostel Simon-Petrus, der Sohn (Bar) eines ziemlich
unbekannten Johannes (Jona) aus Bethsaida-Julias im Norden Galiläas am
See Genesareth, Papst - oder war er es nicht?" Mit Absicht wurde auch
nicht gefragt, ob der "hl. Petrus" "Papst" oder sogar "römischer Papst"
gewesen ist, weil eine solche Frage sofort zu falschen Assoziationen
geführt haben würde, die auch die Fragerichtung verdunkelt hätten.
Öfters mußte die nämliche Frage sogar wiederholt und auch ein wenig
erläutert werden,weil sie zunächst nicht verstanden wurde.
Es gab bei der obigen Frage bei denen, die ihr nicht gleich auswichen,
weil sie ihnen höchst unangenehm war, nicht wenige und
grundverschiedene Antworten, die sich jedoch im Wesentlichen auf fünf
zuruckführen ließen:
l. ja, sicherlich; darüber kann es doch gar keinen Zweifel geben;
2. nein, gewiß nicht; hier ist jeglicher Zweifel angebracht;
3. möglicherweise, das könnte durchaus sein, doch sicher bin ich mir hier wirklich nicht;
4. vielleicht, aber vielleicht auch nicht; indes interessiert mich
diese Sache im Grunde überhaupt nicht, weil sie für mein Seelenheil
keinerlei Bedeutung hat;
5. anstatt einer Antwort: sind Sie (der Fragende) eigentlich noch
katholisch, wenn Sie mit einer solchen Frage (Fangfrage!) daherkommen?
Ein "wahrer Gläubiger" und Katholik glaubt daran, daß Simon-Petrus
Papst war. Dies allein ist entscheidend!
Mit diesen fünf Antworten auf eine simple Frage aber bewahrheitete sich
genau das, was von Sedisvakantisten immer schon vermutet wurde, nämlich
eine große Geistesverwirrung und eine tiefe Unwissenheit hinsichtlich
des Papsttums selbst, das vielen Katholiken nicht bloß zum Problem
gewor-den ist. Denn hier kam im kirchlich-katholischen Bereich eine
religiöse Katastrophe und ein religiöses Meinungschaos zum Vorschein,
einschließlich der üblen Tatsache, daß unter 'religionsmündigen
Katholiken' auch die Einheit im Wissen um das Papsttum und die
Erkenntnis seiner Notwendigkeit nicht mehr vorhanden war. Warum fragt
sich denn kaum jemand nach den Ursachen eines solchen Übels? Jedes Übel
vergiftet ein Gutes, wenn es nicht beseitigt wird, und vermehrt so sich
selbst. Kann man so etwas vergessen und nicht mehr beachten?
Wenn Nicht-katholiken vom Wesen des Papsttums und dessen Notwendigkeit
zum Wohle der Kirche nichts mehr wissen oder auch nichts darüber wissen
wollen, wie dies bei Häretikern der Fall ist, dann ist das nicht weiter
verwunderlich und könnte sogar bedauert werden. Bei Katholiken hingegen
verhält es sich diesbezüglich ganz anders und wäre nicht bloß
bedauerlich, sondern ein großes Ärgernis, ja ein Skandalon, das
zwangsläufig auf eine Häresie hinausläuft und schließlich in einer
Apostasie von der Kirche Jesu Christi endet. Dies zeigt sich auch bei
einigen 'neu-katholischen' Sekten, die sich im Bereich der "römischen
Konzilskirche" schon bald nach dem Vatikanum 2 (1962-65) gebildet haben
und dort recht gut gedeihen. Papsttum und Sektenwesen aber schließen
einander aus, gleichgültig, ob eine 'christliche Sekte' groß oder klein
ist; sie muß nur auf irgendeine Weise gesellschaftlich organisiert sein
und 'eingetragene Mitglieder' haben. Wer kennt nicht gewisse
"Glaubensgemeinschaften e.V." oder ähnliche 'religiöse Gebilde'? Und
auch dort hält man nach wie vor sogar einen Nicht-Papst für einen Papst
der Ecclesia Romana, so daß sich bei vielen ihre Verwirrung noch
steigert. Es ist verständlich, wenn die obige Frage von diesen
'Gläubigen' nicht einmal verstanden wurde.
Es ist heutzutage fürwahr gar nicht so einfach, sich zureichende
Klarheit über das Wesen des Papst-tums zu verschaffen, da es sich vor
allem um ein Macht- und Herrschafts-Phänomen besonderer Art handelt,
das außerhalb der Kirche 'in dieser Welt' überhaupt nicht existiert,
aber auch nicht existieren kann. Denn es setzt das Dasein der Kirche
als einer streitenden (die 'Ecclesia militans') voraus, was sehr oft
übersehen wird. Deshalb ist es ja auch so leicht mißzuverstehen und
bleibt nicht selten sogar völlig unverstanden. Wenn jedoch das Papsttum
nicht mehr mit Macht (potestas) und Herrschaft (regimen) in Verbindung
gebracht und so in seiner Bedeutung entleert wird, dann verschwindet
auch das Wissen um die in ihm liegende Autorität (auctoritas,
Machtvollkommenheit), die als solche immer eine soziale ist. Es gibt
kein echtes Gesellschafsgebilde ohne Autorität in und über ihm,
angefangen mit der Familie, die ihrem Wesen nach eine Urgesellschaft
ist, ja die Urgesellschaft schlechthin. Ohne Macht, Herrschaft und
Autorität (alles geistige Dinge!) ist das Papsttum gar nicht denkbar.
Verdunkelt aber wird dies alles nicht erst seit heute auch durch die
Demokratismus-Ideologie (einer Vergottung der Demokratie) in Staat und
Gesellschaft, von der sogar 'gläubige Katholiken' infiziert sind, ohne
sich dessen deutlich bewußt zu sein. Nur manchmal beschleicht sie ein
ungutes Gefühl, wenn sie sehen müssen und es auch nicht mehr übersehen
können, welche fürchterlichen Dinge sich in "Kirche und Welt" oder in
"Kirche, Staat und Gesellschaft" abspielen und das Stigma des sittlich
Schlechten, also des Bösen und des Unrechts an sich tragen, dennoch
aber für gut und des Menschen würdig (menschenwürdig) gehalten und
ausgegeben werden, ohne daß eine Autorität dagegen einschreitet.
Der ideologische Demokrat ist immer (trotz aller Verschleierungen)
anti-human und verwechselt ständig Willkur mit Freiheit und
Meinungskundgaben mit Wahrheit. Fur solche Leute ist das Papsttum von
vornherein und grundsätzlich ein menschenunwürdiges Übel.
Anderseits geht in 'gebildeten Kreisen' schon seit einiger Zeit die
Rede von einem Papsttum, "das sich wandelt" und zu einem "ganz neuen"
werden wird, das sich bereits abzeichnen würde. Das ist höchst
merkwurdig und läßt neue Übel ahnen. Denn es ist doch noch gar nicht so
lange her, da wollten Freimaurer und andere 'liebe Mitbürger' das
Papsttum sogar abschaffen, um die 'Menschheit' von dieser Geißel zu
befreien. Jetzt aber reden diese Leute sogar von einem "erfreulichen
Wandel" in der "katholischen Auffassung" vom sog. "Petrusamt", den da
irgendein 'Geist' ins Leben gerufen habe, der wohl mit dem alten und
altbekannten "Geist des Konzils" identisch ist. Selbst 'gläubige
Protestanten' und andere Leute "voll des ökumenischen Geistes" waren
bereits mit von der Partie, nachdem sie ihren "antirömischen Affekt"
abgelegt und sich 'bekehrt' hatten. Ein "neues Papsttum", von dem
Christus der Herr noch gar nichts gewußt hat, soll die sich in einer
schwierigen Lage befindlichen Kirche stärken und ihr in einer "globalen
Weltentwicklung" voranleuchten. Denn der "moderne Mensch" schaut nicht
zurück in die Vergangenheit, sondern nach vorn in die Zukunft, indem er
frei und selbstbewußt die Gegenwart "transzendiert", und zwar im freien
Vollzug autonomer "Selbsttranszendenz" - vielleicht sogar "jenseits von
Gut und Böse" wovon schon Nietzsche träumte. Dann aber wird das
Papsttum überflüssig, weil gegenstandslos, und so auch der Träger
desselben, nämlich der Bischof zu Rom.
Der Papst ist, sachlich genauer betrachtet, weder Bischof von Rom noch
in Rom, sondern immer nur zu Rom, weil er nicht an die Stadt Rom und
ihr politisches Einflußgebiet (in alter Zeit als "römischer Dukat"
bezeichnet) innerlich gebunden ist, wohl aber aufgrund historischer
Ursachen an die "Romische Kirche" (Ecclesia Romana) weil diese in
erster Linie eine apostolische ist, ja sogar eine gleichsam
"doppelt-apostolische", da sie ihre Gründung zwei Aposteln verdankt,
einem Simon-Petrus und einem Saulus/Paulus, die beide in Rom als
Märtyrer (Blutzeugen Christi) starben. Ihr Überleben aber verdankte und
verdankt die Römische Kirche allein Jesus Christus und Seinen
Verheißungen.
Über das Besondere der Römischen Kirche bestand schon in der
nachapostolischen nicht der geringste Zweifel, so daß sich auch von
Anfang an ihr rechtlicher Vorrang vor allen anderen apostolischen
Teilkirchen abzeichnete, die man auch als "Apostelkirchen" bezeichnen
kann. Und aus ihrer Gründung stammt ebenfalls das eigentümliche Wort
von der römischen "Ecclesia principalis", die der Bischof Cyprian von
Karthago (gest. 258) irrigerweise mit dem und nur mit dem "Lehrstuhl
Petri" (Cathedra S. Petri) identifizierte, so daß er die
Primatialgewalt und den Jurisdiktionsprimat Petri entweder übersah oder
gar nicht erfaßte. Indes war damals verständlicherweise die Vollgestalt
des Papsttums auch noch nicht generell in Erscheinung getreten, obwohl
sie sich bereits in Papst Stephan I. (254-257), einem Römer aus der
"gens Julia", ankündigte und dies sogar trotz der fürchterlichen
Christenverfolgungen unter den römischen Kaisern Decius, Gallus und
Valerianus (249-260), in denen auch Päpste den Märtyrertod starben. Es
ist profanhistorisch unbegreiflich, daß und warum die Ecclesia Romana
nicht bald nach dem Tode ihrer Gründer untergegangen ist, da sie als
Religionsgemeinschaft eine "religio illicita" (unerlaubte Religion)
ausübte, die von seiten des Staates durch Gesetz mit dem Tode bedroht
war (im Unterschied zur jüdischen Synagoge).
Die Unwissenheit über das Papsttum in seinem Wesen und in seiner
Besonderheit wird auch dadurch mitverursacht, daß es keine natürliche
Ursache hat, weder in einem Volke noch in einer vorstaatlichen
Gesellschaft, und daß es die Kirche Jesu Christi als eine bereits
existierende voraussetzt (nicht etwa umgekehrt) und nur ein
Wesenselement derselben ist. Damit aber entsteht die Frage nach seiner
Verwirklichung, die nicht ohne weiteres gegeben ist. Selbst die Apostel
blieben darüber noch lange Zeit im unklaren, was mit ihrer falschen
Messiasauffassung zusammenhing, die sie auch nur mit viel Mühe
überwinden konnten, ganz abgesehen vom Judas Iskariot, der schon bald
dem Unglauben verfiel und nicht bloß zu einem amoralischen Menschen
wurde.
Zudem ist das Papsttum in keinerlei Hinsicht eine
Selbstverständlichkeit und was wiederum seine deutliche Erfassung
erschwert, so daß sich im Hinblick auf seine Träger leicht Irrtümer
einschleichen können. Immer wenn man das Papsttum für etwas in der
Kirche Selbstverständliches hält, sei es aus Gewohnheit oder aus
Gedankenlosigkeit (wie auch in den obigen Antworten auf die
'Petrusfrage'), verdunkelt sich die Erkenntnis in dieser einzigartigen
Sache und macht einem Irrglauben, ja sogar einem Aberglauben
(superstitio) Platz; ein solcher zeigt sich auch in einem
"Personenkult" (Papolatrie), wie er sich um einen 'Heiligsten Vater'
(Sanctissimus Pater) in Rom rankt, selbst wenn dieser ein solches
Gehabe (spectaculum) ablehnt und weit von sich weist.
Das Papsttum ist auch nicht das Gesellschafts-Produkt einer fiktiven
(christlichen) "Urgemeinde", von der manche Kirchengeschichtler immer
noch träumen (weil sie von der Gründung der Kirche durch den göttlichen
Menschensohn keine Ahnung haben). Der hl. Paulus, der Völkerapostel und
der von Christus auch unmittelbar Berufene, begab sich nicht nach
Jerusalem, wo er bereits als Renegat (Glaubensabtrünniger) abgestempelt
worden war, um dort eine (judenchristliche) "Urgemeinde" oder eine
besonders fromme (christlich-jüdische) "Glaubensgemeinschaft"
oder irgend-welche Apostel zu besuchen, um mit ihnen 'Eucharistie zu
feiern'. Vielmehr berichtet er (cf. Gal 1,18), er sei nach Jerusalem
gegangen, "um Kephas zu sehen und 15 Tage bei ihm zu bleiben"; er
wollte Simon-Petrus persönlich kennenlernen, mit ihm über Jesu Christus
eingehend sprechen und sich mit ihm in Sachen "Mission" beraten,
eingedenk des Sendungsauftrages Christi, den man in seinem Umfang in
Jerusalem wohl noch nicht so recht begriffen hatte. An die römische
Reichshauptstadt, das 'heidnische Rom' mit seinen Göttern und
Göttinnen, dachte jedoch zu dieser Zeit noch niemand. Zudem war die
Situation der 'Judenchristen' in Jerusalem und Judäa, unter denen es
auch heftigen religiösen Streit gab, sogar in mehrfacher Hinsicht eine
ziemlich üble und was man doch nicht immer verschweigen sollte - im
Gegensatz zu der im "reichen und recht freizügigen" Antiochien in
Syrien, einer Handelsmethropole ersten Ranges, wo es sich 'gut leben
ließ'. Sogar 'orthodoxe Juden' waren schon damals Meister im
Geschäftemachen, was mit ihrer Diasporasituation zusammenhängt. Auf
Antiochien lag nicht bloß die Hand der Römer, sondern diese Großstadt
war auch römisch geprägt. Es gab im Hinblick auf den Aufbau einer
universalen Kirche, der von ihrer Gründung in Palastina mit ihrem
Todfeinde in Jerusalem unterschieden werden muß, drei Machtzentren im
römischen Reich, die einer Verwirklichung der Ekklesia Jesu Christi,
die weder eine Volks- noch eine Nationalkirche ist, ganz und gar nicht
günstig waren: Rom in Italien, Alexandria in Ägypten und Antiochia in
Syrien, das Tor nach dem Osten. Das arrogante Athen in Achaia
(Griechenland) war macht- und religions-politisch bedeutungslos
geworden. Wer aber zog denn die Apostel Petrus und Paulus auf so vielen
und gefährlichen Umwegen nach Rom? Es wird doch wohl niemand so naiv
sein, zu meinen, beide hätten sich abgesprochen, sich in Rom zu treffen
und auf dem Forum Romanum zu erscheinen, um eine 'neue Religion' mit
einem 'neuen Gott' zu verkünden! Oder doch? Ohne göttliche Vorsehung im
eigentlichen Sinne läßt sich der endgültige Status des (wie mit Recht
formuliert wurde) "römischen Petrus" mit seiner römischen
"Primatialkirche", die zur apostolischen Ecclesia Romana wurde, weder
verstehen noch erklären. Das Papsttum ist nun einmal als ein
Wesens-Element der Kirche Jesu Christi kein natürliches Phänomen,
sondern ein übernaturliches, da es göttlichen Ursprungs ist.
Eine andere Schwierigkeit in der geistigen Erfassung des Papsttums
entsteht dadurch, daß man es, ganz abgesehen von der Problematik der
sog. 'Papstliste', immer nur in der historisch-politischen Perspektive
der "römischen Päpste" betrachtet. Diese aber sind doch bloß
bestenfalls die Träger des Papsttums, die auch nur zufällig In Rom
ihren Sitz (Amtssitz) haben (warum wohl?). Es ist nämlich bekanntlich
auch der "romische Stuhl" nicht identisch mit dem "Apostolischen
Stuhl", da ersterer ein politischer Begriff ist, der zweite hingegen
ein theologischer, so daß diese 'Stühle' sich nicht bloß "logisch" (im
Denken), sondern auch "real" (in der Wirklichkeit) unterscheiden. Eine
Unterscheidung von Verschiedenem ist jedoch nicht dasselbe wie eine
radikale Trennung absolut verschiedener Dinge. Es ist notwendig, in der
Papsttumsfrage auch philosophisch (von der Ontologie her) zu denken,
was manchen Theologen und Kirchenhistorikern offensichtlich ziemlich
schwer fällt. Dies kann man freilich auch von manchen Kirchenrechtlern
sagen. Das Papsttum ist Wesens-Element der real existierenden Kirche,
und somit notwendig, aber es ist nicht "die ganze Kirche" in ihrer
Einheit und Heiligkeit.
Wenn ein Christ nichts mehr uber den Uesprung und das Wesen des
Papsttums weiß, dann fehlt ihm auch das Wissen um den Ursprung und das
Wesen der wahren Kirche, die eine Gründung Jesu Christi, des göttlichen
Menschensohnes, ist und deshalb mit der jüdischen Synagoge und dem
Tempeljudentum gar nichts mehr zu tun hatte (der Vorhang im Tempel
wurde bekanntlich zerrissen und was nicht durch Menschenhand geschah
und auch nicht geschehen konnte). 2) Sogar der Hohepriester in
Jerusalem hatte schon bald Jesus und seine Jünger und die wachsende
Menge seiner Anhänger nicht mehr für eine jüdische Sekte von "Eiferern"
gehalten, sondern für etwas ganz anderes, das er sich jedoch nicht
erklären konnte. Deshalb seine seltsame Bemerkung gegenüber den eilig
zusammengerufenen pharisäischen Mitgliedern des Hohen Rates (Kaiphas
selbst war Sadduzaer), als nach der Totenerweckung des Lazarus, der
nicht wenige Freunde hatte, an der geradezu unheimlichen
Wundertätigkeit Christi, deren Zweck niemals nur die Heilung geweseh
war, nicht mehr gerüttelt werden konnte (!): "Ihr wißt nichts und
bedenkt nicht, was euch frommt (gut täte oder zum Vorteil wäre)" (Joh
11,49 ff.), d.h. ihr seid euch überhaupt nicht im Klaren darüber, was
jetzt und unbedingt getan werden muß, damit euch nicht die Macht über
das jüdische Volk entgleitet oder genommen wird.
"Jesus aber wandelte nicht mehr öffentlich unter den Judäern 3),
sondern ging mit seinen Jüngern (Aposteln) weg in eine Gegend nahe der
Wüste - in eine Stadt namens Ephraim..." (V. 54). Auch der Apostel
Judas Iskariot, ein Judäer, befand sich noch unter "den Zwölf"; sein
bereits geschehener Glaubensabfall von Christus scheint kein anderer
Apostel bemerkt zu haben, obwohl ihnen doch nicht mehr unbekannt war,
daß er ein "Dieb und Veruntreuer" (Joh 12,6) gewesen ist. Indizien
dafür waren doch vorhanden. Warum duldete Christus, der jeden Menschen
bis in den Grund seiner Seele durchschaute, einen Judas Iskariot um
sich?
Außerdem sollte man folgendes nicht vergessen und vor allem bedenken:
Kaiphas tat "in Sachen Jesu" nichts, ohne sich vorher mit seinem
Schwiegervater und früheren Hohenpriester Annas, einem schlauen und
brutalen Zeitgenossen, zu beraten. Aber auch seine Furcht vor Jesus,
"dem möglichen Christus oder Messia", konnte nicht mehr verheimlicht
werden. Das ganze Synedrium war erschüt-tert, obwohl der bekannte
"Einzug in Jerusalem" mit den "Hosianna-Rufen" noch gar nicht
stattgefunden hatte, der jedoch den Aposteln ebenfalls einige Furcht
eingejagt haben dürfte, da sie diese heilsgeschichtliche Situation
nicht erfassen konnten, die auf etwas Endgültiges von Christus her
angelegt war. Allein der Apostel Johannes wies in seinem Evangelium auf
eine solche Erkenntnisschwierigkeit bei Juden hin. "Die Hohenpriester
aber gingen (sogar) mit dem Gedanken um, auch den Lazarus zu töten,
weil viele von den Juden (nur) seinetwegen (zum Osterfest) hingingen
und an Jesus glaubten" (Joh 12, 10.11), Die Pharisaer aber sprachen
zueinander mit kalter Wut: "Da seht ihr, daß ihr nichts ausrichtet.
Seht (schaut doch hin), die ganze Welt ist ihm nachgelaufen!" (ebd.
V.19), was natürlich wieder einmal maßlos übertrieben war.
Der feierliche Einzug Christi in Jerusalem (am Samstag Abend vor der
Karwoche, reitend auf dem Füllen einer Eselin und unter dem
Hosannarufen einer Volksmenge, woran sich auch die Apostel (ausgenommen
der Iskariote) beteiligten, ist nicht so bedeutsam wie das, was in den
nachfolgenden drei Tagen geschah, als Christus mit Autorität lehrend
und Heilungswunder vollbringend im Tempelbezirk und wie der Herr des
Tempels auftrat und sein letzter Kampf mit den Hierarchen, den
Pharisäern, Schriftgelehrten und Sadduzaern, seinen Höhepunkt
erreichte, indem Er ihnen und insbesondere den Synedristen das
prophetische Wort entgegenschleuderte: "Das Reich Gottes wird von euch
genommen und einem Volke gegeben werden, das seine (dieses Reiches)
Früchte bringt." (Mt 21,43) Denn daraufhin wollten "die Hohenpriester
und die Pharisaer 4) Christus "ergreifen", d.h. Ihn verhaften lassen -
verständlicherweise, denn diese Weissagung verkündete offentlich das
absolute Ende und Nicht-mehr-Aufleben der Alten Theokratie sowie den
endgültigen Verlust der Auserwähltheit des "Auserwählten Volkes"! Nur
die Furcht vor dem erregten und enthusiastischen Volke hielt sie davor
zurück, weil dieses Volk Ihn "fur einen (wahren) Propheten hielt" (ebd.
V. 45. 46.). - Die Apostel waren dieser Situation nicht nur nicht mehr
gewachsen, sondern sondern machten vielmehr den Einaruck, bloß noch
Statisten in diesem Drama zu sein. Dennoch aber waren sie, wie sich
später herausstellte, im Stillen immer noch auf 'hohe Pöstchen' in
einem, von ihnen allerdings mißverstandenen, "messianischen Reiche"
erpicht, das wohl bald kommen werde. Es ist fürwahr recht seltsam, daß
dies alles immer so leicht und bedenkenlos 'übersehen' wird. Leider
berichten die Evangelisten nichts über das Verhalten "der Zwolf" in
diesen drei Kampftagen im Tempelbezirk, in denen die Hierarchen,
Synedristen und Herodianer in aller Öffentlichkeit eine totale
Niederlage einstecken mußten.
Anmerkungen:
1) Für echte Sedisvakantisten besteht nach dem Tode des
Papstes Pius XII. (9.10. 1958) aus theologischen Grunden eine bis auf
weiteres ununterbrochene Vakanz des Apostolischen Stuhles und seit Ende
des Vatikanums 2 (8.12.1965) eine häretische und apostatische sog.
"römische Konzilskirche", die weder apostolisch noch römisch-katholisch
ist. Diese 'Kirche' besitzt auch keine Einheit und Heiligkeit, wie
schon die Erfahrung lehrt. Sie ist ein monstroses Gesellschaftgebilde
'sui generis'.
2) Kirche und Papsttum lassen sich nicht auseinanderreißen, weil beides
von Christus stammt und die Kirche ein religiöses und hierarchisches
Gesellschaftsgebilde eigener Art ist, dem nichts in der Welt des
Menschen entspricht.
3) Unter den Judäern versteht man die in Jerusalem und im Lande Judäa
lebenden Juden,im Gegensatz zu den von ihnen gehaßten Samaritanern und
ungeliebten Galiläern mitihrer harten Aussprache, an der später
Simon-Petrus von einer Magd als "Jünger des Galiläers (Jesu)" erkannt
wurde.
4) Diese waren radikale Nationalisten und Römerfeinde; sie erwarteten
in ihrer politischen Verblendung vom Messias sogar die Errichtung der
(jüdischen) "Weltherrschaft".
(Fortsetzung folgt)
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