Allein vor dem gegenwärtigen Gott
Leon Bloy
an Jean de la Laurencie
Das Wenige, was ich habe, hat mir Gott ohne mein Zutun gegeben, und
welchen Gebrauch habe ich davon gemacht? Das schlimmste Übel ist nicht,
Verbrechen zu begehen, sondern das Gute, das man hätte tun können,
nicht vollbracht zu haben. Es ist die Sünde der Unterlassung, welche
nichts anderes ist als die Nicht-Liebe, und ihrer klagt sich niemand
an. Wer mich Tag für Tag früh in der Messe beobachtete, würde mich oft
weinen sehen. Diese Tränen, die heilig sein könnten, sind viel eher
äußerst bittere Tränen. Ich denke dann nicht an meine Sünden, deren
manche übergroß sind. Ich denke an das, was ich hätte tun können und
was ich nicht getan habe, und ich versichere Ihnen, das sind sehr
dunkle Gedanken... Sagen Sie mir nicht, daß dies bei jedermann der Fall
ist. Gott hat mir den Sinn, das Bedürfnis, den Instinkt - ich weiß
nicht, wie ich es ausdrücken soll - für das Absolute gegeben, wie er
Stacheln dem Stachelschwein und dem Elefanten einen Rüssel gegeben hat.
Eine außerordentlich seltene Gabe, die ich seit meiner Kindheit gespürt
habe, eine gefährlichere und qualvollere Fähigkeit noch als das Talent,
da sie den dauernden und leidenschaftlichen Trieb nach dem, was nicht
auf Erden existiert, miteinbegreift, und dadurch die völlige Einsamkeit
nach sich zieht. Ich hätte ein Heiliger werden können, ein Wundertäter.
Ich bin ein Literat geworden. Wenn man wüßte, daß jene Sätze oder
Seiten, die man bewundern will, nur der Bodensatz einer übernatürlichen
Gabe sind, die ich hassenswert verschleudert habe, und über die ich
einmal furchtbare Rechenschaft werde ablegen müssen! Ich habe nicht
getan, was Gott von mir wollte, das ist gewiß. Im Gegenteil, ich habe
davon geträumt, was ich von Gott wollte, und hier stehe ich nun mit
achtundsechzig Jahren und halte nichts anderes in meinen Händen als
Papier! Ach, ich weiß es wohl, daß Sie mir nicht glauben werden, daß
Sie denken, ich spräche so nur aus Demut. Ach, wenn man allein vor dem
gegenwärtigen Gott steht am Eingang eines sehr dunklen Weges, vermag
man sich selbst gegenüber zu unterscheiden und ist nicht geneigt, sich
etwas weiszumachen! Die wahre Güte, der ganz reine, gute Wille, die
kindliche Einfalt, alles, was den Kuß des Mundes Jesu herbeiruft, man
weiß nur zu gut, daß man dies alles nicht besitzt und daß man wirklich
den armen, leidenden Herzen, die einen um Hilfe anrufen, nichts zu
geben hat. Das ist meine Lage Ihnen gegenüber, lieber Freund. Gewiß,
ich kann für Sie beten, ich kann mit Ihnen und für Sie leiden, indem
ich versuche, etwas von Ihrer Last zu tragen wohl, aber den Tropfen
Wasser, aus einem Kelch des irdischen Paradieses geschöpft, kann ich
Ihnen unmöglich geben. Mir war heute, als ob ich die Pflicht hätte,
Ihnen das zu sagen, damit Sie nicht allzusehr auf ein schwaches und
schmerzbeladenes Geschöpf rechnen.
(aus: "Au Seuil de l'Apocalypse", zitiert nach Maritain, Raissa: "Léon
Bloy - der beständige Zeuge Gottes" Salzburg 1953, S. 328 ff.) |