Der unbestechliche Zeuge
von
Leon Bloy
"Ich sehe sehr deutlich die schauerliche Krankheit dieser Welt, die
nicht mehr im christlichen Glauben steht, und ich habe für nichts
anderes Gedanken, welche auch die Worte sein mögen, die mir dazu
dienen, um das auszudrücken, was ich wie ein Messer in der Scheide
meiner Brust trage. Es ist eine so echte, so bohrende Leidenschaft, daß
ich schließlich so weit kommen werde, meine Aufmerksamkeit auf kein
anderes Thema mehr richten zu können. Aber dieser Umstand erinnert mich
wieder, daß ich Dir noch nicht auf alles geantwortet habe, Veronique.
Ich habe Dich auf die empörende Tatsache aufmerksam gemacht, daß die
Christen und ihre Gegner sich jedesmal dann verbünden, wenn es darum
geht, den gemeinsamen Feind zu bekämpfen, das heißt, einen Mann wie
mich, der aus Liebe das Äußerste wagt und die Wahrheit sagt ohne
Furcht. Dann habe ich von Louis Veuillot und dem Mißgeschick der Kirche
gesprochen. Dinge, die zusammengehören. Lassen wir das. Nicht wahr, man
hat Dir gesagt, daß meine Zornesausbrüche die Bruderliebe beleidigen.
Ich habe für Deine Theologen nur ein Wort als Antwort. Nämlich, daß die
Gerechtigkeit und das Mitleid ein und dasselbe sind und gleichen Wesens
in ihrer Absolutheit. Das wollen weder die Empfindsamen noch die
Fanatiker hören. Eine Lehre, die als höchstes Ziel die Liebe zu Gott
aufstellt, muß vor allem mannhaft sein, um allen Trugbildern der
Eigenliebe oder der Fleischesliebe widerstehen zu können. Es ist nur
allzu leicht, die Menschen zu entmannen, wenn man ihnen nur das Gebot
der Bruderliebe beibringt unter Hintansetzung all der anderen Gebote,
die man vor ihnen verbirgt. Auf solche Weise erhält man eine quallige
und teigige Religion, die in ihren Wirkungen viel fürchterlicher ist
als selbst der Nihilismus. Das Evangelium aber kennt Drohungen und
erschreckende Schlußfolgerungen. An zwanzig Stellen schleudert Jesus
den Bannfluch nicht auf Dinge, sondern auf Menscben, die er mit einer
fürchterlichen Genauigkeit bezeichnet. Er gibt darum nicht weniger sein
Leben für alle hin, aber nicht ohne uns die Weisung zurückgelassen zu
haben, "von den Dächern" zu reden, wie er selbst geredet hat. Er ist
das einzige Vorbild, und die Christen können nichts Besseres tun, als
seine Beispiele praktisch zu befolgen. Was würdest Du von der
Bruderliebe eines Menschen halten, der es zuließe, daß man seine
Menschenbrüder vergiftet, aus Furcht, mit einer Warnung das Ansehen des
Vergifters zu ruinieren? Ich wenigstens meine, daß unter diesem
Gesichtspunkt die Bruderliebe darin besteht, laut seine Stimme zu
erheben, und daß die echte Liebe unversöhnlich sein muß. Aber das setzt
eine Männlichkeit voraus, die heute so ausgestorben ist, daß man nicht
einmal das Wort aussprechen kann, ohne die Schamhaftigkeit zu
verletzen...
Ich habe nicht die Berechtigung, sagt man, zum Richten oder zum
Strafen. Muß ich aus diesem geistreichen Schluß, dessen Trug ich kenne,
folgern, daß ich nicht die Berechtigung zum Sehen habe, und daß es mir
verboten ist, den Arm gegen einen Brandstifter zu erheben, der in
vollem Vertrauen auf meine brüderliche Duldsamkeit unter meinen Augen
die Mine anzündet, die eine ganze Stadt zerstören wird? Wenn die
Christen nicht so viel Lektionen bei ihren Todfeinden genommen hätten,
wüßten sie, daß nichts gerechter ist als das Erbarmen, weil nichts
erbarmungsvoller ist als die Gerechtigkeit, und ihre Gedanken würden
sich nach diesen Grunderkenntnissen richten. Christus hat jene "selig"
genannt, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, und die Welt,
die sich amüsieren will, aber die wahre Seligkeit verabscheut, hat
diese Feststellung beiseite geschoben. Wer wird denn für die Stummen,
für die Unterdrückten und Schwachen sprechen, wenn jene schweigen, die
vom WORT eingesetzt sind? Der Schriftsteller, der nicht die
Gerechtigkeit im Blick hat, beraubt den Armen ebenso grausam wie der
Reiche, dem Gott sein Paradies verschließt. Sie vergeuden beide, der
eine wie der andere, ihr anvertrautes Gut und sind beide gleich
verantwortlich für die Flucht aus der Hoffnung. Diese Krone von
glühenden Kohlen will ich nicht auf meinem Haupt, und meine
Entscheidung habe ich schon seit langem getroffen... Koste es was
es wolle, ich will die Reinheit meiner Zeugenschaft wahren und hüte
mich deshalb vor dem Verbrechen, Kräfte, die mir Gott gege-ben hat,
unbenutzt zu lassen. Ironie, Beleidigungen, Herausforderungen, Flüche,
Verdammungsurteile, Verwünschungen, dichterische Übersteigerung aus
Schlamm oder Feuerflammen, alles soll mir recht sein, womit mein Zorn
zum Angriff kommen kann! Müßte ich sonst nicht der Letzte der Menschen
sein? Die einzige Art, auf die ein Richter noch tiefer als sein
Verbrecher fallen kann, ist, seine Amtspflicht zu vergessen; und jeder
echte Schriftsteller ist sicherlich ein Richter. Es ist mir gesagt
worden: Wozu soll das gut sein? Die Welt liegt im Sterben, und nichts
rührt sie mehr an. Vielleicht. Aber trotzdem hat man noch mitten in der
Wüste Zeugnis abzulegen, und sei es auch nur zur Ehre der göttlichen
Wahrheit und zur Erbauung der wilden Tiere (...). (S. 109 ff.) |