KIRCHE UND STAAT
von
Papst Pius XII.
Wesensunterschiede zwischen der geistlichen und der bürgerlichen Rechtsordnung,
nach ihrem Ursprung und ihrer Natur betrachtet
EIN FLÜCHTIGER BLICK auf die Gesetze und die Rechtspraxis könnte
glauben machen, daß die kirchliche und bürgerliche Prozeßordnung nur
sekundäre Unterschiede aufweisen, ähnlich denjenigen, die man bei der
Rechtsprechung zweier Staaten der gleichen Rechtsfamilie feststellen
kann. Scheint doch auch der unmittelbare Zweck beider Prozeßordnungen
derselbe zu sein: die Verwirklichung bzw. Sicherung des im Gesetz
niedergelegten Rechts, das im Einzelfall bestritten oder verletzt war,
mittels Richterspruches oder mittels eines Urteils, aber in
Übereinstimmung mit dem Gesetz wiederhergestellt wird. Die
verschiedenen Stufen der Rechtsinstanzen sind ebenfalls in beiden
vorhanden; das Verfahren zeigt bei beiden die gleichen hauptsächlichen
Bestandteile: Antrag auf Eröffnung des Verfahrens, Aufruf und Verhör
der Zeugen, Austausch der Schriftstücke, Vernehmung der Parteien,
Schluß der Verhandlung, Urteil, Recht der Berufung.
Nichtsdestoweniger wird man über dieser weitgehenden äußeren und
inneren Ähnlichkeit die tiefen Unterschiede nicht vergessen, die
erstens im Ursprung und in der Natur, zweitens im Gegenstand, drittens
im Zweck bestehen. 1)
Totalitarismus, Autoritarismus, Demokratie
Die Rechtsprechung ist ein wesentlicher Teil und eine notwendige
Funktion der Macht der beiden vollkommenen Gesellschaften, der
geistlichen wie der bürgerlichen. Daher fällt die Frage nach dem
Ursprung der Gerichtsbarkeit zusammen mit der Frage nach dem Ursprung
der Gewalt selbst.
Aber gerade deswegen hat man außer den bereits angedeuteten
Ähnlichkeiten, auch andere, tiefere zu finden geglaubt. Es ist
merkwürdig zu sehen, wie manche Anhänger der verschiedenen modernen
Auffassungen betreffs der staatlichen Gewalt zur Bestätigung und
Bekräftigung ihrer Meinung die vorgeblichen Ähnlichkeiten mit der
geistlichen Gewalt angeführt haben. Das gilt nicht weniger für den
sogenannten "Totalitarismus" und den "Autoritarismus" wie für deren
Gegenpol, die moderne Demokratie. In Wirklichkeit aber bestehen diese
tieferen Ähnlichkeiten in keinem der drei Fälle, wie eine kurze Prüfung
leicht ergeben wird.
Es ist unbestreitbar, daß es eine der lebenswichtigen Forderungen jeder
menschlichen Gemeinschaft, daher auch der Kirche und des Staates ist,
die Einheit in der Verschiedenheit ihrer Glieder auf dauer-hafte Weise
zu sichern.
Nun kann der "Totalitarismus" niemals dieser Forderung genügen, da er
der Staatsgewalt nach Inhalt und Form eine ungebührliche Ausdehnung auf
alle Tätigkeitsbereiche verleiht und so jedes rechtmäßige Eigenleben -
das persönliche, das gemeindliche und das berufliche - in eine
mechanische Einheit oder Kollektivität zusammenpreßt unter dem Stempel
des Volkes, der Rasse oder der Klasse.
Wir haben in Unserer Rundfunkbotschaft zu Weihnachten 1942 im
besonderen auf die traurigen Folgen dieser Auffassung und
Handlungsweise für die Rechtsprechung hingewiesen, welche die
Gleichheit aller vor dem Gesetz unterdrückt und die
Rechtsentscheidungen dem Spiel eines wandelbaren Kollektivinstinkts
ausliefert.
Wer konnte übrigens jemals annehmen, daß solche irrigen Auffassungen,
die das Recht verletzen, den Ursprung der geistlichen Gerichte hätten
bestimmen oder Einfluß auf ihre Tätigkeit hätten ausüben können? Das
ist nie der Fall gewesen und wird nie der Fall sein, weil es der Natur
der sozialen Gewalt der Kirche zuwiderläuft, wie wir noch sehen
werden.
Aber von der Erfüllung jener grundlegenden Forderung ist auch die
andere Auffassung der Staats-gewalt sehr weit entfernt, die man als
"Autoritarismus" bezeichnen kann, weil sie die Staatsbürger von jeder
wirksamen Teilnahme und jedem Einfluß auf die Bildung des Gemeinwillens
ausschließt. Er spaltet das Volk folgerichtig in zwei Klassen, die der
Herrscher und die der Beherrschten, deren gegenseitige Beziehungen
unter der Herrschaft der Gewalt rein mechanisch sind oder nur eine
ausschließlich biologische Grundlage haben.
Der Staat: Eine Gemeinschaft für das Gemeinwohl
Wer sieht nicht, daß solchergestalt die wahre Natur der Staatsgewalt im
tiefsten verkehrt wird? Denn diese muß aus sich selbst und mittels der
Ausübung ihrer Funktionen danach streben, daß der Staat eine echte
Gemeinschaft sei, innig geeint im letzten Ziel, nämlich dem Gemeinwohl.
In jenem System wird jedoch der Begriff des Gemeinwohls so schwankend
und offenbart sich so deutlich als trügerischer Deckmantel des
einseitigen Interesses des Herrschers, daß ein zügelloser
gesetzgeberischer "Dynamismus" jede Rechtssicherheit ausschließt und
damit ein Grundelement jeder wahren Rechtsordnung unterdrückt.
Niemals wird ein solcher falscher Dynamismus dazu kommen, die
wesentlichen Rechte untergehen zu lassen und zu beseitigen, die den
einzelnen physischen und moralischen Personen in der Kirche zuerkannt
sind. Die Natur der kirchlichen Gewalt hat nichts mit jenem
"Autoritarismus" gemein, dem man daher keinerlei Beziehung zu der
hierarchischen Verfassung der Kirche nachsagen kann.
Es bleibt noch die demokratische Form der Staatsgewalt zu prüfen, in
der einige eine große Ähnlichkeit mit der Gewalt der Kirche erblicken
wollen. Wo eine wahre Demokratie in Theorie und Praxis herrscht, da
erfüllt sie ohne Zweifel jene lebenswichtige Forderung jeder gesunden
Gemeinschaft, auf die Wir hingewiesen haben. Aber das erweist sich oder
kann sich unter gleichen Bedingungen auch in den anderen rechtmäßigen
Regierungsformen erweisen.
Sicher hat das christliche Mittelalter, das in hervorragender Weise vom
Geist der Kirche gestaltet wurde, mit seinem Reichtum an blühenden
demokratischen Gemeinschaften gezeigt, daß der christliche Glaube eine
wahre und echte Demokratie zu schaffen vermag und sogar ihre einzige
dauerhafte Grundlage ist. Denn eine Demokratie ohne die Einheit der
Geister, wenigstens in den grundlegenden Lebenswahrheiten und
-gesetzen, vor allem hinsichtlich der Rechte Gottes und der Würde der
menschlichen Person und der rechtlichen Tätigkeit und persönlichen
Freiheit auch in politischen Dingen, eine solche Demokratie wäre
mangelhaft und schwankend. Wenn sich also das Volk vom christlichen
Glauben entfernt und ihn nicht entschlossen als Grundlage des
bürgerlichen Lebens bejaht, dann wird auch die Demokratie leicht
entstellt und verzerrt und läuft mit der Zeit Gefahr, dem
"Totalitarismus" und dem "Autoritarismus" einer einzigen Partei zu
verfallen.
Hält man sich andererseits die Lieblingsthese der Demokratie vor Augen
- eine These, die hervorragende christliche Denker zu allen Zeiten
verfochten haben -, daß nämlich das ursprüngliche Subjekt der
Staatsgewalt, die sich von Gott herleitet, das Volk sei (nicht die
"Masse"), so wird der Unterschied zwischen der Konstitution der Kirche
und jener des demokratischen Staates immer klarer. 2)
Unterschiede zwischen Staat und Kirche
Wesentlich verschieden von der staatlichen Gewalt ist in der Tat die kirchliche, und daher auch ihre richterliche.
Der Ursprung der Kirche liegt im Gegensatz zu dem des Staates nicht im
Naturrecht. Die weiteste und genaueste Analyse der menschlichen Person
bietet kein Element für die Folgerung, daß die Kirche ganz wie die
bürgerliche Gesellschaft auf natürliche Weise habe geboren werden und
sich entwickeln müssen. Sie leitet sich von einem positiven Akte Gottes
her, der außer und über der Gemeinschaftsanlage des Menschen steht,
wiewohl in vollkommener Übereinstimmung mit dieser. Daher ist die
kirchliche Gewalt - und somit auch die ihr entsprechende Gerichtsgewalt
- aus dem Willen und dem Handeln entstanden, mit dem Christus seine
Kirche gegründet hat. Das schließt aber nicht aus, daß, nachdem die
Kirche einmal durch den Erlöser als vollkommene Gesellschaft gegründet
war, aus ihrem innersten Wesen viele Elemente ähnlich dem Aufbau der
bürgerlichen Gesellschaft sind.
In einem Punkte jedoch tritt dieser grundlegende Unterschied besonders
deutlich hervor. Die Gründung der Kirche als Gemeinschaft ist anders
als der Ursprung des Staates, nicht von unten nach oben, sondern von
oben nach unten geschehen. Das heißt: Christus, der in seiner Kirche
das von ihm angekündigte und für alle Menschen aller Zeiten bestimmte
Reich Gottes auf Erden verwirklicht hat, hat nicht der Gemeinschaft der
Gläubigen die Sendung als Lehrer, Priester und Hirte, die er vom Vater
zum Heil des Menschengeschlechtes empfangen hatte, anvertraut, sondern
er hat sie einem Kollegium von Aposteln oder Sendboten übertragen, die
er selbst erwählt hatte. Ihre Predigt, zusammen mit ihrem
priesterlichen Dienst und der Gewalt ihres Amtes, sollte die Menge der
Gläubigen in die Kirche eintreten heißen, um dort geheiligt, erleuchtet
und zur vollen Reife der Jünger Christi geführt zu werden.
Prüfet die Worte, mit denen er ihnen seine Vollmachten übergeben hat:
die Gewalt, im Gedenken an ihn das Opfer darzubringen, die Gewalt, die
Sünden nachzulassen, das Versprechen und die Übertragung der höchsten
Schlüsselgewalt an Petrus und seine Nachfolger persönlich, die
Übertragung der Macht zu lösen und zu binden an alle Apostel. Erwäget
endlich die Worte, mit denen er vor seiner Himmelfahrt den gleichen
Aposteln die allumfassende Sendung erteilte, die er vom Vater erhalten
hatte. Ist etwa in all dem etwas, das zu Zweifeln oder zu verschiedenen
Auslegungen Anlaß geben könnte? Die ganze Geschichte der Kirche, von
ihren Anfängen bis in unsere Tage, ist immer wieder ein Echo dieser
Worte und gibt dasselbe Zeugnis mit einer Klarheit und Genauigkeit, die
keine Spitzfindigkeit verwirren oder verschleiern könnte. Nun besagen
aber alle diese Worte und Zeugnisse einhellig, daß das Wesen und der
Mittelpunkt der kirchlichen Gewalt, nach dem ausdrücklichen Wort
Christi, die Sendung ist, die er den Dienern seines Heilswerkes für die
Gemeinschaft der Gläubigen und für das ganze Menschengeschlecht
übergeben hat.
Kanon 109 des "Corpus iuris canonici" hat dieses wunderbare Gebäude in
helles Licht gerückt: "Qui in ecclesiasticam hierarchiam cooptantur,
non ex populi vel potestatis saecularis consensu aut vocatione
adleguntur; sed in gradibus potestatis ordinis constituuntur sacra
ordinatione; in supremo pontificatu, ipsomet iure divino, adimpleta
conditione legitimae electionis eiusdemque exceptationis; in reliquis
gradibus iurisdictionis, canonica missione." ("Die Aufnahme in die
kirchliche Hierarchie erfolgt nicht auf Grund der Zustimmung oder
Berufung seitens des Volkes oder der weltlichen Gewalt; vielmehr werden
die Erwählten in die Weihehierarchie eingereiht durch eine heilige
Weihe; die Übertragung der obersten Hirtengewalt erfolgt unmittelbar
durch göttliches Recht, nach Erfüllung der Vorbedingung einer
rechtmäßigen Wahl und der Annahme dieser Wahl; die Einreihung in die
übrigen Grade der Regierungsgewalt erfolgt durch die kirchliche
Sendung.")
Verantwortung der Glieder der kirchlichlen Hierarchie
"Non ex populi vel potestatis saecularis consensu aut vocatione": Das
gläubige Volk oder die weltliche Gewalt können im Lauf der Jahrhunderte
oft an der Bezeichnung jener teilgenommen haben, denen die geistlichen
Ämter übertragen werden sollten, - zu welchen übrigens, das oberste
Pontifikat mit eingeschlossen, sowohl der Sproß eines edlen Stammes wie
der Sohn der bescheidensten Arbeiterfamilie erwählt werden können. In
Wirklichkeit aber haben die Glieder der kirchlichen Hierarchie ihre
Amtsgewalt von oben erhalten und erhalten sie immer wieder von oben und
müssen sich für die Ausübung ihres Auftrags entweder nur unmittelbar
vor Gott verantworten, welchem allein der Papst unterworfen ist, oder,
in den anderen Graden, vor den hierarchischen Oberen. Aber sie haben
weder dem Volk noch der bürgerlichen Gewalt irgendwie Rechenschaft zu
geben, abgesehen davon, daß natürlich jeder Gläubige die Möglichkeit
hat, der zuständigen geistlichen Behörde, oder auch unmittelbar der
obersten Gewalt der Kirche seine Bitten und seine Beschwerden zu
unterbreiten, besonders wenn der Bittsteller oder Beschwerdeführer von
Beweggründen geleitet ist, die an seine persönliche Verantwortung für
das geistliche Wohl seiner selbst oder anderer rühren.
Aus dem Gesagten ergeben sich in der Hauptsache zwei Folgerungen:
1. In der Kirche ist, anders als im
Staat, das ursprüngliche Subjekt der Gewalt, der höchste Richter, die
höchste Berufungsinstanz, niemals die Gemeinschaft der Gläubigen. Es
gibt also und kann in der Kirche, die von Christus gegründet worden
ist, niemals ein Volksgericht oder eine Gerichtsgewalt geben, die vom
Volke ausgeht.
2. Die Frage nach der Reichweite der kirchlichen Gewalt stellt sich
gleichfalls auf andere Weise als beim Staat. Für die Kirche gilt in
erster Linie der ausdrückliche Wille Christi, der ihr nach seiner
Weisheit und Güte größere oder kleinere Mittel und Macht verleihen
konnte, ausgenommen immer jenes Mindestmaß, das ihre Natur und ihr Ziel
notwendigerweise erfordern. Die Macht der Kirche umfaßt den ganzen
Menschen, sein Inneres und sein Äußeres, zur Verfolgung des
übernatürlichen Zieles, insofern dieser Mensch gänzlich dem Gesetz
Christi unterstellt ist, für das die Kirche von ihrem göttlichen
Gründer als Wächterin und Vollstreckerin eingesetzt ist, sowohl im
äußeren Rechtsbereich als auch für den inneren Bereich des Gewissens. -
Eine volle und vollkommene Gewalt also, obschon fern jenem
"Totalitarismus", der nicht die ehrliche Berufung auf die klaren und
unabweisbaren Weisungen des eigenen Gewis-sens zuläßt noch anerkennt,
und der die Gesetze des Einzel- und Gemeinschaftslebens verletzt, die
in die Herzen der Menschen eingeschrieben sind. Denn die Kirche zielt
mit ihrer Gewalt nicht ab auf die Unterjochung der menschlichen Person,
sondern auf die Sicherung ihrer Freiheit und Vervollkommnung, indem sie
dieselbe von Schwächen, Irrtümern und Verirrungen des Geistes und des
Herzens erlöst, welche früher oder später immer in Entehrung und
Versklavung enden.
Der heilige Charakter, der der kirchlichen Gerichtsgewalt aus ihrem
göttlichen Ursprung und aus ihrer Zugehörigkeit zur hierarchischen
Gewalt zukommt, muß euch, geliebte Söhne, die höchste Achtung für euer
Amt eingeben und euch anspornen, seine ernsten Pflichten mit lebendigem
Glauben, mit unveränderlicher Rechtlichkeit und immer wachem Eifer zu
erfüllen. Aber hinter dem Schleier dieses Ernstes - welcher Glanz tut
sich da auf für die Augen dessen, der in der Gerichtsgewalt die
Majestät der Gerechtigkeit zu sehen versteht, die in ihrem gesamten
Wirken bestrebt ist, die Kirche, die Braut Christi "heilig und
makellos" vor ihrem göttlichen Bräutigam und vor den Menschen
erscheinen zu lassen! 3)
Unterschiede geistlicher und bürgerlicher Gerichtsordnung
Was gestern für viele eine Pflicht der Kirche war, und was man von ihr,
auch auf ungeordnete Weise, forderte, nämlich den ungerechten Auflagen
totalitärer Regierungen, die die Gewissen bedrückten, zu widerstehen,
sie vor der Welt anzuklagen und zu verurteilen (was zu tun sie nie
unterlassen hat, aber sie tat es aus eigenem, freiem Antrieb und in den
gebührenden Formen), ist heute für dieselben Menschen, da sie zur Macht
gelangt sind, ein Vergehen und ein unerlaubtes Eindringen in den
Bereich der staatlichen Obrigkeit. Und die gleichen Argumente, die die
tyrannischen Regierungen von gestern gegen die Kirche und ihren Kampf
zur Verteidigung der göttlichen Rechte und der gerechten Würde der
menschlichen Person ins Feld geführt haben, werden heute von den neuen
Herrschern gebraucht, um ihre ausdauernden Bemühungen zum Schutz der
Wahrheit und der Gerechtigkeit zu bekämpfen. Aber die Kirche wandelt
geradeaus auf ihrem Weg, immer nach dem Ziel strebend, für das sie von
ihrem göttlichen Gründer eingesetzt worden ist, nämlich die Menschen
auf den übernatürlichen Pfaden der Tugend und des Guten zum himmlischen
und ewigen Glück zu führen, wodurch sie zu gleicher Zeit auch das
friedliche und ersprießliche Zusammenleben der Menschen fördert.
Dieser Gedanke führt uns natürlicherweise dazu, von dem
wesensverschiedenen Ziel der beiden Ge-sellschaften zu sprechen. Der
Unterschied im Ziel schließt ohne Zweifel jene erzwungene Unterwerfung,
ja Eingliederung der Kirche in den Staat aus, die der Natur beider
zuwiderläuft und die jeder Totalitarismus, wenigstens anfänglich, zu
erreichen sucht. Sie leugnet jedoch gewiß nicht jede Ver-bindung
zwischen den beiden Gesellschaften, und noch weniger setzt sie zwischen
beide eine kalte trennende Linie des Agnostizismus und der Indifferenz.
Wer die rechte Lehre so verstehen wollte, wonach Kirche und Staat zwei
verschiedene, vollkommene Gesellschaften sind, würde in die Irre gehen.
Er vermöchte die vielfältigen, trotz aller Verschiedenheit
fruchtbringenden Formen nicht zu erklären, in denen die Verbindung
zwischen den beiden Gewalten in Vergangenheit und Gegenwart erscheint;
er würde sich vor allem keine Rechenschaft darüber geben, daß Kirche
und Staat aus derselben Quelle entspringen, aus Gott, und daß beide
sich um denselben Menschen kümmern, seine natürliche oder
übernatürliche Personwürde. All dies konnte und wollte Unser
glorreicher Vorgänger Leo XIII. nicht vernachlässigen, als er in seiner
Enzyklika "Immortale Dei" vom 1. November 1885 die Grenzen der beiden
Gesellschaften auf Grund ihres verschiedenen Zieles klar umriß und
bemerkte, daß es dem Staate zunächst und in der Hauptsache obliege,
sich um die irdischen Belange zu kümmern, der Kirche, für die
himmlischen und ewigen Güter der Menschen zu sorgen, soweit diese
nämlich der Sicherheit und Stützung bedürfen, seitens des Staates für
die irdischen, seitens der Kirche für die ewigen.
Sehen wir darin nicht eine gewisse Ähnlichkeit zu den Beziehungen
zwischen Leib und Seele? Beide wirken in solcher Weise zusammen, daß
das seelische Gepräge des Menschen in jedem Augenblick die Folgen
seines Temperaments und seiner körperlichen Zustände spürt, während
umgekehrt die sittlichen Eindrücke, die Erregungen, die Leidenschaften
sich im leiblich-sinnlichen Empfindungsvermögen so mächtig
widerspiegeln, daß die Seele auch die Züge des Gesichts bestimmt, denen
sie gleichsam ihr Bild aufdrückt.
Das geistliche Gericht
Es besteht also ein Unterschied im Ziel, ein Unterschied, der auf die
Kirche und auf den Staat einen verschiedenen und tiefen Einfluß ausübt,
vor allem auf die oberste Gewalt beider Gesellschaften. Daher auch auf
die richterliche Gewalt, die lediglich ein Teil und eine Funktion davon
ist. Unabhängig, ob die einzelnen kirchlichen Richter sich dessen
bewußt sind oder nicht, ist und bleibt ihr richterliches Tun
eingeschlossen in die Fülle des Lebens der Kirche mit ihrem hohen
Ziele: "caelestia ac sempiterna bona comparare" ("die himmlischen und
ewigen Güter zu vermitteln"). Dieser finis operis (innere Zweck) der
kirchlichen Gerichtsgewalt gibt ihr das objektive Gepräge und macht sie
zu einer Einrichtung der Kirche als einer übernatürlichen Gemeinschaft.
Und da sich dieses Gepräge aus dem überirdischen Zweck der Kirche
herleitet, wird die kirchliche Gerichtsgewalt niemals in die Starrheit
und Unbeweglichkeit verfallen, der rein irdische Einrichtungen aus
Furcht vor Verantwortung oder aus Trägheit oder auch aus einer
schlechtverstandenen Sorge, das gewiß hohe Gut der Rechtssicherheit zu
schützen, leicht hörig werden. Das heißt aber nicht, daß es in der
kirchlichen Gerichtsordnung einen Bereich gebe, der der bloßen Willkür
des Richters in der Behandlung der einzelnen Fälle frei gelassen wäre.
Diese Irrtümer einer angeblichen verhängnisvollen "Vitalität" des
Rechts sind traurige Erzeugnisse unserer Zeit in Tätigkeiten, die
nichts mit der Kirche zu tun haben. Unberührt von einem heute ziemlich
verbreiteten Antiintellektualismus bleibt die Kirche fest auf dem
Standpunkt, daß der Richter im einzelnen Fall nach dem Gesetz
entscheidet, einem Standpunkt, der, ohne einen übertriebenen
"juristischen Formalismus" zu begünstigen, doch jene "subjektive
Willkür" zurückweist, die den Richter nicht unter, sondern über das
Gesetz stellen würde. Die rechtliche Norm klar im Sinne des
Gesetzgebers verstehen und den einzelnen Fall gemäß der anzuwendenden
Norm richtig zergliedern, diese Verstandesarbeit ist ein wesentlicher
Teil der konkreten Rechtsprechungsarbeit. Ohne solches Verfahren wäre
das Urteil des Richters ein einfacher Befehl und nicht das, was das
Wort "positives Recht" ausdrücken will, nämlich in dem einzelnen und
daher konkre-ten Fall Ordnung in der Welt zu schaffen, die als ein
Ganzes von der Weisheit Gottes in der Ordnung und für die Ordnung
geschaffen worden ist.
Ist dieses Gebiet der richterlichen Tätigkeit etwa nicht reich an
Leben? Mehr noch: Das kirchliche Gesetz gilt dem Gemeinwohl der
kirchlichen Gesellschaft und ist daher untrennbar mit dem Ziel der
Kirche verbunden. Während also der Richter das Gesetz auf den einzelnen
Fall anwendet, arbeitet er daran mit, die Fülle des Ziels zu vollenden,
das in der Kirche lebt. Sieht er sich aber zweifelhaften Fällen
gegenüber oder läßt ihm die Gesetzgebung Freiheit, so wird ihm die
Verbindung der kirchlichen Gerichtsordnung mit dem Ziel der Kirche
helfen, die rechte Entscheidung zu finden und zu begründen und sein Amt
vor dem Makel reiner Willkür zu bewahren.
Wie auch immer man daher die Beziehung der kirchlichen Gerichtsgewalt
zu diesem Ziel betrachten mag, sie erscheint als die sicherste Garantie
der wahren Lebenskraft ihrer Entscheidungen, und während sie den
kirchlichen Richter in ein von Gott gewolltes Amt einsetzt, weist sie
ihn auf sein hohes Verantwortungsbewußtsein hin, das auch in der Kirche
über alle gesetzliche Regelung hinaus der unerläßliche Schutz der
Rechtssicherheit ist.
Damit wollen wir in keiner Weise die praktischen Schwierigkeiten
verkennen, die trotz allem das moderne Leben auch in der kirchlichen
Gerichtsgewalt verursacht, unter gewissen Gesichtspunkten sogar noch
mehr als im bürgerlichen Bereich. Man denke nur an gewisse geistliche
Güter, denen gegenüber sich die richterliche Gewalt des Staates weniger
gebunden fühlt oder sogar sich bewußt gleichgültig verhält. Typisch in
diesem Sinne sind die Fälle von Vergehen gegen den Glauben oder von
Abfall, die die "Gewissensfreiheit und die "religiöse Toleranz" und die
Eheprozesse betreffen. In diesen Fällen kann die Kirche und daher auch
der kirchliche Richter sich nicht die neutrale Haltung der Staaten mit
verschiedenen religiösen Bekenntnissen zu eigen machen, noch weniger
die einer Welt, die dem Unglauben und der religiösen Gleichgültigkeit
verfallen ist, sondern sie muß sich allein von dem wesentlichen Ziel
leiten lassen, das ihr von Gott gesteckt ist.
So stoßen wir immer wieder auf den tiefen Unterschied, den die
Verschiedenheit des Ziels zwischen kirchlicher und bürgerlicher
Gerichtsgewalt bewirkt. Ohne Zweifel steht dem nichts im Wege, daß die
eine die Ergebnisse der anderen verwendet, die theoretischen
Erkenntnisse ebensogut wie die praktischen Erfahrungen. Doch wäre es
irrig, Elemente und Normen der einen mechanisch auf die andere zu
übertragen, und noch irriger, sie einfachhin gleichsetzen zu wollen.
Die kirchliche Gerichtsgewalt und der kirchliche Richter brauchen ihr
Ideal nicht anderswo zu suchen, sondern müssen es in sich selbst
tragen; sie müssen sich immer vor Augen halten, daß die Kirche ein
übernatürlicher Organismus ist, dem ein göttliches Lebensprinzip
innewohnt (...). Richter sind in der Kirche kraft ihres Amtes und durch
göttlichen Willen die Bischöfe, von denen der Apostel sagt, daß sie
"vom Heiligen Geist eingesetzt sind, um die Kirche Gottes zu lenken".
Aber dieses "lenken" schließt das "urteilen" als eine notwendige
Funktion ein. Daher beruft nach dem Worte des Apostels der Heilige
Geist die Bischöfe nicht weniger zum Richteramt als zur Regierung der
Kirche. Vom Heiligen Geist rührt darum der heilige Charakter dieses
Amtes her. Die Gläubigen der Kirche Gottes, "die er mit seinem Blute
erworben hat", sind diejenigen, auf die sich die richterliche Tätigkeit
bezieht. 4)
1), 2) und 3) Allokutation bei der Eröffnung des Gerichtsjahres der S. Romana Rota, 2. Oktober 1945.
4) Allokutation bei der Eröffnung des Gerichtsjahres der S. Romana Rota, 29. Oktober 1947.
(zitiert nach: Chinigo, Michael: "Der Papst sagt - Lehren Pius' XII." Frankfurt a.M., 1955, S. 282-292) |