Existentielle Frustration
als Wurzel des Euthanasiewunsches
von
Magdalena S. Gmehling
"Im Gegensatz zum Tier, sagen dem Menschen keine Instinkte, was er muß;
und im Gegensatz zum Menschen in früheren Zeiten sagen ihm heute keine
Traditionen mehr, was er soll. Und manchmal scheint er nicht einmal
mehr zu wissen, was er eigentlich will." (Viktor E. Frankl)
Verfolgt man die gegenwärtige Debatte um den "schönen Tod", also die
legale Tötung, aufmerksam, so fällt immer wieder auf, wie selten aus
der Sicht des Betroffenen, des "Sterbewilligen" argumentiert wird.
Bereits dies weist auf einen beängstigenden Grad humaner
Selbstentfremdung hin. Der eingangs zitierte Professor für Neurologie
und Psychiatrie, der Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl, hat
immer wieder betont, daß Leben, unabhängig von trivialen und extremen
Situationen, sinnvoll ist. Dieser Lebenssinn aber, ist offensichtlich
nicht von uns selbst gesetzt, sondern von Gott. Sinnvolles Leben muss
erstrebt werden. Frankl, Überlebender von vier Konzentrationslagern,
sprach von der Trotzmacht des Geistes. Der Tatsache des Todes begegnet
er mit der Forderung: lebe so, als ob du das zweite Mal auf dieser Welt
wärest und jetzt alles richtig machst, was das erste Mal falsch war.
Vergangenheit ist ihm bewahrter Sinn. Er nähert sich hier dem Denken
eines großen Vergessenen, des Naturphilosophen und Mathematikers Gustav
Theodor Fechner, eines Zeitgenossen des Freiherrn von Hardenberg.
Fechner betont, daß alles, was ein Mensch an geistigen Schätzen an
phantasievollen Werken geschaffen hat, ewig bleibt.
So fremd dem gottlosen Rationalisten heute derartige Überlegungen
erscheinen mögen, so notwendig sind sie, verweisen sie doch auf den
bedingungslosen Wert und die damit verbundene Menschenwürde der Person.
Diese Würde, die aus dem Wert resultiert, kommt auch dem Behinderten
und Geistesschwachen zu.
Nun ist ausgerechnet der ausufernden Diskussion um das sogenannte Recht
auf menschenwürdiges Sterben eine gewisse Sentimentalität nicht
abzusprechen. Der Selbstmord wird aus der Sicht persönlich
verantwortlichen Handelns in den Bereich unverantwortlichen
Lebensgeschehens abgeschoben. Eine Enttabuisierung der Tötung ist
gekoppelt mit einem unterstellten Vernichtungswunsch und wird bemäntelt
mit hypertrophierten Gefühlen. "Wissen Sie", sagt der alte Father Smith
in Walker Percys "Thanatossyndrom", "wohin Sentimentalität führt?... In
die Gaskammer. Sentimentalität ist die erste Maske des Mörders."
Wir sind sehr genau darüber unterrichtet, daß ein Suizidwunsch in der
Mehrzahl der Fälle weit weniger auf ein Übermaß von Schmerz, denn auf
das Bewusstsein völliger Verlassenheit, Abhängigkeit, Hilflosigkeit,
extremer Schwäche, eben auf die Tatsache der verwirklichten
unmenschlichen "mechanisierten Seelenmanipulation" zurückzuführen ist.
Die zweifelhafte Möglichkeit, Leben um jeden Preis durch Apparate zu
verlängern, steht in scharfem Kontrast zur Argumentation, Leben sei
unter dem Aspekt des Nutzwertes, nicht des Einstellungswertes zu
betrachten.
Ein Mensch, der sich krankheitsbedingt in einem Leidenszustand
befindet, ja Schock, Entsetzen, Verzweiflung angesichts des nahenden
Endes empfindet, ist im Normalfall nicht in der Lage allein einen Weg
aus dem sich jäh öffnenden existentiellen Vakuum zu finden.
Resignation, Vertrauensverlust, fragile menschliche Beziehungen, lassen
den aus vitaler Schwäche und nihilistischem Selbstvernichtungsdrang
geborenen Wunsch der "destructio" zumindest begreifbar erscheinen,
wenngleich er nicht zu billigen ist. Das mörderische Klima des modernen
Agnostizismus äußert sich wie wir wissen, besonders in Zeiten des
Wohlstandes in dämonischer Langeweile. Der Lebensüberdruss scheint in
unserer Zivilisation vorprogrammiert.
Dem Christen ist der leibliche Tod nicht das letzte. Er ist ihm ein
Ubergang zum wahren Leben. Albert Einstein schrieb, daß jener Mensch,
der den Sinn seines Lebens gefunden hat, ein religiöser Mensch ist. Mit
Paul Tillich können wir ergänzen: "Religiös zu sein heißt,
leidenschaftlich die Frage nach dem Sinn unserer Existenz zu stellen."
Dies ist zumindest ein Hinweis darauf, daß die Willenseinstellung des
Betroffenen, seine in Zeiten der Freiheit, des körperlichen
Wohlergehens getroffene Entscheidung, von eminenter Bedeutung ist.
Selbstverständlich muß die Einstellung, sein Schicksal "aktiv zu
erleiden" ein ganzes Leben lang geübt werden.
Es sei gestattet, diesen kurzen Diskussionsbeitrag mit einem Zitat aus
dem überaus lesenswerten Buch "Töten oder sterben lassen" (Herder 1997)
von Robert Spaemann und Thomas Fuchs zu schließen: "Wie eine
Gesellschaft mit den Resignierten, Hoffnungslosen und Verzweifelten
umgeht, das vor allem prägt den menschlichen Umgang ihrer Mitglieder,
und nicht der problemlose Lebensverlauf oder das sanftere Sterben der
meisten. Wir können das Grundvertrauen ... wie ein großes Haus ansehen,
das wir alle gemeinsam bewohnen. Der Bestand dieses Hauses hängt davon
ab, daß es der Gemeinschaft nicht gleichgültig ist, ob einer der ihren,
und sei es der Armseligste, aus dem Fenster springt ... Die Menschen
werden die Fenster des Hauses nicht vergittern, aber sie werden,
solange der Ihre noch auf dem Fensterbrett steht, ihm die Hand
hinreichen, damit er sie nimmt und bei ihnen bleibt. Und sie werden ihm
immer zu verstehen geben, daß er bis zum letzten Augenblick seines
Lebens ebenso wichtig ist, wie alle anderen."
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