Das gläubige Christentum war
jederzeit diesem haltlosen Durcheinander (der verschiedenen,
miteinander konkurrierender Pädagogik-Konzepte, Anm.d.Red.) enthoben,
weil es, und weil es allein wußte, wo das Ziel lag. Die 0ffenbarung
sagt dem Menschen mit legitimer Autorität, wer er ist und was er zu
werden hat, und danach hat sich sowohl Bildung als auch Erziehung zu
richten.
Es ist jedoch nicht zu leugnen: Während die Erziehung außerhalb des
positiven Christentums zwar das sichere Ziel verlor, aber diesen
Verlust wett zu machen versuchte durch psychologische Verfeinerung der
Methode, haben sich die Christen praktisch und theoretisch im großen
und ganzen wenig um seelisches Verständnis der Jugend bemüht. Das
Wissen um die Wahrheit beruhigte allzusehr. Man glaubte, es könnte
nicht mehr besser erzogen werden als nach altbewährten Rezepten. Der
Mangel an Problematik in den Grundlagen machte glauben, daß es auch in
der Methode keine Problematik gebe.
Hier setzt nun die Leistung Boscos ein. Um Erziehungsgrundlegung hat er
sich nie bemüht, das war ihm als Christ gegeben. Aber daß der
sittlich-religiöse Bildungsvorgang sich anders als bisher vollziehen
muß, das ist sein Neues, das ihn unmittelbar neben die modernsten
psychologisierenden Pädagogen stellt. (...)
Das erste, was Don Bosco tat, wenn ihm ein junger Mensch zugeführt
wurde, war das eingehende, liebevolle Studium des Anvertrauten. Darin
liegt an sich nichts Besonderes. Tut dergleichen nicht jeder, der es
mit einem neuen Menschen zu tun hat? Worin aber Bosco über das
Selbstverständliche hinausgeht, das ist die fortgesetzte Bemühung um
die Eigenart eines Kindes. Wie mancher Schüler muß immer wieder die
tragische Erfahrung machen, daß seine Erzieher bald fertig sind mit
ihrem Urteil, daß er in ein bestimmtes Koordinatensystem eingefügt ist,
und dort seinen unverrückbaren Platz behalten muß. Kein Wunder, wenn
der zu Erziehende, der zu Befreiende, durch die unlebendige, jede
innere Entwicklung hemmende Fixierung von seiten des Erziehers peinlich
festgenagelt wird. Bosco beschwört seine Mitarbeiter, immer wieder von
neuem die Individualitäten zu studieren, alte Auffassungen, zu
zerbrechen, um dem Aufkeimenden die Ackerkruste brechen zu helfen. Der
Jugendlich-Ungefestigte ist der erste, der an seiner Unzulänglichkleit
verzweifelt. Der feine Instinkt Boscos griff hier der modernen
Jugendpsychologie weit vor. Wer hatte damals Delikatesse in
erzieherischen Dingen? Wohl verlangte Pestalozzi eine Anpassung des
Bildungsstoffes an die Struktur des kindlichen Gemütes, aber von
individual-psychologischer Bemühung war bei ihm noch nicht die Rede.
Gewiß hat uns auch Bosco keine solche Psychologie hinterlassen, und
seine Einteilung der Jugendlichen nach: indole buona, ordinaria,
difficile und cattiva, darf sicher nicht als solche angesprochen
werden. Daß aber seine Intuition tief war wie nur je bei einem ganz
Großen, das zeigt blitzartig ein Satz, den er, nichts weiteres ahnend,
aus der beständigen, wachen Beobachtung und Belauschung des Lebens
heraus geschrieben hat, ein Satz, dessen Modernität uns verblüfft: »In
ogni giovane anche il più disgraziato vi è un punto accessibile al
bene, e primo dovere dell'educatore è di cercare questo punto, questa
corda sensibile del cuore, e trarne profitto«. ("In jedem jungen
Menschen, auch im unartigsten, gibt es einen Punkt, wo er dem Guten
zugänglich ist, und die erste Pflicht des Erziehers ist es, diesen
Punkt, diese empfängliche Seite des Herzens, zu suchen und sie zu
nutzen.")
(aus: Dilger, Franz: "Giovanni Bosco", Olten 1946, S. 143-146:
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