Schließlich werfen sie der
Philosophie unserer Gelehrtenschulen noch dies als Mangel vor, daß sie
im Erkenntnisvorgang nur den Verstand berücksichtige, die Tätigkeit des
Willens aber und der Gemütsbewegungen vernachlässige. Dies entspricht
nicht der Wahrheit. Denn niemals hat die christliche Philosophie den
Nutzen und die Wirksamkeit geleugnet, welche die gute Ordnung der
gesamten Seelenkräfte für die volle Erkenntnis und Erfassung der
religiösen und sittlichen Wahrheiten hat. Vielmehr hat sie immer
gelehrt, daß das Schwinden einer solchen Ordnung der Grund dafür sein
kann, warum der Verstand unter dem Einfluß der Leidenschaften und des
bösen Willens so sehr verdunkelt werden kann, daß er nicht mehr richtig
sieht.
Mehr noch, der „Doctor communis“ hält dafür, daß der Verstand auf
irgendeine Weise die höheren Güter, sei es der natürlichen oder der
übernatürlichen, des Bereiches der sittlichen Ordnung erfassen könne,
insofern er in der Seele eine gewisse affektive „Gemeinschaft im Wesen“
9) mit diesen Gütern erfährt, sei dieselbe von Natur aus, oder sei sie
durch eine geschenkte Gnade hinzugefügt 10). Es versteht sich, wie sehr
ein derartiges, wenn auch nur etwas dunkles Erkennen für die
forschenden Bemühungen der Vernunft eine Hilfe sein kann. Dies
bedeutet, dem Bereich der Stimmungen des Willens die Kraft
zuzuerkennen, der Vernunft zu helfen, eine sicherere und festere
Erkenntnis der sittlichen Dinge zu erlangen. Etwas ganz anderes
bedeutet es aber, was diese „Neuerer“ dringend fordern: daß nämlich den
Fähigkeiten des verlangenden Suchens und des begehrenden Strebens eine
gewisse intuitive Kraft zuzuerkennen sei; und daß der Mensch, wo er
durch Betätigung der Vernunft nicht mit Sicherheit erkennen kann, was
für wahr zu halten ist, sich zum Willen hinneigen solle, mittels dessen
er unter entgegengesetzten Meinungen durch einen freien Entschluß
selbst eine Wahl treffen könne. Hierbei werden die Erkenntnis und die
Tätigkeit des Willens in ein ungeordnetes Durcheinander gebracht.
Es ist nicht verwunderlich, daß diese neuen Ansichten zwei
philosophische Fächer in Gefahr bringen, die ihrer Natur nach sehr eng
mit der Glaubenslehre verbunden sind: nämlich die „Theodizee“ und die
„Ethik“. Die Gegner sind der Ansicht, daß es nicht die Aufgabe dieser
beiden Fächer sei, irgendetwas Sicheres über Gott oder ein anderes
transzendentes Wesen wissenschaftlich zu beweisen, sondern vielmehr zu
zeigen, wie dasjenige, was der Glaube über den persönlichen Gott und
Seine Gebote lehrt, vollkommen mit den Bedürfnissen des Lebens
zusammenhängt, und wie es daher von allen anzunehmen sei, um vor der
Verzweiflung zu bewahren und das ewige Heil zu erreichen. Dies alles
steht in offenem Widerspruch mit den Entscheidungen Unserer Vorgänger
Leo XIII. und Pius X. Ebenso ist es auch unvereinbar mit den Dekreten
des Vatikanischen Konzils. Es gäbe keine Veran-lassung, solche
Abirrungen von der Wahrheit betrauern zu müssen, wenn alle, auch auf
dem Gebiet der Philosophie, ihren Sinn mit der gebührenden Ehrfurcht
auf das Lehramt der Kirche richten würden. Gemäß göttlicher Einrichtung
ist es dessen Aufgabe nicht nur, den Schatz der von Gott geoffenbarten
Wahrheit zu bewahren und zu erklären, sondern auch über die
philosophischen Fächer zu wachen, damit die katholischen Glaubenlehren
durch unrichtige Grundsätze und Meinungen keinerlei Schaden leiden.
IV.
Es verbleibt Uns jetzt noch, zu den Fragen Stellung zu nehmen, die,
wenn sie sich auch auf die sogenannten positiven Wissenschaften
beziehen, dennoch mehr oder weniger mit den Wahrheiten des christlichen
Glaubens zusammenhängen. Nicht wenige stellen ja dringend die
Forderung, die katholische Religion möge diese „wissenschaftlichen“
Fachgebiete möglichst stark berücksichtigen. Das ist in der Tat
lobenswert, wo es sich um wirklich bewiesene Tatsachen handelt; es ist
jedoch mit Vorsicht aufzunehmen, wo es sich mehr um die Frage von
Hypothesen handelt, auch wenn sie irgendwie auf irdischer Wissenschaft
beruhen, durch welche die in der Heiligen Schrift oder in der Tradition
enthaltene Glaubenslehre berührt wird. Wenn solche von Vermutungen
ausgehenden Meinungen direkt oder indirekt gegen die von Gott
geoffenbarte Glaubenslehre sind, dann kann eine derartige Forderung in
keiner Weise zugelassen werden.
Deshalb verbietet es das Lehramt der Kirche nicht, daß die Theorie des
Evolutionismus, insoweit da Forschungen angestellt werden über die
Herkunft des menschlichen Leibes aus einer bereits bestehenden,
lebenden Materie – während ja der katholische Glaube uns verpflichtet,
daran festzuhalten, daß die Seelen unmittelbar von Gott geschaffen sind
– gemäß dem augenblicklichen Stand der welt-lichen Wissenschaften und
der heiligen Theologie, Gegenstand von Untersuchungen und Besprechungen
gelehrter Fachleute auf beiden Gebieten sei. Und zwar sollen die
Begründungen für beide Ansichten, also der begünstigenden und auch der
ablehnenden, mit gebührendem Ernst, besonnen und maßvoll abgewogen und
beurteilt werden; unter der Voraussetzung, daß alle bereit sind, dem
Urteil der Kirche Folge zu leisten, welcher von Christus das Amt
anvertraut worden ist, sowohl die Heilige Schrift authentisch zu
erklären, als auch die Dogmen des Glaubens zu schützen 11).
Einige überschreiten nun in unbesonnener Verwegenheit diese Freiheit
der Erörterung, indem sie so tun, als sei sozusagen der Ursprung des
menschlichen Leibes aus einer bereits bestehenden und lebenden Materie
durch bis jetzt gefundene Indizien und durch Schlußfolgerungen aus
diesen Indizien bereits mit vollständiger Sicherheit bewiesen; und
angeblich liege aus den Quellen der göttlichen Offenbarung kein Grund
vor, welcher auf diesem Gebiet die allergrößte Mäßigung und Vorsicht
verlangen würde.
Wenn es sich jedoch um eine andere auf Mutmaßung beruhende Meinung
handelt, nämlich den sogenannten „Polygenismus“, so genießen die Söhne
der Kirche keineswegs eine derartige Freiheit. Denn die Christgläubigen
können sich nicht einer Meinung anschließen, deren Anhänger entweder
behaupten, daß es entweder nach Adam hier auf Erden wirkliche Menschen
gegeben habe, welche nicht von ihm, als dem Stammvater aller, auf dem
Weg der natürlichen Zeugung abstammen; oder aber, daß „Mann“ eine Menge
von Stammvätern bezeichne. Denn es wird auf keine Weise klar, wie eine
derartige Ansicht in Übereinstimmung gebracht werden könnte mit dem,
was die Quellen der geoffenbarten Wahrheit und die Akten des Lehramtes
der Kirche über die »Erbsünde« sagen: daß dieselbe aus der wirklich
begangenen Sünde des einen Adam hervorgeht, und daß sie durch die
Geburt auf alle überging, und jedem einzelnen innewohnt und zu eigen
ist 12).
V.
Wie in den biologischen und anthropologischen Fachgebieten, so
überschreiten auch in den historischen einige verwegen die von der
Kirche festgelegten Grenzen und Vorsichtsmaßregeln. Besonders
beklagenswert ist eine gewisse allzu freie Art und Weise in der
Auslegung der geschichtlichen Bücher des Alten Testamentes. Um ihre
Gründe zu verteidigen, berufen sich deren Begünstiger zu Unrecht auf
ein Schreiben, das vor nicht langer Zeit von der Päpstlichen
Bibelkommission an den Erzbischof von Paris gerichtet wurde 13). Dieses
Schreiben mahnt nämlich ausdrücklich, daß die ersten elf Kapitel der
Genesis – wenn sie auch eigentlich nicht derjenigen Art und Weise der
Geschichtsschreibung entsprechen, wie sie von den hervorragendsten
griechischen und lateinischen Schriftstellern, und auch von den
Fachgelehrten unseres Zeitalters angewendet wurde – nichtsdestoweniger
in einem ganz wahren Sinn, der von den Exegeten noch weiter zu
erforschen und zu erklären ist, zur Gattung der geschichtlichen
Darstellung gehören. Die gleichen Kapitel, so heißt es weiter,
berichten in einer einfachen und bildhaften, der Denkart eines wenig
gebildeten Volkes angepaßten Sprache einerseits die Hauptwahrheiten,
die für die Erlangung unseres Heiles von grundlegender Bedeutung sind;
andererseits geben sie aber auch einen volkstümlichen Bericht vom
Ursprung des Menschengeschlechtes und des auserwählten Volkes.
Wenn auch die alten inspirierten Verfasser der Heiligen Schrift einiges
aus den volkstümlichen Erzählungen entnommen haben – was unstreitig
zugegeben werden kann –, so darf man doch nie vergessen, daß sie es
unter dem Anhauch der göttlichen Inspiration taten, durch den sie bei
Auswahl und Entscheidung betreffs jener Urkunden vor allem Irrtum von
vornherein bewahrt wurden. Es können auch die in der Heiligen Schrift
aufgenommenen volkstümlichen Erzählungen in keiner Weise mit
Mythologien oder ähnlichem auf die gleiche Stufe gestellt werden, da
letztere mehr aus einer ausschweifenden Einbildungskraft als aus einem
Streben nach Wahrheit und Einfachheit hervorgehen, welches in den
Büchern des Alten Testamentes so sehr in die Augen fällt. Darum muß
auch von unseren inspirierten Verfassern gesagt werden, daß sie alle
antiken Profanschriftsteller offenkundig übertreffen.
Wir wissen nun freilich, daß die meisten katholischen Lehrer, welche
die Früchte ihrer Studien den Universitäten, den Priesterseminarien und
den Kollegien der Ordensleute zukommen lassen, weit von diesen
Irrtümern entfernt sind, die heute – sei es aus der Begierde nach
Neuigkeit, sei es aus einem gewissen übertriebenen Eifer des
Apostolates heraus – offen oder verborgen unter die Leute gebracht
werden. Wir wissen aber auch, daß derlei neue Auffassungen die
Unvorsichtigen anzulokken vermögen. Und darum wollen Wir ihnen lieber
gleich beim Beginn entgegentreten, als dann erst das Heilmittel
darreichen, wenn sich die Krankheit bereits fest eingenistet hat. Um
daher Unserer heiligen Amtspflicht nicht mangelhaft nachzukommen,
befehlen Wir, nach reiflicher Abwägung und Überlegung der Angelegenheit
vor dem Herrn, den Bischöfen und Oberen der Ordensgemeinschaften unter
schwerster Verpflichtung für ihr Gewissen, mit allergrößtem Eifer dafür
zu sorgen, daß in den Gelehrtenschulen, bei Zusammenkünften und in
Schriften irgendwelcher Art solcherlei Ansichten weder vorgebracht,
noch auch an die Kleriker oder an die Christgläubigen auf irgendwelche
Art und Weise weitergegeben werden.
Alle, die in kirchlichen Einrichtungen lehren, sollen wissen, daß sie
die ihnen anvertraute Aufgabe des Lehrens nicht ruhigen Gewissens
ausüben können, wenn sie die von Uns erlassenen Normen der
Glaubenslehre nicht heilig annehmen und beim Unterricht der
Auszubildenden genauestens befolgen. Diese schuldige Ehrfurcht und
diesen Gehorsam, die sie fortwährend bei ihrer angestrengten Tätigkeit
dem Lehramt der Kirche entgegenbringen müssen, sollen sie auch dem
Verstand und und den Seelen der Auszubildenden einflößen.
Schluß
Mit aller Kraft und Anstrengung mögen sie ihre Lehrfächer gedeihen
lassen; aber sie sollen sich auch davor hüten, die von Uns zum Schutz
der Wahrheit des Glaubens und der katholischen Lehre bestimmten Grenzen
zu überschreiten. Auf die neuen Fragen, wie sie die heutige Kultur und
der Fortschritt des Zeitalters in den Mittelpunkt stellt, sollen sie
sehr genau ihre Aufmerksamkeit richten: jedoch mit der gebotenen
Klugheit und Vorsicht. Schließlich sollen sie nicht, einem falschen
„Irenismus“ huldigend, meinen, die Getrennten und Irrenden könnten
glücklich zum Schoß der Kirche zurückgeführt werden, wenn man nicht
allen aufrichtig die ganze unverkürzte in der Kirche blühende Wahrheit,
ohne jegliche Entstellung und jeden Abstrich, vorträgt und anvertraut.
Auf diese Hoffnung gestützt, die durch Eure Hirtensorge wächst,
erteilen Wir als Vorzeichen himmlischer Gaben und als den Beweis
Unseres väterlichen Wohlwollens Euch allen einzeln, Ehrwürdige Brüder,
wie auch Eurem Klerus und Volk sehr liebevoll den Apostolischen Segen.
Gegeben zu Rom bei St. Peter am am 12. August des Jahres 1950, im zwölften Jahr Unseres Pontifikats.
Pius PP. XII.
Anmerkungen:
1) Übersetzung nach der Fassung des Wiener Diözesanblatts
2) Vaticanum I, Const. de fide cath., cap. 2, de relevatione.
3) CJC 1917 can. 1324.
4) Lc 10,16.
5) Pius IX., Inter gravissimas, vom 28.10.1870.
6) Vaticanum I, Const. de fide cath., cap. 1, de Deo rerum omnium creatore.
7) Mystici Corporis vom 29. Juni 1943.
8) CJC 1917 can. 1366,2.
9) „Connaturalitas“.
10) Thomas von Aquin, S.th.II-II,q.1,a.4 ad 3 sowie q.45, a.2 8 in corp.
11) Ansprache Pius' XII. an die Mitglieder der Akad. d. Wissenschaften vom 30.11.1941, AAS XXXIII, p.506.
12) Röm 5,12-19; Konzil von Trient, V. Sitzung, can. 1-4.
13) Schreiben vom 16. Januar 1948.
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