Vom Sinn und Zweck der Ehe
von
Papst Pius XII.
DIE WERTE DER PERSÖNLICHKEIT und die Notwendigkeit sie zu achten, das
ist ein Thema, das seit zwei Jahrzehnten die Schriftsteller immer mehr
beschäftigt. In vielen dieser Arbeiten hat auch der Geschlechtsakt
seinen festen Platz; man will ihn der Persönlichkeit der Ehegatten
dienstbar machen. Der eigentlichste und tiefste Sinn der Ausübung des
ehelichen Rechts soll nach ihnen darin bestehen, daß die körperliche
Vereinigung Ausdruck und Verwirklichung der persönlichen
Liebesverbindung ist.
Zeitungsartikel, Abhandlungen und ganze Bücher, Vorträge, besonders
auch über die "Technik der Liebe", werden aufgeboten, um diese Ideen zu
verbreiten, sie mit Ratschlägen für die Neuvermählten zu erläutern,
damit diese nicht aus Torheit, aus falsch verstandener Scham oder
unbegründeter Ängstlichkeit das vernachlässigen, was Gott, der auch die
natürlichen Triebe geschaffen hat, ihnen schenkt. Wenn aus dieser
gänzlichen Hingabe der Gatten gegeneinander ein neues Leben erwächst,
so ist dies ein Ergebnis, das außerhalb oder höchstens am Rande der
"Persönlichkeitswerte" liegt, ein Ergebnis, das man nicht leugnet, von
dem man aber nicht möchte, daß es gleichsam im Mittelpunkt der
ehelichen Beziehungen stehe.
Wenn diese einseitige Bewertung nichts weiter bewirken würde, als daß
man den Akzent eher auf den Persönlichkeitswert der Ehegatten als auf
den der Nachkommenschaft legt, so könnte man den ganzen Fragenkomplex
vielleicht beiseite lassen. Tatsächlich aber handelt es sich hier um
eine schwerwiegende Verkehrung der Wertordnung und der Zwecke, die der
Schöpfer selbst gesetzt hat. Wir stehen der Propagierung eines
Komplexes von Vorstellungen und Gefühlen gegenüber, die der Klarheit,
der Tiefe und dem Ernst des christlichen Gedankens geradezu
entgegengesetzt ist.
Die Wahrheit ist, daß die Ehe als natürliche Einrichtung nach dem
Willen des Schöpfers nicht die persönliche Vollendung der Gatten zum
ersten und innersten Zweck hat, sondern die Zeugung und Heranbildung
neuen Lebens. Die anderen Zwecke, wie sehr auch sie von der Natur
beabsichtigt sind, sind nicht von demselben Wertrang wie der erste, und
noch weniger stehen sie über ihm, sondern sie sind ihm wesentlich
untergeordnet. Das gilt für jede Ehe, auch die unfruchtbare - so wie
man von jedem Auge sagen kann, es sei bestimmt und gebildet zu sehen,
auch wenn es in Ausnahmefällen infolge besonderer innerer oder äußerer
Umstände niemals imstande sein wird, zur Wahrnehmung des Sehens zu
führen.
Gerade um alle Unsicherheiten und Abweichungen zu beheben, die Irrtümer
über die Rangordnung der Zwecke in der Ehe und ihre gegenseitigen
Beziehungen zu verbreiten drohten, veröffentlichten Wir selbst vor
einigen Jahren (l0. März I944) eine Erklärung über die Ordnung jener
Zwecke, wobei Wir auf das hinwiesen, was schon die innere Struktur der
natürlichen Anlage erkennen läßt, so daß das Erbe der christlichen
Überlieferung ist, wie es die Päpste wiederholt gelehrt haben und was
dann in entsprechender Form im kanonischen Recht niedergelegt worden
ist. Um die widerstreitenden Meinungen richtigzustellen, hat sogar der
Heilige Stuhl kurz danach in einem öffentlichen Erlaß kundgetan, daß
die Ansicht einiger neuerer Autoren nicht gebilligt werden könne, die
da leugnen, daß der Hauptzweck der Ehe die Zeugung und Erziehung der
Nachkommen sei, die hingegen lehren, daß die sekundären Zwecke ihrem
Wesen nach dem ersten nicht untergeordnet, sondern gleichzuachten und
von ihm unabhängig seien.
Soll damit etwa geleugnet oder herabgesetzt werden, wieviel Gutes und
Rechtes in den Persönlichkeitswerten liegt, die aus der Ehe und ihrer
Verwirklichung hervorgehen? Gewiß nicht, da der Schöpfer in der Ehe
menschliche Wesen aus Fleisch und Blut, mit Geist und Herz begabt, zur
Zeugung neuen Lebens bestimmt hat. Und sie sind berufen, gerade als
Menschen und nicht wie vernunftlose Wesen, Urheber ihrer
Nachkommenschaft zu sein. Deswegen will der Herr die Vereinigung der
Ehegatten. In der Tat sagt die Heilige Schrift, Gott habe den Menschen
nach seinem Ebenbild geschaffen und er habe ihn als Mann und Frau
geschaffen, und er habe gewollt - daß "der Mann Vater und Mutter
verlasse und sich mit seinem Weibe vereine, auf daß sie ein Fleisch
seien".
Dies alles ist also von Gott gewollt; aber es darf nicht von der
wichtigsten Aufgabe der Ehe getrennt werden, nämlich dem Dienst am
neuen Leben. Nicht nur das gemeinsame Werk des äußeren Lebens, sondern
auch die ganze persönliche Vervollkommnung, selbst die geistige und
seelische, sogar das, was an tiefsten seelischen Werten in der
ehelichen Liebe als solcher liegt, ist durch den Willen der Natur und
des Schöpfers in den Dienst der Nachkommen gestellt worden. Seiner
Natur nach bedeutet das vollkommene Eheleben die gänzliche Hingabe der
Eltern zum Wohl der Kinder, und die eheliche Liebe in ihrer Kraft und
Zartheit ist selber eine Forderung der Sorge um die Nachkommenschaft
und die Gewähr ihrer Verwirklichung.
Der eheliche Akt
Das Zusammenleben der Ehegatten und den ehelichen Akt auf eine bloße
organische Funktion zur Übertragung der Keimzellen zu rückzuführen,
wäre genau so, als wollte man den häuslichen Herd, das Heiligtum der
Familie, in ein einfaches biologisches Laboratorium verwandeln. Daher
haben Wir in Unserer Ansprache vom 29. September 1949 an den
Internationalen Kongreß katholischer Ärzte die künstliche Befruchtung
ausdrücklich aus des Ehe gebannt. Der eheliche Akt ist seiner
natürlichen Struktur nach eine persönliche Handlung, ein gleichzeitiges
und unmittelbares Zusammenwirken der Gatten. Er ist, eben aus der Natur
der wirkenden Personen und der Eigenart des Aktes, Ausdruck der
gegenseitigen Hingabe, die, nach dem Wort der Schrift, die Vereinigung
"in einem Fleisch" verwirklicht.
Das ist viel mehr als die Vereinigung zweier Keime, die auch künstlich
bewirkt werden kann, das heißt ohne das naturgemäße persönliche Handeln
der Ehegatten. Der eheliche Akt, von der Natur geordnet und gewollt,
ist ein persönliches Zusammenwirken, zu dem sich die Ehegatten, wenn
sie die Ehe schließen, gegenseitig das Recht erteilen.
Wenn aber diese Leistung von Anfang an und für immer in ihrer
natürlichen Form unmöglich ist, so ist der Gegenstand des Ehevertrages
mit einem wesentlichen Fehler behaftet. Das ist es, was Wir damals
sagten: "Man vergesse nicht: Nur die Zeugung eines neuen Lebens nach
dem Willen und Plan des Schöpfers bringt, in einem staunenswerten Grad
der Vollendung, die Verwirklichung der beabsichtigten Zwecke mit sich.
Sie entspricht zu gleicher Zeit der körperlichen und geistigen Natur
und der Würde der Ehegatten, wie der normalen und glücklichen
Entwicklung des Kindes."
Die persönlichen Werte des Ehelebens, sowohl im körperlich sinnlichen
Bereich als auch im geistigen, sind wirklich echt, aber sie sind vom
Schöpfer in der Rangordnung der Werte nicht an die erste, sondern an
die zweite Stelle gesetzt worden. - Wir möchten als dann auch noch eine
andere Erwägung vorlegen, die in Vergessenheit zu geraten droht: Alle
diese sekundären Werte des geschlechtlichen Bereichs und seiner
Betätigung fallen mit unter die eigentliche Aufgabe der Ehegatten, die
Aufgabe nämlich, Urheber und Erzieher des neuen Lebens zu sein. Eine
hohe und edle Aufgabe! Sie gehört jedoch nicht zum Wesen des
vollkommenen Menschen, so, als ob, wenn der natürliche
Fortpflanzungstrieb sich nicht verwirklichen kann, in einem gewissen
Sinn und Grad eine Verminderung der menschlichen Person vorläge. Der
Verzicht auf diese Verwirklichung ist nicht - besonders wenn er aus
edlen Motiven geschieht - eine Verstümmelung der persönlichen und
geistigen Werte. Von diesem freien Verzicht aus Liebe zum Reich Gottes
hat der Herr selbst gesagt: Non omnes capiunt verbum istud, sed quibus
datum est - Nicht alle verstehen dieses Wort, sondern nur die, denen es
gegeben ist (Mt. 19,11).
Wenn man, wie es heute nicht selten geschieht, die Zeugungsfunktion,
auch in der rechten und ethisch erlaubten Form des ehelichen Lebens,
übermäßig verherrlicht, so ist das nicht nur ein Irrtum und eine
Verirrung; es birgt auch die Gefahr einer Entgleisung von Geist und
Gemüt in sich, die geeignet ist, gute und edle Gefühle zu ersticken.
Dies besonders in der noch unerfahrenen Jugend, die die Enttäuschungen
des Lebens nicht kennt. Und welcher normale, an Leib und Seele gesunde
Mensch möchte zur Zahl der geistig und charakterlich Schwachen gehören?
Der Geschlechtstrieb
Diese Unsere Darlegung wäre jedoch unvollständig, wenn Wir darüber
hinaus nicht ein kurzes Wort zur Verteidigung der menschlichen Würde im
Gebrauch des Geschlechtstriebs hinzufügten. Derselbe Schöpfer, der in
seiner Güte und Weisheit zur Erhaltung und Vermehrung des
Menschengeschlechts sich des Wirkens von Mann und Frau in der ehelichen
Vereinigung bedient, hat auch ge wollt, daß die Ehegatten bei diesem
Tun in Körper und Geist eine Lust und ein Glücksgefühl verspüren. Wenn
also die Ehegatten diese Lust suchen und genießen, so tun sie nichts
Böses; sie nehmen an, was ihnen der Schöpfer bestimmt hat.
Nichtsdestoweniger müssen die Ehegatten auch hier in den Grenzen des
rechten Maßhaltens bleiben. Wie beim Genuß von Speisen und Getränken
dürfen sie sich auch beim Geschlechtsgenuß nicht zügellos dem Antrieb
der Sinne hingeben. Die rechte Norm ist daher diese: Der Gebrauch der
natürli-chen Geschlechtsanlage ist sittlich erlaubt nur in der Ehe, im
Dienste der Ehe und zweckordnungsgemäß. Daraus folgt, daß das Begehren
und der Genuß dieser Lust und ihrer Befriedigung auch nur in der Ehe
und bei Beachtung dieser Regel erlaubt sind. So untersteht der Genuß
dem Gesetz der Handlung, aus der er sich ableitet, und nicht umgekehrt
die Handlung dem Gesetz des Genusses. Und dieses so sinnvolle Gesetz
betrifft nicht nur das Wesentliche, sondern auch die Umstände der
Handlung, dergestalt, daß man, selbst wenn die Substanz des Aktes
unverletzt bleibt, in der Art der Ausführung sündigen kann.
Die tatsächliche Überschreitung dieser Regel ist alt wie die Erbsünde.
Aber in unserer Zeit läuft man Gefahr, gerade das grundlegende Prinzip
selbst aus dem Auge zu verlieren. In der Tat pflegt man jetzt (und
sogar Katholiken tun das) in Wort und Schrift die notwendige
Eigengesetzlichkeit, den Selbstzweck und den Eigenwert des Bereiches
des Sinnlichen zu vertreten, unabhängig von dem Zweck der Zeugung neuen
Lebens. Man möchte sogar die von Gott gesetzte Ordnung einer neuen
Prüfung und einer neuen Norm unterwerfen. Man will für die Art der
Triebbefriedigung nur die Hemmung gelten lassen, die in der Einhaltung
des Wesens der Triebhandlung besteht. Damit würde man an die Stelle der
sittlichen Pflicht, die Leidenschaften zu beherrschen, die Freiheit
setzen, blind und zügellos den Launen und Antrieben der Natur zu
dienen, was früher oder später der Moral, dem Gewissen und der
menschlichen Würde zum Schaden gereichen muß.
Hätte es die Natur ausschließlich, oder wenigstens in erster Linie, auf
die gegenseitige Hingabe und das Einanderbesitzen der Ehegatten in
Freude und Genuß abgesehen, und hätte sie diesen Akt nur angeordnet, um
deren persönlicher Erfahrung den höchstmöglichen Grad von Glück zu
sichern, und nicht, um sie zum Dienst am Leben anzuspornen, dann hätte
der Schöpfer bei der Bildung und Verfassung des natürlichen Aktes einen
anderen Plan zugrunde gelegt. All dies ist jedoch dem einen großen
Gesetz der "Zeugung und Erziehung der Nachkommenschaft" untergeordnet,
das heißt der Erfüllung des Hauptzweckes der Ehe als des Ursprungs und
der Quelle des Lebens. Leider überschwemmen immer wieder Wellen von
Hedonismus die Welt und drohen das gesamte eheliche Leben in der
wachsenden Flut von Gedanken, Wünschen und Handlungen zu versenken,
nicht ohne ernste Gefahr und schweren Schaden für die wichtigste
Aufgabe der Ehegatten.
Allzuoft schämt man sich nicht einmal, diesen widerchristlichen Genuß
als Doktrin aufzustellen, indem man dem Verlangen nachgibt, den Genuß
bei Vorbereitung und Ausführung der ehelichen Vereinigung immer mehr zu
steigern; als ob in den ehelichen Beziehungen das ganze Sittengesetz
sich auf die richtige Ausführung des Aktes selbst beschränke und als ob
alles übrige, ganz gleich wie es getan werde, gerechtfertigt sei mit
dem Überströmen der gegenseitigen Zuneigung, geheiligt durch das
Sakrament der Ehe, lobes und lohneswürdig vor Gott und dem Gewissen. Um
die Würde des Menschen und die Würde des Christen, welche die
Ausschreitungen der Sinne zügelt, kümmert man sich nicht...
Manche möchten geltend machen, das Glück in der Ehe stehe in geradem
Verhältnis zu dem wechselseitigen Genuß in den ehelichen Beziehungen.
Nein! Das Glück in der Ehe steht vielmehr in geradem Verhältnis zu der
gegenseitigen Achtung der Ehegatten, auch in ihren vertraulichsten
Beziehungen - nicht daß sie etwa das, was die Natur ihnen bietet und
der Schöpfer ihnen geschenkt hat, für unsittlich halten und
zurückweisen, sondern weil diese Achtung und die gegenseitige
Hochschätzung eines der wirksamsten Elemente einer reinen, und darum um
so zarteren Liebe ist. Diese Unsere Lehre hat nichts mit Manichäismus
und Jansenismus zu tun, wie einige, um sich selbst zu rechtfertigen,
glauben machen wollen. Sie ist vielmehr eine Verteidigung der Ehre der
christlichen Ehe und der persönlichen Würde der Ehegatten. (Aus der
Ansprache an Neuvermählte, 9. Oktober 1951)
(zitiert nach: Chinigo, Michael: "Der Papst sagt - Lehren Pius' XII." Frankfurt a.M., 1955, S. 23-29)
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