Weihnachten im Lager
Am Heiligen Abend 1946 in Rußland. Im Lager der deutschen
Kriegsgefangenen ist es still geworden. Die meisten Häftlinge haben
sich auf ihre Pritsche gelegt und den schmutzigen Bergmannsanzug über
den Kopf gezogen. Todmüde von der schweren Arbeit im Kohlenbergwerk
versinken sie schnell ins Land der Träume - ihrer einzigen Brücke zur
Heimat, zu Eltern, Frauen und Kindern. Die Erinnerung ist das einzige
Paradies, aus dem sie nicht vertrieben werden können.
Ein paar Unermüdliche versuchen inmitten ihrer zermürbten Kameraden,
Weihnachten zu feiern. Eine Grubenlampe wirft ihr unruhiges Licht in
den Raum, in dem Menschen voller Sehnsucht täglich die Rückkehr in die
Heimat erhoffen. Da wird plötzlich die Türe aufgerissen. Das ganze
Lager antreten!", erschallt das gefürchtete Kommando.
Von den Wachtürmen suchen grelle Scheinwerfer die frierenden Gestalten
ab, die müde und matt in Reih und Glied stehen. Wache und
Lagerkommandant treten vor, in Mantel und Pelz gehüllt. Ein Dolmetscher
übersetzt die im Befehlston vorgetragenen Sätze:
"Kriegsgefangene! In Eurer deutschen Heimat wird heute von den
Reaktionären ein Fest gefeiert, das zwei Tage dauert. In der
Sowjetunion, dem Staat der Arbeiter und Bauern, hat man keine Zeit zum
Festefeiem. Da wird gearbeitet zum Wohl des Weltproletariats, damit der
Sieg der Revolution zum Untergang des Kapitalismus führt. Darum singt
jetzt, zum Zeichen Eurer Verbundenheit mit allen Werktätigen und der
glorreichen sozialistischen Oktoberrevolution, alle zusammen die
'Intemationale', das Lied der Arbeiterklasse!"
Schon beginnt der Dolmetscher: "Wacht auf, Verdammte dieser Erde..." -
Aber die Tausenden von Gefangenen schweigen; das Singen eines
marxistischen Kampfliedes erscheint ihnen wie Hohn inmitten dieser Welt
von Hunger, Kälte und kommunistischer Tyrannei. Im Hintergrund beginnt
jemand ein anderes Lied. Einige singen mit, erst zaghaft, dann aber
stimmen alle ein, voll und kräftig: "Stille Nacht, heilige Nacht..."
Die 1. Strophe ist beendet. Der Dolmetscher wiederholt gerade den
Schluß der "lnternationalen": "Völker, höret die Signale, auf, auf zum
letzten Gefecht; die Intemationale erkämpft das Menschen-recht." - Da
erklingt wie ein Trutzlied die andere Strophe der "Stillen Nacht" - und
die letzten Worte singen, nein rufen tausend Mann in die Dunkelheit,
ein Bekenntnis zum Herrn und Erlöser der Welt: "Christus, der Retter
ist da - Christus, der Retter ist da!" - Das begeisterte Singen dringt
durch den dreifachen Stacheldrahtzaun hinein in die endlose russische
Steppe und verkündet inmitten von Not und äußerem Elend das wahre
Licht, das alle Menschen erleuchtet...
Dann herrscht atemberaubende Stille. Der Kommandant richtet an den
Dolmetscher eine Frage und erhält die Antwort: "Das war die
'Intemationale' nach deutscher Melodie!" Den Kriegsgefangenen fällt ein
Stein vom Herzen. Erleichtert gehen sie zu ihren Pritschen zurück, im
Herzen das Bewußtsein, daß sie nicht allein sind - denn Gott geht alle
Wege mit! (aus KOMM MIT) |