Der vierte König
(nach einer alten russischen Legende)
Wenn sich die frühe Dämmerung der kurzen Wintertage über die Dächer
gelegt hatte und der Abend-stern funkelnd über dem dunklen Wald
aufgegangen war, dann fanden wir sieben Nachbarskinder uns um den
warmen Ofen des alten Hirten Nikolaus zusammen. Meist saß er schnitzend
bei seiner Lampe und beantwortete geduldig all die Fragen, mit denen
wir ihn bestürmten...
An den langen Abenden um das Fest der heiligen Dreikönige waren wir
immer besonders oft und gern bei ihm zu Gast. Der Zug der Könige mit
dem Stern, der reiche Glanz und die fremde Ferne, die verlassenen
Throne und die abenteuerliche Fahrt hatten es Nikolaus besonders
angetan.
"Ja, wisst ihr denn auch, dass eine alte Legende noch von einem vierten
König berichtet, der den Stern sah und sich auf den Weg machte? Wenn
ihr recht still und aufmerksam seid, will ich sie euch erzählen."
Aber das sagte Nikolaus wohl nur, weil ihm selbst sehr feierlich bei
dieser Geschichte ums Herz war. Wir Kinder saßen schon so still, dass
nur das Knistern im Ofen zu hören war. So begann er:
"Ja, nicht drei, sondern vier Könige waren einst aus dem Morgenlande
aufgebrochen, um den neugeborenen König und Heiland der Welt zu suchen
und anzubeten. Jeder hatte zum Geschenk das Köstlichste ausgewählt, was
sein Land besaß: leuchtendes Gold der eine, süßduftenden Weihrauch der
andere, herrliche Myrrhe der dritte. Der vierte und jüngste der Könige
aber hatte drei funkelnde Edelsteine von unschätzbarem Wert als seine
Gabe für das Königskind mitgenommen. Der Stern, der sie gerufen hatte,
zog ihnen voran. Rastlos folgten sie ihm durch Tage und Nächte, ohne
der Mühsal und Beschwerden, des Hungers und des Durstes zu achten. Es
konnten die Schönheiten nie gesehener Länder sie nicht fesseln, nicht
die Pracht stolzer Städte. Gebirge und drohende Wüste konnten ihren Weg
nicht hemmen. Sie suchten ja ihn, nach dem die Weisen ihres Volkes seit
tausend Jahren ausgeschaut hatten, den Gottkönig, den Erlöser.
Keinem aber brannte eine größere Sehnsucht im Herzen, das Gotteskind zu
schauen, als dem jüngsten der Könige. Er ritt als letzter in dem Zug
der Könige, ganz versunken in die Träume seiner Sehnsucht. Da - auf
einmal drang ein Schluchzen an sein Ohr, so bitterlich und
herzzerreißend, dass er aus allen Träumen aufgeschreckt wurde. Im Staub
des Straßenrandes sah er ein Knäblein liegen, hilflos, nackt und
blutend aus fünf roten Wunden. So seltsam fremd war dieses Kind, so
zart und hilflos, dass das Herz des jungen Königs mit heißem Erbarmen
erfüllt wurde. Behutsam hob er es auf sein Pferd. Langsamen Schrittes
ritt er zurück in das Dorf, durch das sie gerade erst gezogen waren.
Indes zogen die drei anderen Könige weiter. Sie waren dies alles nicht
einmal gewahr geworden. Unentwegt folgten sie dem Stern.
Im Dorf kannte niemand das Kind. Der König aber hatte es so lieb
gewonnen, dass er nicht ruhte, bis er eine gute Pflegemutter für das
Knäblein gefunden hatte. Und die Hilflosigkeit und die Armut, die
Verlassenheit und die Wunden des Kindes rührten ihn so, dass er einen
kostbaren Edelstein aus seinem Gürtel holte, damit mit seinem Wert das
Leben des Kindes gesichert sei.
Dann aber trieb es ihn fort, die Gefährten wiederzufinden und den
Stern, den er verloren hatte. Er fragte die Menschen um den Weg, den
der Zug der Könige genommen hatte, und - o Freude - eines Tages sah er
auch den Stern wieder und eilte ihm nach. Doch seltsam, so sehr ihm
auch das Herz brannte und die Sehnsucht ihn trieb, den Heiland zu
finden und anzubeten, die Not des hilflosen Kindes hatte ihn hellhörig
gemacht für alle Not.
Der Weg, den der Stern zeigte, führte den König durch eine Stadt. Ein
Leichenzug kam ihm entgegen. Hinter der Bahre schritt eine Mutter mit
ihren Kindern. Äußerste Trostlosigkeit sprach aus ihrem Gesicht. Voll
Verzweiflung klammerten sich die Kinder an ihre Mutter. Da hielt der
König an und stieg von seinem Pferd. Er hatte wohl gesehen, dass noch
etwas anderes diese Menschen bewegen musste als der Schmerz um den
Toten auf der Bahre. Und dann hörte er: den Gatten und Vater trugen sie
zu Grabe; vom Grabe weg aber sollte die Mutter von den Kindern, sollten
die Kinder von der Mutter gerissen und als Sklaven verkauft werden,
weil niemand für die hinterlassene Schuld aufkommen wollte. Von Mitleid
überwältigt, nahm der König den zweiten Edelstein aus seinem Gürtel.
Ein Blitzen und Leuchten schlug aus dem Stein, als die Sonne ihn traf,
dass alle Umstehenden betroffen waren. Dem neugeborenen König war er
als Gabe zugedacht. Doch mit einer raschen Bewegung legte der junge
König ihn in die Hand der trauernden Witwe mit den Worten: 'Bezahle,
was ihr schuldig seid, damit ihr und eure Kinder eine Heimat habt!'
Sprach's und ritt davon.
Doch so sehr er auch ausschaute, er konnte den Stern nicht mehr finden.
Tage- und wochenlang suchte und forschte er ihm nach. Aber alles blieb
vergeblich. Da befiel ihn eine große Traurigkeit. Seine Seele wurde von
Zweifeln gequält, ob er wohl seiner Berufung untreu geworden sei. Sein
Herz und sein Leib wurden verzehrt von der Angst, nie mehr Gott finden
zu dürfen. Da leuchtete eines Tages der Stern wieder vor ihm auf. Eine
Seligkeit ohnegleichen überkam ihn und mit frischer Kraft zog er
weiter.
Der Weg führte ihn nun durch ein fremdes Land, in dem der Krieg wütete.
Leid und Elend und Blut bedeckten die Erde und die Herzen. In einem
Dorf hatten Soldaten alle Männer des Ortes zusammen-getrieben. Sie
sollten eines grausamen Todes sterben. In den Hütten schrieen die
Frauen wahnsinnig vor Entsetzen, und die Kinder wimmerten vor Angst und
Hilflosigkeit. Da packte den König ein tiefes Grauen. Er hatte zwar nur
noch einen Stein - sollte er denn mit leeren Händen vor dem König der
Welt erscheinen? Doch dieses Elend war zu groß. Mit zitternden Händen
gab er den letzten der Steine, um mit ihm die Männer vom Tode
loszukaufen und das Dorf vor der Vernichtung zu bewahren.
Das Herz voll Trauer, von einer tiefen Müdigkeit überwältigt, ritt der
König weiter. Den Stern sah er nicht mehr leuchten. Seine Seele schien
schier im Leid versunken. Wo war nur sein Weg, den er zu gehen hatte?
Immer und immer wieder riss die Not der Menschen ihn von seinem Ziel
zurück. Jahrelang pilgerte er, zuletzt zu Fuß, da er auch sein Pferd
verschenkt hatte. Bettelarmm durchzog er die Lande, half dort einem
alten Weiblein die Last tragen, stellte sich schützend vor ein
bedrohtes Kind, pflegte Kranke und erbarmte sich eines Tieres, das von
Menschen gequält worden war. An keiner Not, an keinem Schmerz konnte er
vorübergehen.
Eines Tages begab es sich, dass er im Hafen einer großen Stadt gerade
dazu kam, wie ein Vater mit Gewalt von seiner weinenden Frau und seinen
unglücklichen Kindern gerissen wurde. Es war ein Sklave, der sich gegen
seinen grausamen Herrn aufgelehnt hatte. Dafür sollte er in Ketten als
Ruderknecht auf einer Galeere büßen. Der König stürzte hinzu und bat
für den Mann inständig und flehentlich. Als aber alle Worte nichts
nützten, da bot er sich selber an, die Strafe zu übernehmen. Mit seiner
eigenen Freiheit, mit seinem eigenen Leben kaufte er den Unglücklichen
los und stieg für ihn als Galeerensklave in das Schiff hinab. War es
nicht zu schwer, was er sich damit aufgeladen hatte? Sein ganzer
Königsstolz lehnte sich auf dagegen, dass er nun in Ketten geschmiedet
wurde. Alle Not hatte er gelitten, alle Mühsal und Beschwerden
erduldet, aber Schmach war ihm bis nun noch nicht angetan worden. Hier
saß er unter Verbrechern. Dumpf hallten die Schläge durch den
Schiffsraum, die unaufhörlich ohne Rast und ohne Ruhe den Takt des
Ruderns angaben. Angeschmiedet an die Ruderbank, bei Kampf und Sturm
dem sicheren Tode preisgegeben, hielt ihn die Galeere unentrinnbar
fest. Ein qualvolles Stöhnen entrang sich seiner Brust; unsinnig wollte
ihm scheinen, was er getan. In dieser gefährlichen Stunde, als sein
Geist sich empören und sein Herz sich verhärten wollte, da entzündete
sich in seiner Seele ein Licht. Der Stern, den er wohl nie mehr würde
am Himmel leuchten sehen, ging in seiner Seele auf. Dieses innere Licht
erfüllte ihn bald über und über und eine ruhige Gewissheit kam über
ihn, dennoch auf dem rechten Wege zu sein. Tief getröstet fasste er von
neuem die Ruder. Jahre um Jahre vergingen. Er vergaß darauf, sie zu
zählen. Sein Haar war grau geworden, seine Hände waren von Schwielen
bedeckt, müde war sein geschundener Leib. Doch sein Herz kannte keine
Bitterkeit. Das innere Leuchten seines Sterns hatte ihn davor bewahrt.
Aus seinem Antlitz strahlte liebendes Erbarmen.
Längst waren die anderen Sträflinge, waren aber auch die Herren des
Schiffes auf diesen seltsamen Sklaven aufmerksam geworden. Und was er
nie zu hoffen wagte, geschah: man schenkte ihm die Freiheit. Er konnte
das Schiff verlassen, frei stand er an der Küste eines fremden Landes.
Arme Fischer nahmen sich seiner an, taten ihm auch ihre Hütte auf für
die Nacht. Im Schlaf aber überkam ihn ein Traum. Er träumte von dem
Stern, dem nachzugehen er als Jüngling ausgezogen war, dessentwegen er
Heimat und Thron und allen Reichtum verlassen hatte. Und im Traum hörte
er eine Stimme, die ihn rief: 'Eile dich! Eile!' Da sprang er vom Lager
auf und machte sich noch zur selben Stunde auf den Weg. Als er aber in
die Nacht hineinschritt, o Wunder, da leuchtete der Stern wieder vor
ihm auf. Er leuchtete in seltsamem Glanz, rot wie die Sonne am Abend.
Seine Füße wurden leicht und trugen ihn eilends dahin.
Er kam an die Tore einer großen Stadt. Ihre Straßen waren erfüllt von
Gedränge und lärmendem Treiben. Wo sich Menschen zu aufgeregten Gruppen
zusammenballten, kamen Soldaten, um sie auseinanderzutreiben und zum
Weitergehen aufzufordern. Ein Strom von Menschen bewegte sich hinaus
aus der Stadt vor die Mauern. Der König wurde mitgerissen, ohne zu
wissen, wohin er gedrängt wurde. Eine tiefe Angst legte sich auf seine
Brust. Er kam einen Hügel hinan. Oben, zwischen Himmel und Erde, ragten
drei Kreuze auf. Gebannt blieb er stehen: dort oben leuchtete sein
Stern, blieb stehen über dem mittleren der Kreuze. Sein Stern, der ihn
zum König der Welt führen sollte! Noch einmal leuchtete er auf,
blutrot, als schrie er, dann war er erloschen.
Da traf ihn der Blick des Menschen, der da am Kreuze hing. Alles Leid,
alle Qual der Erde musste dieser Mensch gefühlt haben, so war dieser
Blick. Aber auch alles Erbarmen und eine grenzenlose Liebe. Seine
Hände, von Nägeln durchbohrt, waren schmerzlich eingekrümmt. Aus diesen
gemarterten Händen aber zuckten Strahlen. Wie ein Blitz durchbebte auf
einmal den König die Erkenntnis: Hier ist das Ziel, zu dem ich ein
Leben lang gepilgert bin. Dieser König der Menschen und Heiland der
Welt, nach dem ich mich in Sehnsucht verzehrt habe; der mir in allen
Mühseligen und Beladenen begegnet ist; dem ich in allen Gequälten und
Elenden schon gedient habe durch all die Jahre!
Der König sank unter dem Kreuz in die Knie. Er hob seine leeren Hände
dem Heiland entgegen voll bittenden Verlangens und anbetender
Huldigung. Da fielen drei Tropfen des kostbaren Blutes vom Kreuz des
Heilandes in die offenen Hände des Königs. Sie waren leuchtender als
drei Edelsteine. Ein Schrei durchbebte die Luft - der Herr neigte das
Haupt und verschied. Auch der König war tot unter dem Kreuze
zusammengebrochen. Sein Angesicht war noch im Tode dem Herrn zugewandt
und es war ein Leuchten darauf wie von einem strahlenden Stern."
(Aus: "Krone des Jahres", Paderborn, ohne Jahresangabe, S. 8ff., zitiert nach "Beiträge" Nr. 41/Dezember-Januar 2001/2002)
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