Auf den Höhen des Geistes
Gespräche eines russischen Mönches über das Jesus-Gebet
S. N. Bolsakov
übers. von P. Bonifaz Tittel OSB
Wien 1976
2. Fortsetzung:
3. Vater Tichon, Wilmuasson
Es war an einem warmen, sonnigen Frühlingstag, schon ganz gegen Ende
Mai, am Fest Christi Himmelfahrt, da setzte ich mich zu Vater Tichon
auf eine kleine Bank in den Garten. Der Flieder war fast schon
verblüht, an den Obstbäumen zeigten sich schon kleine Äpfelchen und
Birnen.
"Was für ein Segen!" bemerkte Vater Tichon. "Es wird schon warm. Man
muß leben und sich freuen. Wer das Jesus-Gebet verrichtet wie der
Pilger, in dessen Seele ist immer Frühling. Man soll sich an nichts
anklammern. Man soll auch nicht in der Vergangenheit oder in der
Zukunft leben. Man soll in der Gegenwart leben, für den heutigen Tag,
und für alles Gott danken. Und so geht alles vorüber. So hat einmal der
heilige Tichon von Sadonsk, mein Schutzpatron, geschrieben: 'Alles
läuft wie Wasser vorüber: Ich war ein Waisenkind, litt Not - es ging
vorüber. In der Schule war ich ein armes Kind, man hat mich verlacht -
es ging vorüber; das Seminar habe ich als Bester absolviert, ich wurde
Lehrer, ich war plötzlich geachtet - es ging vorüber; ich wurde
Archimandrit eines großen Klosters, Rektor des Seminars, ich war von
Schmeichlern umgeben - es ging vorüber; ich wurde Erzpriester, fuhr in
einer großen Kutsche, weilte bei Hof, sah viel Gutes und Schlechtes,
man kroch vor mir auf dem Bauch - es ging vorüber. Ich trat in den
Ruhestand, man ließ mich langsam fallen, es kamen die Krankheiten -
auch das ging vorüber, nun kommt das Alter, dann die ewige Ruhe.' So
ist unser Leben, Sergej Nikolaevic."
"Ich wurde in einer armen Familie geboren, ging in eine Dorfschule,
ging dann zur Garde, war bei Hof. Ich war dem Trinken verfallen wie Lev
Tolstoj - es ging vorüber. Es kamen Mißerfolge in der Akademie,
Heirat mit einer Geschiedenen, Intrigen, Übergabe ans Gericht, Leiden
über Leiden - es ging vorüber. Ich wurde sehr jung Oberst, aber ich
hatte schon das Interesse an der Karriere verloren. Ich hatte erkannt,
wie vergänglich und vorübergehend alles ist. Dann kam der Krieg,
Revolution, Bürgerkrieg, Emigration, schließlich eine schwere
Krankheit, an der ich fast starb; danach eine noch schlimmere und
unheilbare Krankheit der Frau, ihr Tod, schwere Arbeit als
Hilfsarbeiter - es ging vorüber. Alle diese Mühen und Leiden führten
mich zum Glauben und zum Mönchtum. Ich erlernte die Kunst des
immerwährenden Gebetes und nun freue ich mich über alles. Ohne die
Leiden und schlimmen Erfahrungen wäre ich nicht zum Glauben
gekommen."
"Vater Tichon", fragte ich den Mönch, "sagen Sie, wie kann man den
Frieden der Seele erwerben, wie unnütze Wünsche und Illusionen
vermeiden?"
"Wie ich gesagt habe: Leben Sie in der Gegenwart. Es hat jeder Tag
genug an seiner Plage. Aber nähern Sie sich mehr dem Gebet. Dann
eröffnet sich Ihnen eine neue, wunderbare Welt. Wie soll man es nur
ausdrücken? Kennen Sie den Nachtfalter? Uns erscheinen sie grau und
uninteressant, aber den anderen Faltern, deren Auge anders gebildet
ist, erscheinen sie auffallend schön, glänzend, wie in allen
Regenbogenfarben schillernd. So kommt denen, die neue Augen bekommen,
wie zum Beispiel der Pilger, die Welt ganz anders vor. In allem
erscheint die Herrlichkeit des Schöpfers und seine unerschöpfliche
Barmherzigkeit. Und wie man beginnt, vom Gebet nicht mehr abzulassen,
dann kommt plötzlich eine solche Freude, und es eröffnet sich eine
solche Einsicht in das Wesen der Dinge, daß man es nicht mehr
beschreiben kann. Das kann man nur mehr durch die eigene Erfah-rung
begreifen."
"Kann man dann nicht leicht dem Stolz verfallen?"
"Sogar sehr leicht. Aber man kann diesem Sturz ausweichen. Der
ehrwürdige Makarios der Große hat zu Recht gelehrt, daß man ohne alle
Tugenden gerettet werden kann, nur ohne Demut gibt es keine Rettung.
Der Zöllner und der einsichtige Räuber besaßen garnichts, gerettet
wurden sie allein durch die Demut. Satan hingegen besaß alles außer
Demut und er stürzte auf immer. Das Versenken in Gott und das
Nachsinnen über die großen Geheimnisse, die uns umgeben, sind sehr gut,
aber nur mit Demut und ohne andere zu verurteilen, ansonsten sind sie
eine große Gefahr. Die Häretiker waren talentierte Menschen, aber es
fehlte ihnen an Demut. Sie ergingen sich im Philosophieren,
widersetzten sich der Kirche und kamen um."
"Ich habe gelesen, Vater Tichon, daß die tibetanischen Mönche, die sich
in der Wiederholung des Mantra-Gebetes: 'Om mani padme hum' - das
heißt: 'Schatz in der Lotosblüte, ich grüße Dich'-, üben, stufenweise
zu einer großen Ruhe und Verzückung gelangen. Wenn sie eine bestimmte
Grenze erreicht haben, dann verkürzen sie schrittweise das Mantra und
schließlich, eines Nachts, wenn sie aus ihrer Höhle sehen und die
Herrlichkeit des bestirnten Himmels erblicken, dann rufen sie nur: 'O'
und werden starr vor Freude in der Betrachtung der geoffenbarten
Herrlichkeiten. Als man zum Beispiel Albert Einstein fragte, ob er
einen Glauben hätte, antwortete er: 'Ja, wenn man darunter das Staunen
vor der Weisheit und Größe versteht, die die Welt regieren.'
Irgendeinen dogmatisierten Glauben aber wollte er nicht anerkennen. Wie
denken Sie darüber, Vater Tichon?"
"Nicht an uns liegt es, zu beurteilen, was die tibetanischen Mönche
sehen oder wie Einstein die Gottheit versteht. Wir haben die Heilige
Schrift, die Sammlung 'Liebe zur Tugend' und die Erfahrung vieler
geistlicher Kämpfer. Wir werden das Jesus-Gebet in Demut und mit Geduld
tun und zu gegebener Zeit werden wir erkennen, was richtig ist, wenn
wir nicht schwach werden. Die Hauptsache aber, für die wir uns
anstrengen müssen - das ist die Liebe, die Liebe zur Wahrheit, das
heißt zu Gott und zum Nächsten. Gott ist die Liebe. Darin besteht der
Unterschied zwischen uns und den Asketen des Buddhismus und Hinduismus:
Bei ihnen ist die Hauptsache - das Wissen, das Böse kommt vom
Nichtwissen, bei uns hingegen ist die Hauptsache - die Liebe. Im
letzten Gericht wird man uns nicht fragen, wo, wie und wieviel wir
gebetet oder betrachtet haben, sondern, ob wir unse-rem Nächsten etwas
zu essen oder zu trinken gegeben haben, ihn angezogen oder besucht
haben. Danach werden wir verurteilt oder freigesprochen. Das heißt ja
nicht, daß wir uns nicht der Betrachtung hingeben können. Das ziemt
aber besonders dem Alter, wenn wir keine Kraft zu tätiger
Barmherzigkeit mehr haben oder auch denen, die der Herr berufen hat,
immer vor ihm zu stehen und ihm nahe zu sein. Aber auch die Einsiedler
dürfen sich nicht völlig absondern, sondern [müssen] mündlich oder
schriftlich antworten wie die geistlichen Väter, wenn man sie fragt.
Alle großen Einsiedler haben es so gehalten, sei es Antonius oder
Markarios oder andere. Alles muß man mit Liebenswürdigkeit und
Herzlichkeit tun.
(Das Buch kann bestellt werden im Verlag von Frau Dr. Herta Ranner, A-1070 Wien, Zeismannsbrunngasse 1)
|