Das Gebet
von
Papst Pius XII.
EINE HOHE TUGEND ist die Frömmigkeit, Hilfe jeder anderen Tugend, ihr
schönster und sprechendster Ausdruck aber ist das Gebet. Es ist für den
Menschen, der Geist und Leib ist, die tägliche Nahrung seines Geistes,
wie das tägliche Brot Speise seines Leibes ist...
Beten heißt vor allem, sich vor Gott sammeln. Um Gott zu suchen und ihn
zu finden, bedarf es nur, daß ihr in euch selbst Einkehr haltet, am
Morgen, am Abend, an irgendeinem Augenblick des Tages. Wenn ihr froh im
Stande der Gnade seid, werdet ihr im Innersten eures Gemütes mit den
Augen des Glaubens Gott immer gegenwärtig als unendlich gütigen Vater
erblicken, der bereit ist, eure Bitten aufzunehmen und euch zu sagen,
was er von euch erwartet. Habt ihr aber das Unglück, außerhalb der
Gnade zu leben, so geht aufrichtig in euch. Ihr werdet Gott finden als
barmherzigen, zum Verzeihen geneigten Richter, besser noch, als den
Vater des verlorenen Sohns, der die Arme und das Herz öffnen wird, wenn
ihr reumütig bekennt: "Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und
gegen dich." Wie viele Seelen haben sich vor Verstockung und Sünde
bewahrt, vor Herzensverhärtung und ewigem Verderben, allein durch die
kurze Gewissenserforschung am Abend, wie viele verdanken ihr ewiges
Heil dem täglichen Gebet!
Aufschwung der Seelen
Die Übung christlicher Frömmigkeit heißt nicht, das Haus in eine Kirche
oder einen Betsaal verwandeln; es ist einzig ein heiliger Aufschwung
der Seele, die in sich die Kraft und das Leben des Glaubens fühlt. Auch
im alten heidnischen Rom hatte die Wohnstätte der Familie Heiligtum und
Altar, der den Laren geweiht war. Er wurde besonders an Festtagen mit
Blumengirlanden geschmückt; an ihm wurden Gebete und Opfer dargebracht.
Es war ein Kult, der freilich durch den Irrtum der Viel-götterei
befleckt war; aber in Erinnerung an ihn müßten gar viele Christen
erröten, die mit dem Zeichen der Taufe auf der Stirn weder in ihren
Zimmern Platz finden, das Bild Christi darin aufzustellen, noch in den
vierundzwanzig Stunden ihres Tages Zeit finden, vor ihm ihre Familie im
Gebet zu versammeln.
Nichts hilft so sehr zu vertrauensvollem Gebet als die persönliche
Erfahrung wirksamer Gebete, auf die die Vorsehung liebevoll geantwortet
hat, indem sie voll und reich gewährte, um was gebetet worden
war.
Und doch scheint für manche, die beten, die göttliche Gnade allzu lange
zu zögern. Worum sie bitten, das scheint ihnen gut, nützlich notwendig,
und gut nicht nur für den Leib, sondern auch für ihre Seele wie auch
für die Seelen derer, die ihnen teuer sind. Sie beten mit Eifer Wochen,
Monate hindurch und haben noch nichts erreicht. Einer Mutter ist die
Gesundheit noch nicht gewährt worden, die sie braucht, um für die
Familie zu sorgen; ein Sohn, eine Tochter, deren Verhalten ihr ewiges
Heil in Gefahr bringt, sind noch nicht zu besserer Gesinnung
zurückgekehrt; materielle Bedrängnisse, in denen sich die Eltern
abquälen und mühen, um den Kindern ein Stück Brot zu verschaffen,
werden, anstatt zu verschwinden, noch härter und drohender. Die Kirche
vervielfacht in allen Völkern ihre Gebete, das Ende des unseligen
Krieges (gemeint: der Zweite Weltkrieg) zu erlangen, der auf der ganzen
menschlichen Familie lastet, und doch will sich der gerechte Friede
nicht nähern, der so dringlich gerufen, gewünscht, ersehnt wird und der
so notwendig erscheint für das Wohl aller und zumal zum Wohl der
Seelen.
Erfüllung
Unter der Last solcher Gedanken schauen viele überrascht auf die
heiligen Altäre, vor denen gebetet wird, und stoßen sich vielleicht
daran und sind verwirrt, wenn sie in der heiligen Liturgie unaufhörlich
das Versprechen des göttlichen Erlösers wiederholen hören: "Was immer
ihr im Gebet gläubig erbitten werdet, das werdet ihr erlangen." -
"Bittet und ihr werdet empfangen ... Wer immer bittet, empfängt." -
"Was immer ihr von dem Vater in meinem Namen erbittet, das werde ich
tun ... Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, was immer ihr vom Vater in
meinem Namen erbittet, das wird er euch gewähren." Könnten die
Verheißungen des Erlösers deutlicher, klarer, feierlicher sein? Werden
da nicht manche versucht sein, in ihnen fast einen bitteren Spott zu
sehen angesichts des Schweigens Gottes gegenüber ihren Bitten?
Aber Gott lügt nicht und kann nicht lügen; was er versprochen hat, wird er halten; was er gesagt hat, wird er tun.1)
Christus, der Herr, hat jedoch nirgends versprochen, uns auf dieser
Welt unter allen Umständen glücklich zu machen. Er hat uns versprochen
- so lesen wir im Evangelium - uns zu erhören wie der Vater seinen
Sohn, dem er, selbst wenn er darum bäte, nicht einen Stein, eine
Schlange oder einen Skorpion zur Speise geben wird, sondern Brot, Fisch
oder Ei, womit er sich nähren und wodurch er weiter leben und wachsen
wird. Was Jesus, unser Erlöser, uns als Frucht unserer Gebete sicher zu
gewähren versprochen hat, sind nicht die Gunstbezeigungen, die die
Menschen oft in Unkenntnis dessen erbitten, was ihrem Heil wirklich
zuträglich ist, sondern jener "gute Geist", jenes Brot der
übernatürlichen Gaben, die für unsere Seelen notwendig und voll Nutzen
sind, jener Fisch, den er bereitet hat und den der auferstandene
Heiland als sein künftiges Sinnbild an den Ufern des Sees von Tiberias
den Aposteln als Speise darbot; jenes Ei, Nahrung für die Kleinen in
der Andacht und Frömmigkeit, das die Menschen oft nicht unterscheiden
von den Steinen, die dem ewigen Heil so sehr schaden und die ihnen
Satan, der Versucher, anbietet...
Das Gebet erniedrigt nicht, sondern erhöht
Das Gebet soll also ein Bitten um das sein, was für unsere Seele gut
ist, ein inständiges Bitten darum, aber auch ein frommes Bitten.
Das fromme Gebet! Es ist nicht das Gebet des bloßen Klangs von Worten,
bei dem Geist und Herz und Auge umherschweifen, sondern ist gesammeltes
Beten, das vor Gott mit kindlichem Vertrauen beseelt, das erleuchtet
ist mit lebendigem Glauben, durchtränkt mit Liebe zu Gott, zu den
Brüdern und Schwestern. Es ist Gebet, das in der Gnade Gottes
verrichtet wird, immer verdienstvoll fürs ewige Leben, immer demütig
gerade in seinem Vertrauen; es ist Gebet, das, wenn ihr vor den Altären
oder dem Bild des Gekreuzigten und der Allerseligsten Jungfrau in eurem
Hause niederkniet, nicht den Hochmut des Pharisäers kennt, der sich für
besser hält als die anderen Menschen, sondern das euch, dem armen
Zöllner gleich, in eurem Herzen fühlen läßt, daß alles, was ihr
empfangen werdet, Barmherzigkeit Gottes gegen euch ist...
Das Gebet ist also ein Gut des Menschen; es verdemütigt und erniedrigt
nicht, es erhöht vielmehr und macht groß. Die besten Künstler, die
Meister der bildlichen Psychologie, haben nichts geschaffen, was das
Gemüt machtvoller ergreift als die Darstellung des Menschen im Gebet.
In jener Haltung des Betenden offenbart er seinen höchsten Adel, so daß
man treffend behauptet hat, daß "der Mensch nur groß ist, wenn er
kniet". 2)
Das Privatgebet
Manche sprechen auch unsern Gebeten alle wirkliche Kraft ab oder suchen
andern die Meinung beizubringen, die privaten Gebete hätten vor Gott
geringe Bedeutung; vielmehr komme den öffentlichen, im Namen der Kirche
verrichteten Gebeten der wahre Wert zu, weil sie vom mystischen Leibe
Jesu Christi ausgehen. Das ist durchaus nicht richtig. Der göttliche
Erlöser steht nicht nur in der engsten Lebensgemeinschaft mit seiner
Kirche als der vielgeliebten Braut, sondern in ihr ist er auch aufs
innigste vereint mit der Seele jedes einzelnen Gläubigen und sehnt sich
danach, vor allem nach der heiligen Kommunion, traute Zwiesprache mit
ihr zu führen. Obgleich das öffentliche Gebet, da es von der Mutter
Kirche selbst verrichtet wird, wegen der Würde der Braut Christi jedes
andere übertrifft, so entbehren doch auch alle andern, selbst die ganz
privaten Gebete, nicht der Würde und Kraft. Sie tragen sogar viel bei
zum Nutzen des ganzen mystischen Leibes. Denn in ihm wird kein gutes
Werk, kein Tugendakt von einzelnen Gliedern vollbracht, der nicht
infolge der Gemeinschaft der Heiligen auch der Gesamtheit zugute käme.
Es ist den einzelnen Menschen auch nicht verwehrt, deswegen, weil sie
Glieder dieses Leibes sind, besondere, auch rein zeitliche Gaben, für
sich selbst zu erbitten, wenn dabei nur die demütige Unterwerfung unter
den Willen Gottes gewahrt wird: sie bleiben ja selbständige Personen
und ihren persönlichen Bedürfnissen unterworfen. Welche Hoch-schätzung
endlich alle der Betrachtung himmlischerWahrheiten entgegenbringen
sollen, geht aus den amtlichen Äußerungen der Kirche sowie aus der
Übung und dem Vorbild aller Heiligen hervor.
An wen soll sich das Gebet richten?
Schließlich kann man auch der Auffassung begegnen, wir dürfen unsere
Gebete nicht unmittelbar an die Person Jesu Christi richten; sie müßten
sich vielmehr durch Christus an den Ewigen Vater wenden, da unser
Heiland als Haupt seines mystischen Leibes nur als "der Mittler
zwischen Gott und Menschen" angesehen werden dürfe. Aber eine solche
Behauptung widerspricht nicht nur dem Geist der Kirche und der
Gewohnheit der Gläubigen, sondern widerstreitet auch der Wahrheit.
Christus ist nämlich, um Uns ganz klar zu fassen, mit beiden Naturen
zugleich das Haupt der ganzen Kirche; und im übrigen hat er auch selbst
feierlich erklärt: "Wenn ihr mich um etwas in meinem Namen bitten
werdet, werde ich es tun" (Joh. 14, 14).
Zwar werden zumal beim heiligen Meßopfer, wo Christus zugleich
Opferpriester und Opferlamm ist und so in besonderer Weise das
Mittleramt ausübt, die Gebete meist durch den eingeborenen Sohn an den
Ewigen Vater gerichtet. Doch auch hier, selbst bei der heilgen
Opferhandlung, wendet sich nicht selten das Gebet auch an den
göttlichen Erlöser. Es sollte doch allen Christen bekannt und
selbstverständlich sein, daß der Mensch Jesus Christus zugleich Gottes
Sohn und Gott selbst ist. Und so antwortet gewissermaßen die streitende
Kirche, wenn sie das makellose Lamm und die konsekrierte Hostie anbetet
und anfleht, auf die Stimme der triumphierenden Kirche, die nicht
aufhört zu singen: "Dem, der auf dem Throne sitzt, und dem Lamme sei
Preis und Ehre und Herrlichkeit und Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit"
(Geh. Offbg. 5, 18). 3)
1) Aus der Ansprache an Neuvermählte, 2. Februar 1941 und 17. April 1942
1) Aus der Ansprache in der Allgemeinen Audienz, 2. Juli 1941
3) Aus der Enzyklika "Mystici Corpus Christi, 23. Juni 1943
(zitiert nach: Chinigo, Michael: "Der Papst sagt - Lehren Pius' XII." Frankfurt a.M., 1955, S. 221-225) |