Diese Worte des Jüngers, dem Jesus seine besondere Liebe schenkte,
geben Uns Anlaß, den letzten, besonders einleuchtenden Beweisgrund
dafür anzuführen, daß Christus der Herr das Haupt seines mystischen
Leibes zu nennen ist. Wie nämlich die Nerven vom Haupte in alle Glieder
unseres Leibes sich verteilen und ihnen die Fähigkeit verleihen, zu
fühlen und sich zu bewegen, so flößt unser Erlöser seiner Kirche die
Kraft und die Stärke ein, vermöge deren die Christgläubigen die
göttlichen Dinge klarer erkennen und eifriger erstreben. Von Ihm
strahlt in den Leib der Kirche alles Licht aus, wodurch die Gläubigen
übernatürliche Erleuchtung empfangen und jegliche Gnade, durch die sie
heilig werden, wie Er selber heilig ist.
Seine gesamte Kirche erleuchtet Christus; das kann fast aus unzähligen
Stellen der Heiligen Schrift und der heiligen Väter bewiesen werden.
"Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborene Sohn, der im Schoße des
Vaters ruht, der hat Kunde von ihm gebracht" (Ioann. 1, 18). Als Lehrer
von Gott kommend (Ioann. 3,2), um der Wahrheit Zeugnis zu geben (Ioann.
18,37), erleuchtete Er die junge Kirche der Apostel mit seinem Lichte
derart, daß der Apostelfürst ausrief: "Herr, zu wem sollen wir gehen?
Du hast Worte des ewigen Lebens" (Ioann. 6, 68.). Den Evangelisten
stand Er vom Himmel aus in der Weise bei, daß sie gleichsam als Glieder
Christi aufzeichneten, was sie sozusagen durch das Diktat des Hauptes
erkannten (August., De cons. evang., I,35, 54: Migne,P; L.XXXIV, 1070).
Und so ist Er auch heute noch für uns, die wir hier in der irdischen
Verbannung weilen, Begründer des Glaubens, wie Er in der Heimat dessen
Vollender (Hebr. 12, 2) ist. Er ist es, der den Gläubigen das Licht des
Glaubens eingießt; der die Hirten und Lehrer und besonders seinen
Stellvertreter auf Erden mit den übernatürlichen Gaben der Erkenntnis,
der Einsicht und Weisheit bereichert, damit sie den Schatz des Glaubens
getreu bewahren, mutig verteidigen, fromm und eifrig erklären und
sichern. Er ist es schließlich, der, wenn auch unsichtbar, die
Konzilien der Kirche leitet und erleuchtet (Cyr. Alex., Ep. 55 de
Symb.: Migne, P. G. LXXVII, 293).
Christus ist Begründer und Urheber der Heiligkeit. Denn es gibt keinen
heilbringenden Akt, der nicht aus Ihm als seiner übernatürlichen Quelle
sich herleitete. "Ohne Mich", sagt Er, "könnt ihr nichts tun" (Ioann.
15, 5.). Wenn wir ob begangener Schuld von Seelenschmerz und Reue
bewegt werden; wenn wir uns in kindlicher Furcht und Hoffnung zu Gott
bekehren, immer werden wir von seiner Kraft geführt. Gnade und Glorie
entspringen aus seiner unerschöpflichen Fülle. Besonders die
hervorragenderen Glieder seines mystischen Leibes beschenkt unser
Erlöser unaufhörlich mit den Gaben des Rates, der Stärke, der Furcht
und der Frömmigkeit, damit der gesamte Leib von Tag zu Tag mehr und
mehr zunehme an Heiligkeit und Reinheit des Lebens. Und wenn die
Sakramente der Kirche mit einem äußeren Ritus gespendet werden, dann
bringt Er selber die Wirkung in den Seelen hervor (S. Thom., III, q.
64, a. 3.2). Ebenso ist Er es, der die Erlösten mit seinem Fleische und
Blute nährt und die wirren, erregten Leidenschaften beruhigt. Er
vermehrt die Gnade und bereitet die Glorie für Seele und Leib. Diese
Schätze der göttlichen Güte erteilt Er den Gliedern seines mystischen
Leibes nicht bloß darum, weil Er sie als eucharistisches Opferlamm auf
Erden und als verklärtes im Himmel durch Hinweis auf seine Wunden und
mit innigem Flehen vom Ewigen Vater erbittet, son-dern auch darum, weil
Er für jeden Einzelnen jede einzelne Gnade "in dem Maße, in dem
Christus sie austeilt" (Eph. 4,7.), auswählt, bestimmt und zuwendet.
Daraus folgt, daß vom göttlichen Erlöser wie aus der Hauptkraftquelle
"der ganze Leib zusammengefügt und zusammengehalten wird mit Hilfe
aller Gelenke, die ihren Dienst verrichten nach der Tätigkeit, die
jedem Gliede zugewiesen ist. So vollzieht sich das Wachstum des Leibes,
und baut er sich auf in Liebe". (Eph. 4,16; Col. 2,19)
c) Christus der Erhalter des Leibes
Oben haben Wir, Ehrwürdige Brüder, kurz und klar dargelegt, wie
Christus der Herr seine reichen Gaben aus seiner göttlichen Fülle
heraus in die Kirche einströmen lassen will, damit sie Ihm möglichst
gleichgestaltet werde. Diese Erörterung dient gewiß auch der
Klarstellung des dritten Grundes, aus dem sich ergibt, weshalb der
gesellschaftliche Leib der Kirche den herrlichen Namen Christi trägt:
dieser Grund liegt darin, daß unser Erlöser selbst die von Ihm
gestiftete Kirche mit göttlicher Kraft erhält. Wie Bellarmin (De Rom.
Pont., I, 9; De Concil., II, 19.) fein und scharfsinnig bemerkt hat,
ist diese Benennung des Leibes Christi nicht bloß daraus zu erklären,
daß Christus das Haupt seines mystischen Leibes genannt werden muß,
sondern auch aus der Tatsache, daß Er derart Träger der Kirche ist und
in ihr gewissermaßen derart lebt, daß sie selbst gleichsam ein zweiter
Christus wird. Gerade das behauptet der Völkerapostel, wenn er im
Schreiben an die Korinther (1. Cor. 12, 12.) die Kirche einfachhin
"Christus" nennt, indem er offensichtlich den Meisterselbst nachahmt,
der ihm, als er die Kirche verfolgte, vom Himmel zurief (Apg. 9, 4; 22,
7; 26, 14): "Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich?" Ja, wenn wir
Gregor von Nyssa (Greg. Nyss., De vita Moysis: Migne, P. G. XLIV, 385)
glauben dürfen, wird die Kirche vom Apostel öfter "Christus" geheißen;
auch ist euch, ehrwürdige Brüder, das Wort Augustins nicht unbekannt:
"Christus predigt Christus" (Serm., CCCLIV, 1: Migne, P. L. XXXIX,
1563).
Diese erhabene Benennung ist jedoch nicht so zu verstehen, als ob das
unaussprechliche Band, womit der Sohn Gottes eine bestimmte menschliche
Natur mit sich vereinigte, auch die Gesamtkirche umfasse. Sie hat
vielmehr ihren Grund darin, daß unser Erlöser die Güter, die Ihm
vornehmlich eigen sind, so seiner Kirche mitteilt, daß diese in ihrem
ganzen Leben, dem sichtbaren wie dem geheimnisumhüllten, Christi Bild
möglichst vollkommen zum Ausdruck bringt. Denn zufolge der rechtlichen
Sendung, womit der göttliche Erlöser die Apostel in die Welt sandte,
wie Er selbst vom Vater gesandt war (Ioann. 17, 18 et 20, 21.), ist Er
es, der durch die Kirche tauft, lehrt und regiert, löst und bindet,
darbringt und opfert. Mittels jener höheren, ganz inneren und erhabenen
Schenkung, die Wir oben berührt haben, wo Wir nämlich die Art der
Einflußnahme des Hauptes auf die Glieder beschrieben, läßt Christus der
Herr die Kirche an seinem übernatürlichen Leben teilnehmen, durchdringt
ihren ganzen Leib mit seiner göttlichen Kraft und nährt und erhält die
einzelnen Glieder gemäß dem Rang, den sie im Leibe einnehmen, ungefähr
in der Weise, in welcher der Weinstock die mit ihm verbundenen
Rebzweige nährt und fruchtbar macht (Leo XIII, Sapientiae Christianae:
A.S.S. XXII, 392; Satis cognitum: ibidem, XXVIII, 710).
Wenn wir nun aufmerksam dieses göttliche von Christus gegebene Lebens-
und Kraftprinzip in sich selbst betrachten, insofern es die Quelle
einer jeden geschaffenen Gabe und Gnade bildet, werden wir leicht
verstehen, daß es nichts anderes ist als der Tröster Geist, der vom
Vater und vom Sohne ausgeht, und der in besonderer Weise Geist Christi
und Geist des Sohnes genannt wird (Rom. 8, 9; 2. Cor. 3,17; Gal. 4, 6).
Denn mit diesem Geist der Wahrheit und Gnade hat der Sohn Gottes im
unversehrten Schoße der Jungfrau seine Seele gesalbt. Dieser Geist
betrachtet es als seine Wonne, im lebenspendenden Erlöserherzen als in
seinem bevorzugten Tempel zu wohnen. Diesen Geist hat uns Christus am
Kreuze durch sein eigenes Blut verdient. Ihn hauchte Er über die
Apostel aus und schenkte ihn so der Kirche zur Nachlassung der Sünden
(Ioann. 20. 22). Während jedoch nur Christus diesen Geist in
ungemessener Fülle empfing (Ioann. 3, 34), wird er den Gliedern des
mystischen Leibes aus der Fülle Christi selbst nur in dem Grade
verliehen, als Christus ihn gibt (Eph. 1,8; 4,7). Nachdem Christus am
Kreuze verherrlicht ist, wird sein Geist der Kirche in reichstem Maße
mitgeteilt, damit sie selbst und ihre einzelnen Glieder von Tag zu Tag
unserem Erlöser ähnlicher werden. Der Geist Christi ist es, der uns zu
Adoptivkindern Gottes gemacht hat (Rom. 8, 14-17; Gal. 4, 6-7), damit
wir einst "alle mit unverhülltem Antlitz die Herrlichkeit,des Herrn
schauen und so von Herrlichkeit zu Herrlichkeit zu dem gleichen Bilde
umgestaltet werden" (2. Cor. 3, 18.).
Dem Geiste Christi als dem unsichtbaren Prinzip kommt auch die Aufgabe
zu, alle Teile des Leibes untereinander sowie mit ihrem erhabenen
Haupte zu verbinden, da Er ja ganz im Haupte ist, ganz im Leibe, ganz
in den einzelnen Gliedern. Diesen letzteren aber teilt er seine
Gegenwart und seinen Beistand in verschiedenem Grade mit, je nach ihren
verschiedenen Aufgaben und Ämtern und je nach dem höheren oder
geringeren Maße ihrer geistlichen Gesundheit. Er ist es, der infolge
seines himmlischen Odems in allen Teilen des Leibes als das Prinzip
jeder wirklich zum Heile ersprießlichen Lebensbetätigung angesehen
werden muß. Er ist es, der, obwohl selbst in allen Gliedern gegenwärtig
und in ihnen in göttlicher Weise tätig, dennoch in den untergeordneten
auch durch die Dienstleistung der übergeordneten wirkt. Er ist es
endlich, der der Kirche unter dem Wehen seiner Gnade fortwährend neues
Wachstum verleiht, es aber verschmäht, in den vom Leibe völlig
getrennten Gliedern durch die heiligmachende Gnade zu wohnen. Gerade
diese Gegenwart Und Wirksamkeit des Geistes Jesu Christi hat Unser
weiser Vorgänger unsterblichen Andenkens Leo XIII. in seiner Enzyklika
Divinum illud mit folgenden Worten kurz und treffend ausgedrückt: "Es
genüge der eine Satz: Christus ist das Haupt der Kirche, der Heilige
Geist ihre Seele" (A. S. S., XXIX, p. 650).
Wenn wir hingegen die innere Lebenskraft, mittels deren die ganze
Christengemeinschaft von ihrem Stifter erhalten wird, nun nicht in sich
selbst, sondern in den aus ihr entspringenden geschöpflichen Wirkungen
betrachten, so besteht sie in den übernatürlichen Gnaden, die unser
Erlöser zugleich mit seinem Geiste der Kirche verleiht, und zugleich
mit seinem Geiste, als dem Spender übernatürlichen Lichtes und Wirker
der Heiligkeit, hervorbringt. Die Kirche kann also ebenso wie alle ihre
heiligen Glieder das große Wort des Apostels sich zu eigen machen: "Ich
lebe, vielmehr nicht ich, sondern Christus lebt in mir" (Gal. 2, 20.).
d) Christus als Erlöser des Leibes
Unsere Darlegungen über das "mystische Haupt" (Ambros., De Elia et
ieiun., 10, 36-37 et in Psalm 118, serm. 20 2: Migne, P. L. XIV, 710 et
XV, 1483.) würden unvollkommen bleiben, wenn Wir nicht, wenigstens
kurz, auch den folgenden Satz desselben Apostels berührten: "Christus
ist das Haupt der Kirche, Er der Erlöser seines Leibes" (Eph. 5, 23).
Denn in diesen Worten liegt die Hindeutung auf den letzten Grund,
weshalb der Leib der Kirche den Namen Christi trägt. Christus ist
nämlich der göttliche Erlöser dieses Leibes. Wird Er doch mit vollem
Recht von den Samaritern als "der Heiland der Welt gepriesen" (Ioann.
4, 42.); ja, man muß Ihn ohne Zweifel als den "Heiland aller"
ansprechen, wenngleich man mit Paulus hinzufügen muß, "vornehmlich der
Gläubigen" (1. Tim. 4, 10). Vor allen andern nämlich hat Er seine
Glieder, die die Kirche bilden, mit seinem Blute erkauft (Apg. 20, 28).
Es erübrigt jedoch, diesen Gedanken weiter zu erörtern, nachdem Wir
oben über die aus dem Kreuze entsprossene Kirche, über Christus, den
Spender des Lichtes, den Wirker der Heiligkeit und den Erhalter seines
mystischen Leibes ausführlich genug gehandelt haben. Vielmehr haben wir
Grund, Gott unaufhörlich dafür zu danken und demütigen Sinnes
aufmerksam darüber nachzudenken. Was unser Erlöser aber einst am Kreuze
begonnen hat, das setzt Er in seiner himmlischen Herrlichkeit ohne
Unterlaß fort. "Unser Haupt - so Augustinus - legt Fürsprache für uns
ein: die einen Glieder nimmt Er zu sich, andere züchtigt Er, andere
läutert Er, andere tröstet Er, andere erschafft Er, andere beruft Er,
andere ruft Er zurück, andere bessert Er, andere erneuert Er" (Enarr.
in ps., LXXXV, 5: Migne, P. L. XXXVII, 1085). Uns aber ist die Aufgabe
geworden, Christus in diesem Heilswirken hilfreiche Hand zu leisten,
"die wir aus dem Einen und durch den Einen erlöst sind und selbst
erlösen" (Clem. Alex., Strom., VII, 2: Migne, P. G. IX, 413).
3. Die Kirche als mystischer Leib Christi
Gehen wir nun einen Schritt weiter, Ehrwürdige Brüder, und erörtern wir
den Punkt, der den Grund, warum Christi Leib, die Kirche, mystisch, d.
h. geheimnisvoll genannt werden muß, ins gehörige Licht rücken soll.
Diese Benennung, die schon bei mehreren Kirchenschriftstellern der
Vorzeit üblich war, wird durch nicht wenige Dokumente der Päpste
bestätigt. Aber nicht bloß aus einem Grund ist dieses Wort berechtigt.
Es unterscheidet zunächst den gesellschaftlichen Leib der Kirche,
dessen Haupt und Lenker Christus ist, von dessen physischem Leib, der,
aus der jungfräulichen Gottesmutter geboren, jetzt zur Rechten des
Vaters thront und unter den eucharistischen Gestalten verborgen ist.
Ebenso - und dies ist wegen der Zeitirrtümer von großer Bedeutung -
schließt diese Bezeichnung jeden natürlichen Leib, sei es einen
physischen, sei es einen sogenannten moralischen, aus.
In einem natürlichen Leibe nämlich verbindet das einigende Prinzip die
einzelnen Teile derart, daß sie kein eigenes Fürsichsein mehr besitzen.
Im mystischen Leib dagegen verbindet das einigende Prinzip, obschon es
bis ins Innerste geht, die Glieder so untereinander, daß die einzelnen
ihre Eigenpersönlichkeit vollauf bewahren. Wenn wir sodann das
gegenseitige Verhältnis zwischen dem Ganzen und den einzelnen Gliedern
betrachten, so ergibt sich folgendes: in jedem lebendigen physischen
Leibe sind alle einzelnen Glieder in letzter Linie einzig zum Wohle des
ganzen Organismus da, während jede gesellschaftliche Gliederung von
Menschen, wenn man auf deren letzten Nützlichkeitszweck sieht,
hingeordnet ist auf den Nutzen aller und zugleich jedes einzelnen
Gliedes, da diese ja Personen sind. Um also auf unsere Sache
zurückzukommen, wie der Sohn des Ewigen Vaters um des ewigen Heiles
unser aller willen vom Himmel herabgestiegen ist, so hat Er den Leib
der Kirche gebildet und mit dem göttlichen Geiste beseelt zu dem
Zwecke, das ewige Glück der unsterblichen Seelen zu wirken und zu
sichern, gemäß dem Ausspruch des Apostels: "Alles gehört euch, ihr aber
gehört Christus und Christus Gott" (1. Cor. 3, 23; Pius XI., Divini
Redemptoris: A. A. S., 1937, p. 80.). Wie nämlich die Kirche zum Wohl
der Gläubigen da ist, so hat sie die Bestimmung, Gott und den Er
gesandt hat, Christus Jesus zu verherrlichen.
Vergleichen wir sodann den mystischen Leib mit einer sogenannten
moralischen Körperschaft, so müssen wir auch da einen keineswegs
geringfügigen, sondern höchst bedeutungsvollen und schwerwiegenden
Unterschied feststellen. In der moralischen Körperschaft nämlich ist
das einigende Prinzip nichts anderes als der gemeinsame Zweck und das
gemeinsame Zusammenwirken aller zu demselben Zweck mittels einer
gesellschaftlichen Obrigkeit. Im mystischen Leibe dagegen, von dem wir
handeln, kommt zu diesem Zusammenwirken noch ein anderes inneres
Prinzip, das sowohl dem ganzen Organismus wie den einzelnen Gliedern
wirklich und kraftvoll innewohnt und von solcher Erhabenheit ist, daß
es in sich betrachtet alle einigenden Bande, die einen physischen oder
einen moralischen Leib zusammenhalten, unermeßlich weit überragt.
Dieses Prinzip gehört, wie oben gesagt, nicht der natürlichen, sondern
der übernatürlichen Ordnung an; ja es ist in sich selber geradezu
unendlich und unerschaffen: der Geist Gottes, der, wie der engelgleiche
Lehrer sagt, "der Zahl nach ein und derselbe, die ganze Kirche erfüllt
und einigt" (De Veritate, q. 29, a. 4, c.).
Die richtige Bedeutung der Bezeichnung "mystisch" erinnert also daran,
daß die Kirche, die als eine in ihrer Art vollkommene Gesellschaft
anzusehen ist, nicht bloß aus gesellschaftlichen und rechtlichen
Bestandteilen und Beziehungen besteht. Sie ist ja weit vorzüglicher als
irgendwelche andern menschlichen Körperschaften (Leo XIII, Sapientiae
christianae: A.S.S., XXII, p. 392.), die sie überragt, wie die Gnade
die Natur hinter sich läßt und wie das Unsterbliche alles Vergängliche
(Leo XIII., Satis cognitum: A.S.S., XXVIII, p. 724). Jene rein
menschliche Gesellschaften, namentlich der Staat, sind gewiß nicht zu
verachten oder geringzuschätzen. Allein die Kirche als ganze gehört
nicht der Ordnung dieser Dinge an, gleichwie der Mensch als ganzer
nicht mit dem Gebilde unseres sterblichen Leibes, zusammenfällt
(Ibidem, p. 710). Denn die rechtlichen Beziehungen, auf welchen die
Kirche ebenfalls beruht und welche zu ihren Bestandteilen gehören,
stammen zwar aus ihrer göttlichen von Christus gegebenen Verfassung und
haben ihren Anteil bei Erreichung ihres übernatürlichen Zieles. Doch
was die Kirche über jedwede natürliche Ordnung hoch hinaushebt, ist der
Geist unseres Erlösers, der als Quelle aller Gnaden, Gaben und
Charismen fortwährend und zuinnerst die Kirche erfüllt und in ihr
wirkt. Wie der Bau unseres sterblichen Leibes zwar ein wundervolles
Werk unseres Schöpfers ist, jedoch weit unter der erhabenen Würde
unserer Seele zurückbleibt, geradeso hat das gesellschaftliche Gefüge
der christlichen Gemeinschaft, wie sehr es auch die Weisheit seines
göttlichen Meisters verkündet, doch nur einen ganz untergeordneten
Rang, sobald man es vergleicht mit den geistlichen Gaben, mit denen die
Kirche ausgestattet ist und von denen sie lebt, sowie mit deren
göttlichem Ursprung. Aus alledem, was Wir in unserem Schreiben an Euch,
Ehrwürdige Brüder, bisher dargelegt haben, geht klar hervor, daß sich
jene in einem schweren Irrtum befinden, die sich nach eigener Willkür
eine verborgene, ganz unsichtbare Kirche vorstellen, ebenso wie jene,
die sich die Kirche als eine Art menschlicher Organisation denken mit
einer bestimmten satzungsmäßigen Ordnung und mit äußeren Riten, aber
ohne Mitteilung übernatürlichen Lebens (Ibidem, p. 710). Nein, wie
Christus, das Haupt und Urbild der Kirche, "nicht ganz ist, wenn man in
Ihm entweder nur die menschliche, sichtbare..., oder bloß die
göttliche, unsichtbare Natur betrachtet..., sondern wie Er Einer aus
beiden und in beiden Naturen ist ...: so sein mystischer Leib" (Ibidem,
p. 71.); hat doch das Wort Gottes eine menschliche leidensfähige Natur
angenommen, damit nach der Gründung einer sichtbaren und mit dem
göttlichen Blute geweihten Gesellschaft "der Mensch durch eine
sichtbare Leitung den Weg zum Unsichtbaren zurückfinde" (S. Thomas, De
veritate, q. 29, a. 4, a. 3).
Deshalb bedauern und verwerfen Wir auch den verhängnisvollen Irrtum
jener, die sich eine selbstersonnene Kirche erträumen, nämlich eine nur
durch Liebe aufgebaute und erhaltene Gesellschaft, der sie - mit einer
gewissen Verächtlichkeit - eine andere, die sie die Rechtskirche
nennen, gegenüberstellen. Eine solche Unterscheidung einzuführen ist
ganz verfehlt. Sie verkennt, daß der göttliche Erlöser die von Ihm
gegründete Gemeinschaft von Menschen als eine in ihrer Art vollkommene
Gesellschaft mit allen rechtlichen und gesellschaftlichen Bestandteilen
gerade zu dem Zwecke wollte, damit sie dem Heilswerk der Erlösung hier
auf Erden dauernden Bestand sichere (Conc. Vat., Sess. IV, Const. dogm.
de Eccl.), und daß Er sie zur Erreichung desselben Zweckes vom Tröster
Geist mit himmlischen Gnaden und Gaben reich ausgestattet wissen
wollte. Gewiß, sie sollte nach dem Willen des Ewigen Vaters "das Reich
des Sohnes seiner Liebe" (Col. 1, 13) sein, dabei aber in Wahrheit ein
solches Reich, in welchem alle durch ihren Glauben eine vollkommene
Unterwerfung des Verstandes und Willens darbringen (Conc. Vat., Sess.
III, Const. de fide cath., cap. 3) und in Demut und Gehorsam Dem
ähnlich werden sollten, der für uns "gehorsam ward bis zum Tode"
(Philipp. 2, 8). Es kann also kein wirklicher Gegensatz oder
Widerspruch bestehen zwischen der unsichtbaren Sendung des Heiligen
Geistes und dem rechtlich von Christus empfangenen Amt der Hirten und
Lehrer. Beide ergänzen und vervollkommnen einander wie in uns Leib und
Seele, und gehen von Einem und demselben aus, unserem Erlöser: Er hat
gewiß seinen Aposteln den göttlichen Odem eingehaucht mit den Worten:
"Empfanget den Heiligen Geist" (Ioann. 20, 22), aber Er hat ihnen auch
den klaren Auftrag erteilt: "Wie mich der Vater gesandt hat, so sende
ich euch" (Ioann. 20, 21), und in gleichem Sinne gesagt: "Wer euch
hört, der hört mich" (Luc. 10, 16).
Wenn man aber in der Kirche einiges wahrnimmt, was die Schwäche unserer
menschlichen Natur verrät, so fällt das nicht ihrer rechtlichen
Verfassung zur Last, sondern vielmehr der beklagenswerten Neigung der
Einzelnen zum Bösen. Diese Schwäche duldet ihr göttlicher Stifter auch
in den höheren Gliedern seines mystischen Leibes deswegen, damit die
Tugend der Herde und der Hirten erprobt werde und in allen die
Verdienste des christlichen Glaubens wachsen. Denn, wie oben gesagt,
Christus wollte die Sünder aus der von Ihm gegründeten Gemeinschaft
nicht ausgeschlossen wissen. Wenn also manche Glieder an geistlichen
Gebrechen leiden, so ist das kein Grund, unsere Liebe zur Kirche zu
vermindern, sondern vielmehr mit ihren Gliedern größeres Mitleid zu
haben.
Ohne Fehl erstrahlt unsere verehrungswürdige Mutter in ihren
Sakramenten, durch die sie ihre Kinder gebiert und nährt; im Glauben,
den sie jederzeit unversehrt bewahrt; in ihren heiligen Gesetzen, durch
die sie alle bindet, und in den evangelischen Räten, zu denen sie
ermuntert; endlich in den himmlischen. Gaben und Charismen, durch die
sie in unerschöpflicher Fruchtbarkeit (Conc. Vat., Sess. III, Const. de
fide cath., cap. 3) unabsehbare Scharen von Märtyrern, Jungfrauen und
Bekennern hervorbringt. Ihr kann man es nicht zum Vorwurf machen, wenn
einige ihrer Glieder krank oder wund sind. Sie fleht ja in deren Namen
selbst täglich Gott an: "Vergib uns unsere Schulden", und widmet sich
unablässig ihrer geistlichen Pflege mit mütterlich starkem Herzen. Wenn
wir also den Ausdruck "mystischer" Leib Christi gebrauchen, so liegen
schon in der Bedeutung dieses Wortes sehr ernste Lehren für uns. Solche
Mahnung klingt an in den Worten des heiligen Leo: "Erkenne, Christ,
deine Würde, und der göttlichen Natur einmal teilhaft geworden, kehre
nicht durch unwürdiges Betragen zum alten erbärmlichen Zustand zurück!
Denke daran, wessen Hauptes und wessen Leibes Glied du' bist!" (Serm.
XXI, 3: Migne, P. L. LIV, 192-193).
II. Teil: Die Verbindung der Gläubigen mit Christus
Wir möchten jetzt, Ehrwürdige Brüder, in ganz besonderer Weise über
unsere enge Verbindung mit Christus im Leibe der Kirche sprechen. Ist
diese - wie mit Recht der heilige Augustinus sagt (Au-gust., Contra
Faust., 21,8: Migne, P.L. XLII, 392) - etwas Erhabenes, Geheimnisvolles
und Göttliches, so wird sie doch oft gerade aus diesem Grund von
einigen falsch verstanden und dargestellt. Zunächst ist es klar, daß
diese Verbindung mit Christus sehr innig ist. In der Hl. Schrift wird
sie mit dem Band einer keuschen Ehe, mit der lebensvollen Einheit von
Weinstock und Rebzweigen und mit dem Organismus unseres Leibes
verglichen (Eph. 5, 22-23; Ioann. 15, 1-5; Eph. 4, 16). Sie wird als so
tiefinnerlich dargestellt, daß es nach dem Wort des Völkerapostels: "Er
(Christus) ist das Haupt des Leibes, der Kirche" (Col. l, 18), die
uralte, ständig von den Vätern weitergegebene Lehre ist, der göttliche
Erlöser bilde zusammen mit seinem gesellschaftlichen Leibe nur eine
einzige mystische Person oder, wie Augustinus sagt, "den ganzen
Christus" (Enarr in Ps" 17,51 et XC, II, I: Migne, P. L. XXXVI, 154 et
XXXVII 1159). Ja, unser Heiland selbst zögerte nicht, in seinem
hohepriesterlichen Gebet diese Vereinigung mit jener wunderbaren
Einheit zu vergleichen, durch die der Sohn im Vater ist und der Vater
im Sohn (Ioann. 17, 21-23.).
Unsere Vereinigung in Christus und mit Christus aber ergibt sich an
erster Stelle aus der Tatsache, daß die christliche Gemeinschaft nach
dem Willen ihres Stifters einen vollkommenen Gesellschaftskörper bildet
und infolgedessen in ihr alle Glieder vereint sein müssen durch das
einheitliche Streben zum gleichen Ziel. Je edler aber das Ziel ist, auf
das sich dieses Streben richtet, je göttlicher die Quelle ist, aus der
es entspringt, um so erhabener gestaltet sich ohne Zweifelauch die
Einheit. Nun ist aber sein Ziel das allerhöchste, nämlich die
fortgesetzte Heiligung der Glieder dieses Leibes selbst zur Ehre Gottes
und des Lammes, das geopfert ist (Apoc. 5,12-13). Seine Quelle aber ist
ganz göttlich: der Ratschluß des Ewigen Vaters und der liebestarke
Wille unseres Heilandes, aber auch die Erleuchtungen und Antrieb des
Heiligen Geistes im Innersten unserer Seele. Wenn wir nicht den
geringsten heilbringenden Akt setzen können, es sei denn im Heiligen
Geiste, wie konnten da ungezählte Scharen verschiedenster
Volkszugehörigkeit und Abstammung in voller Eintracht die Ehre des
dreieinigen Gottes erstreben ohne die Kraft jenes Odems, der vom Vater
und Sohn in einer einzigen, ewigen Liebe ausgeht?
Da nun aber dieser gesellschaftliche Leib Christi, wie Wir oben
dargelegt haben, nach dem Willen seines Stifters sichtbar sein muß, so
folgt notwendig, daß auch jenes Zusammenwirken aller Glieder äußerlich
in die Erscheinung treten muß durch das Bekenntnis desselben Glaubens,
durch die Gemeinschaft derselben Sakramente und die Teilnahme am selben
Opfer, wie auch durch die tätige Beobachtung derselben Gebote. Zudem
muß durchaus ein allen sichtbares Oberhaupt vorhanden sein, von dem die
Tätigkeit und die Zusammenarbeit aller wirksam auf die Erreichung des
vorgesteckten Zieles gerichtet wird: Wir meinen den Stellvertreter Jesü
Christi auf Erden. Wie nämlich der göttliche Erlöser den Beistand, den
Geist der Wahrheit, gesandt hat, damit Er an seiner Statt (Ioann. 14,16
et 26.) die unsichtbare Leitung der Kirche übernehme, so hat Er dem
Petrus und seinen Nachfolgern aufgetragen, Ihn auf Erden zu vertreten
und die sichtbare Leitung der christlichen Gemein-schaft zu übernehmen.
Zu diesen rechtlichen Banden, die für sich allein schon die Bindungen
jeder anderen, selbst der höchsten menschlichen Gesellschaft, weit
übertreffen, kommt notwendig noch eine andere Einheitsgrundlage: es
sind jene drei Tugenden, durch die wir mit Gott und untereinander aufs
engste verbunden werden: der christliche Glaube, die Hoffnung und die
Liebe.
In der Tat, es ist nur "ein Herr", wie der Apostel mahnt, "nur ein
Glaube" (Eph.4,5.), jener Glaube nämlich, durch den wir dem einen Gott
anhangen und Ihm, den Er gesandt hat, Jesus Christus (Eph.4,5.). Wie
stark wir durch diesen Glauben mit Gott verbunden werden, zeigen die
Worte des Liebesjüngers Jesu: "Wer immer bekennt, daß Jesus der Sohn
Gottes ist, in dem bleibt Gott, und er bleibt in Gott" (1. Ioann. 4,
15). Ebenso innig werden wir aber durch dieser christlichen Glauben
untereinander und mit unserem Haupte verbunden. Denn da wir alle, die
wir gläubig sind, "denselben Geist des Glaubens haben" (2. Cor. 4, 13),
werden wir auch von demselben Lichte Christi erleuchtet, durch dieselbe
Speise Christi ernährt, durch dasselbe Lehramt und dieselbe
Amtsvollmacht Christi geleitet. Wenn nun derselbe Glaubensgeist uns
alle beseelt, leben wir auch alle dasselbe Leben "im Glauben an den
Sohn Gottes, der uns geliebt und sich für uns dahingegeben hat" (Gal.
2, 20); und wie Christus, unser Haupt, der Urheber unseres Glaubens
ist, wenn Er, mit lebendigem Glauben aufgenommen, in unserem Herzen
wohnt (Eph. 3, 17.), so wird Er auch sein Vollender sein (Hebr. 12, 2).
Wie wir aber durch den Glauben hier auf Erden Gott anhangen als der
Quelle der Wahrheit, so erstreben wir Ihn durch die Tugend der
christlichen Hoffnung als die Quelle der Seligkeit, "indem wir die
selige Hoffnung und die herrliche Erscheinung des großen Gottes
erwarten" (Tit. 2, 13). Ob dieses gemeinsamen Verlangens nach dem
Himmelreich, womit wir im Diesseits nicht unsere bleibende Heimat
sehen, sondern die zukünftige suchen (Hebr. 13, 14) und die Glorie des
Himmels ersehnen, sagt der Völkerapostel ohne Bedenken: "Ein Leib und
ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung"
(Eph. 4, 4); ja, Christus selbst wohnt in uns gleichsam als die
Hoffnung der Herrlichkeit (Col. l, 27).
Die Bande des Glaubens und der Hoffnung, durch die wir mit unserem
göttlichen Erlöser in seinem mystischen Leibe verbunden werden, sind
gewiß von großer Wichtigkeit und höchster Bedeutung. Aber sicher nicht
weniger wichtig und wirksam sind die Bande der Liebe. Denn wenn schon
im natürlichen Bereich die Liebe, aus der die wahre Freundschaft
entspringt, etwas sehr Erhabenes ist, was muß man dann nicht von jener
übernatürlichen Liebe sagen, die von Gott selbst in unsere Herzen
ausgegossen wird? "Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt,
bleibt in Gott und Gott in ihm" (1.Ioann.4,16). Diese Liebe hat,
gleichsam nach einem von Gott selbst gegebenen Gesetz die Wirkung, daß
sie in unsere liebenden Herzen Ihn selbst in Gegenliebe hinabsteigen
läßt gemäß dem Wort: "Wenn jemand mich liebt..., wird auch mein Vater
ihn lieben, und Wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen"
(Ioann.14,23). Die Liebe verbindet uns also enger mit Christus als jede
andere Tugend. Von ihrer himmlischen Glut erfaßt, haben so viele Kinder
der Kirche freudig für Ihn Schmach erlitten und bis zum letzten Atemzug
und Blutstropfen jegliche, auch die schlimmsten Qualen und Prüfungen,
ausgestanden. Deshalb mahnt uns unser göttlicher Heiland so
eindringlich: "Bleibt in meiner Liebe!" und da ja eine Liebe
schwächlich und völlig inhaltslos bleibt, wenn sie sich nicht in guten
Werken entfaltet und Gestalt annimmt, fügt Er sogleich hinzu: "Wenn ihr
meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe, wie auch Ich die
Weisungen meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe verbleibe"
(Ioann.15,9-10).
Aber dieser Liebe zu Gott und zu Christus muß die Liebe zum Nächsten
entsprechen. Wie könnten wir denn auch behaupten, unseren göttlichen
Erlöser zu lieben, wenn wir diejenigen haßten, die Er selbst mit seinem
kostbaren Blute erlöst hat, um sie zu Gliedern seines mystischen Leibes
zu machen? Aus diesem Grunde ermahnt uns auch der Liebesjünger Jesu mit
den Worten: "Wenn einer sagt: Ich liebe Gott, dabei aber seinen Bruder
haßt, so ist er ein Lügner. Denn wie kann einer Gott lieben, den er
nicht sieht, wenn er seinen Bruder nicht liebt, den er sieht? Wir haben
dies Gebot von Gott: Wer Gott liebt, der muß auch seinen Bruder
lieben!" (1. Ioann. 4, 20-21.). Sogar dies ist Tatsache: wir werden
desto mehr mit Gott und Christus verbunden sein, je mehr wir einer des
anderen Glieder sind (Rom. 12, 5.), in einmütiger Sorge füreinander (1.
Cor. 12, 25.). Und wir selbst werden untereinander desto mehr in Liebe
verbunden und zusammengeschlossen sein, je glühender die Liebe ist,
womit wir Gott und unserem göttlichen Haupte anhangen.
Uns aber hat der eingeborene Sohn Gottes schon vor Grundlegung der Welt
mit seiner anfanglosen, unendlichen Erkenntnis und seiner ewigen Liebe
umfangen. Und um diese seine Liebe auf eine ganz augenscheinliche und
wunderbare Weise zu offenbaren, erhob Er unsere Menschennatur zu
persönlicher Einigung mit sich selbst, so daß, wie Maximus von Turin
mit schlichter Einfachheit bemerkt, "in Christus unser eigenes Fleisch
uns liebt" (Serm. XXIX: Migne, P. L. LVII, 594).
Jene liebevolle Erkenntnis aber, womit uns der göttliche Erlöser vom
ersten Augenblick seiner Menschwerdung an entgegenkam, übertrifft alles
menschliche Bemühen und Begreifen. Denn vermöge jener seligen
Gottschau, deren Er sich sogleich nach der Empfängnis im Schöße der
Gottesmutter erfreute, sind Ihm alle Glieder seines mystischen Leibes
unablässig und jeden Augenblick gegenwärtig und umfängt Er sie alle mit
seiner heilbringenden Liebe. O wunderbare Herablassung der göttlichen
Güte zu uns; o unbegreifliche Tiefe einer Liebe ohne Grenzen! In der
Krippe, am Kreuz, in der ewigen Glorie des Vaters hat Christus immerdar
alle Glieder der Kirche vor Augen und im Herzen, mit weit größerer
Klarheit und Liebe als eine Mutter ihr Kind auf dem Schoße, als ein
jeder sich selbst kennt und liebt.
Aus dem Gesagten wird ersichtlich, Ehrwürdige Brüder, warum der Apostel
Paulus so häufig schreibt, Christus lebe in uns und wir in Christus.
Dafür gibt es aber auch noch einen tieferen Grund: nach unseren
Ausführungen lebt Christus in uns durch seinen Geist, den Er uns
mitteilt, und durch den Er so in uns tätig ist, daß alle
übernatürlichen Wirkungen des Heiligen Geistes in den Seelen auch
Christus zugeschrieben werden müssen (S. Thom., Comm. in Ep. ad Eph.,
cap. II, lect. 5). "Wenn jemand den Geist Christi nicht hat, sagt der
Apostel, gehört er Ihm nicht an. Ist dagegen Christus in euch..., so
lebt der Geist wegen der Rechtfertigung" (Rom. 8, 9-10). Dieselbe
Mitteilung des Geistes Christi, womit alle Gaben, Tugenden und
Charismen, die im Haupte auf überragende, überreiche und wirksame Weise
wohnen, in alle Glieder der Kirche übergeleitet und in ihnen, gemäß der
Stellung, die sie im mystischen Leibe Jesu Christi einnehmen, von Tag
zu Tag vervollkommnet werden, hat auch zur Folge, daß die Kirche
gleichsam, die Fülle und Ergänzung des Erlösers ist und Christus in
jeder Beziehung in der Kirche gleichsam Erfüllung findet (S. Thom.,
Comm. in Ep. ad Eph., cap. I, lect. 8). Mit diesen Worten haben Wir den
tiefsten Grund berührt, warum nach der Ansicht des heiligen Augustin,
die Wir schon kurz erwähnten, das mystische Haupt, welches Christus
ist, und die Kirche, die hier auf Erden wie ein zweiter Christus seine
Stelle vertritt, den einen neuen Menschen darstellen, durch den bei der
unaufhörlichen Fortsetzung des Heilswerkes am Kreuze Himmel und Erde
verbunden werden: Wir meinen Christus als Haupt und Leib, den ganzen
Christus.
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