JU: Herr Karsli, mit Blick
auf Ihren Übertritt von den Grünen zur FDP äußerte der Vorsitzende des
Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, die Befürchtung,
die FDP werde zum "Sammelbecken für populistische antiisraelische
Stimmungen". Herr Spiegel denkt dabei nicht nur an die bekannten
Aussagen Jürgen Möllemanns, sondern auch an Ihren Vorwurf, Israel
bediene sich bei seiner derzeitigen Operation im Westjordanland
"Nazimethoden". Karsli: Ich bin weder
antiisraelisch noch antijüdisch, noch antisemitisch. Wenn Sie wollen,
ich bin auch ein Semit. Ich bin vielmehr "anti-Scharon" bzw. besser
gesagt, gegen dessen Politik. Und ich bin nicht der einzige, der
dagegen ist, auch in Israel gibt es viele Menschen, die gegen Scharons
Politik demonstrieren. Scharon bringt keinen Frieden, auch seinem
eigenen Volk nicht, statt dessen veranstaltet er Massaker. Ich bedauere
das Wort "Nazimethoden" verwandt zu haben. Das war ein emotionaler
Ausrutscher unter dem Eindruck der Fernsehbilder aus Palästina, die ich
über die arabischen Sender sehe, die aber nicht von der deutschen
Bevölkerung gesehen werden. Wenn Herr Spiegel das als "populistisch
antiisraelisch" deutet, ist das sein Problem. Aber tatsächlich ist es
so, daß man in Deutschland beim Thema Israel den Menschen mit der
Erinnerung an die Epoche des Nationalsozialismus schlicht und
ergreifend Angst einzujagen versucht, damit sie den Mund nicht
aufmachen und sich nicht zur Sache äußern. (...)
JU: Sie sehen eine moralische Lähmung der Deutschen durch das Verbrechen des Holocaust? Karsli: Ganz genau. Ich
erlebe das zum Beispiel, wenn ich mich mit Kollegen über das Thema
unterhalte. Die erste Reaktion ist immer ein sich Umschauen, ob jemand
da ist und mithören könnte. Ist niemand in der Nähe, äußern sie sich
endlich einmal offen und fangen an zu schimpfen. Glauben Sie mir, die
Mehrheit der Bevölkerung ist nicht mehr bereit, Bilder wie die aus
Dschenin länger hinzunehmen. Den Leuten ist klar, daß das, was sich die
israelische Armee da erlaubt, einmalig in der Welt ist. Es ist bekannt,
daß Israel seit Jahrzehnten gegen viele Uno-Resolutionen verstößt.
Israel raubt palästinensischen Boden und baut Siedlungen darauf. Israel
betreibt Staatsterrorismus: Es hat bereits eine Todesliste angefertigt
mit Personen, die zu liquidieren sind. Ich setze mich dafür ein, daß
auch Israel neben einem lebensfähigen palästinensischen Staat in
Frieden und Sicherheit leben soll, aber es soll dabei bitte nicht
tagtäglich die Würde des palästinensichen Volkes durch Israel verletzt
werden. (...)
JU: Wie sollte sich die Bundesrepublik Ihrer Meinung nach gegenüber Israel verhalten? Karsli: Deutschland sollte
endlich einmal ein wahres und mutiges Wort äußern und zum Beispiel das
Massaker von Dschenin verurteilen. Und es sollte darauf hinwirken, daß
das Gleiche von Seiten der Europäischen Union geschieht.
Wirtschaftssanktionen gegen Israel sollten nicht ausgeschlossen werden.
Die Politik, die Joschka Fischer betreibt, finde ich dagegen einseitig
und heuchlerisch. (...)
JU: Das heißt, die
Deutschen sind beim Thema Israel feige und die deutsche Politik lädt
erneut Schuld auf sich – diesmal gegenüber den Palästinensern? Karsli: In der Tat,
"Feigheit" ist das richtige Wort. Manche verhalten sich sogar nach dem
Motto: "Ich weiß nichts, und ich habe Angst, etwas zu wissen." Denn
wenn sie etwas wüßten, müßten sie ein faires Wort dazu sagen, und das
könnte politische Gefahr für sie bedeuten. Man muß allerdings
zugestehen, daß der Einfluß der zionistischen Lobby auch sehr groß ist:
Sie hat den größten Teil der Medienmacht in der Welt inne und kann jede
auch noch so bedeutende Persönlichkeit "klein" kriegen. Denken sie nur
an Präsident Clinten und die Monika-Lewinsky-Affäre. Vor dieser Macht
haben die Menschen in Deutschland verständlicherweise Angst.
JU: Gehen sie mit dem Erbe des Holocaust vielleicht unbefangener um, weil sie ein nicht in Deutschland geborener Deutscher sind? Karsli: Das ist möglich.
Aber ich kann die geborenen Deutschen deshalb schon verstehen.
Allerdings frage ich, wie lange kann man das noch mit sich
herumschleppen? Ich bin der Meinung, ein Verbrechen kann ein anderes
Verbrechen nicht rechtfertigen. Wenn ich so sensibel dem deutschen
Naziterror gegenüberstehe, dann muß ich gegenüber den Machenschaften
von Scharon genauso sensibel sein. Deshalb betrachte ich die jetzige
deutsche Außenpolitik und Gesellschaftsmoral als Doppelmoral. Moral ist
unteilbar, und man muß sich gegen jedes Unrecht zur Wehr setzen. (...)
(aus dem Interview mit Jamal Karsli; JUNGE FREIHEIT; Nr. 19/02; 3. Mai 2002)