DAS KREUZ DES ELENDS
von
Léon Bloy
Die Armut sammelt die Menschen, das Elend macht sie einsam, weil die
Armut Jesus angehört, das Elend dem Heiligen Geiste. Die Armut ist das
Relative - Entbehrung des Überflüssigen. Das Elend ist das Absolute -
Entbehrung des Notwendigen.
Die Armut wird gekreuzigt, das Elend ist das Kreuz selbst. Jesus, der
das Kreuz trägt, das ist die Armut, die das Elend trägt. Jesus am
Kreuz, das ist die Armut, die auf dem Elend verblutet.
Diejenigen unter den Reichen, die noch nicht zu den wirklich Verdammten
zählen, können die Armut begreifen, weil sie selbst in einem gewissen
Sinne Arme sind; das Elend können sie nicht begreifen. Vielleicht
sind sie fähig, Almosen zu geben, aber sie sind unfähig der
Entäußerung, sie werden bei schöner Musik gerührt über den leidenden
Jesus, sein Kreuz jedoch, die Wirklichkeit seines Kreuzes, ist ihnen
ein Greuel! Für sie muß es ganz in Licht und ganz in Gold erstrahlen,
prächtig sein und nicht drückend, lieblich anzusehen auf einem schönen
Frauenbusen.
Ihr gepflegten Priester, ihr haltet das Bett der Liebe Jesu Christi von
den Reichen fern, das elende, unendlich schmerzhafte Kreuz, das mitten
auf einer Schädelstätte für Verbrecher aufgepflanzt ist, zwischen Unrat
und Gestank; das echte Kreuz, schlichtweg scheußlich, einfach ehrlos,
grausam, schimpflich, entsetzlich wie Vatermord, Muttermord, Kindesmord
zusammen; das Kreuz der unbedingten Entsagung, der Verlassenheit und
der Verleugnung auf immer durch all jene, die es nicht annehmen; das
Kreuz der abzehrenden Fasten, der Aufopferung der Sinne, des Verzichtes
auf alles, was trösten kann; das Kreuz des Feuers, des siedenden Öles,
des geschmolzenen Bleies, der Steinigung, der Ertränkung, des
Schindens, des Vierteilens, der Zerstückelung, der Zerreißung durch
wilde Tiere, aller Martern, die von den Bastarden der Dämonen ersonnen
werden können... Das dunkle und ruhmlose Kreuz in mitten einer Wüste
von Angst, so weit wie die Welt; auch nicht licht-strahlend, wie auf
den Bildern für Kinder, sondern erdrückt von einem düsteren Himmel, den
nicht einmal der Blitz erhellt, das erschreckende Kreuz der völligen
Verlassenheit des Gottessohnes, das Kreuz des Elends!
Und damit nicht genug, daß diese Verfluchten es nicht annehmen! Sie
behaupten noch unverfroren, nicht für sie sei es da, und schicken, im
Vertrauen auf ihr Geld, welches das Kostbarste Blut Christi ist, an
ihrer Statt die Herde der Armen auf das Kreuz, die sie geschröpft und
in die Verzweiflung getrieben haben!
Und sie wagen von Nächstenliebe zu sprechen, das Wort Liebe in den Mund
zu nehmen, das doch der Name der Dritten göttlichen Person ist!
Worthurerei, die dem Teufel Furcht einjagen könnte! Diese schöne Dame,
die nicht einmal die Redlichkeit besitzt, ihren Körper den
Unglücklichen, die sie entflammt, hinzugeben, wird heute abend
möglichst viel von ihrem weißen, grabgeweihten Fleisch zeigen, auf dem
Schmuckstücke gleich Würmern herumkriechen, und sie wird es auf diesen
Wohltätigkeitsfesten, die aus Anlaß irgend eines Unglückes angeblich
aus Nächstenliebe veranstaltet werden, den Dummköpfen zur Anbetung
hinhalten, um die Haifische oder die Strandräuber noch etwas mehr zu
mästen. Der sogenannte christliche Reichtum, der sich noch Wollust
verschafft aus dem Elend!
Gott leidet das alles bis heute abend, welcher "der Große Abend" sein
könnte, wie die Säuglinge der Anarchie sagen. Doch noch ist es Tag. Es
ist erst drei Uhr, die Stunde der Hinschlachtung des göttlichen Armen.
Noch arbeiten die Sklaven in den Bergwerken und Fabriken. Millionen
Hände schinden sich auf der ganzen Erde für das Behagen einiger weniger
Menschen, und die Millionen Seelen, die in der Umklammerung dieser
Arbeit erstickt sind, bleiben weiter in Unwissenheit darüber, daß es
einen Gott gibt, der jene segnet, die sie erwürgen: der Gott der
Wollüste und des gepflegten Lebens, "dessen Joch süß ist und dessen
Bürde so leicht", für die Unterdrücker.
(aus "Le Sang du Pauvre" - "Das Blut des Armen", zitiert
nach: "Leon Bloy - Der beständig Zeuge Gottes" hrsg. von Raissa
Maritain, Salzburg 1955, S. 194 ff.)
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