Auf den Höhen des Geistes
Gespräche eines russischen Mönches über das Jesus-Gebet
S. N. Bolsakov
übers. von P. Bonifaz Tittel OSB
1. Vater Dorofej
In Konevica im Hohen Norden verbrachte ich 1951 einige Wochen als
Einsiedler in einer kleinen Hütte mitten im Wald. Der Juli näherte sich
seinem Ende, die Tage waren warm und sonnig. Wälder und Seen, Seen und
Wälder, soweit das Auge reicht. Das Kloster in der Nähe war nicht groß,
es lebten dort nur wenige alte Mönche. Unter ihnen gab es Brüder mit
einer tiefen geistlichen Erfahrung. An einen von ihnen erinnere ich
mich noch am besten, an Vater Dorofej. Eines Tages fragte ich ihn: "Wie
kann man den Frieden des Geistes erlangen?"
"Man muß zur Ruhe kommen", antwortete Vater Dorofej und lächelte. "Was
heißt das - zur Ruhe kommen?" fragte ich von neuem. "Nun, damit verhält
es sich so: Als ich noch ein junger Novize in Walaam war, sagte mir
einmal mein Starez, dem ich zum Dienst zugeteilt war: 'Dimitrij, Dir
wird es schwer fallen, die Ruhe zu erringen. Du bist ein überaus
unruhiger Geist mit einem schalkhaften Gemüt. Aber wenn du dich nicht
zur Ruhe bringst, dann wirst Du nicht zum reinen Gebet kommen, ja dann
wird Dir das ganze Mönchtum nichts nützen' - und da habe ich ihn
genauso gefragt wie Ihr mich jetzt: 'was heißt denn das - zur Ruhe
kommen?' Der Starez antwortete mir: 'Es ist sehr einfach. Jetzt haben
wir Sommer, aber Du wartest sicher auf den Herbst, wenn die Arbeit auf
den Feldern weniger wird.' - 'Sicher, Vater... ' 'Nun, dann kommt der
Herbst, und Du wartest auf den Winter, die erste Schlittenfahrt, auf
die Weihnachtszeit, und wenn sie gekommen ist, dann wartest Du auf den
Frühling, auf Ostern - das lichte Fest der Auferstehung Christi? ' -
'Es stimmt, mein Vater.' - 'Schau, jetzt bist Du Novize, aber Du
wartest sicher auf die Zeit, wo Du in den Mönchsstand aufgenommen
wirst?' - 'Ja, Vater ...' - 'Nun, dann wirst Du auf die Mantia warten,
dann auf die Priesterweihe. Das alles bedeutet, daß Du noch nicht die
Ruhe gefunden hast. Erst dann, wenn Dir alles gleich viel bedeutet,
Frühling oder Herbst, Sommer oder Winter, Weihnachtszeit oder Ostern,
Novize oder Mönch, erst wenn Du für den heutigen Tag lebst, weil jeder
Tag genug an seiner Plage hat, wenn Du nicht vor Dich hinträumst und
alles mögliche erwartest, sondern Dich voll und ganz dem Willen Gottes
übergibst, dann erst wirst Du zur Ruhe kommen.' ... Viele Jahre
vergingen, ich bekam das Ordenskleid, ich wurde zum Priester geweiht
und immer noch wartete ich auf irgendetwas. Wir wurden in die
Verbannung geschickt, ich wollte nicht, aber man mußte sich dreinfügen.
Nun, als man uns wirklich hierher deportierte, da ging ich heiter, die
anderen aber weinten. Über allem ist der Wille Gottes. Wenn Du den
Wil1en Gottes mit der Güte Deines Herzens und in Liebe annimmst und
nicht von Dir selbst weiß Gott was für Wunderdinge erwartest, dann erst
kommst Du zur Ruhe. Nur seid Ihr davon noch weit entfernt, Sergej
Nikolaevic. Ihr 'sucht noch Euch selbst'. Ohne die Ruhe werdet Ihr
allerdings nicht zum reinen Gebet kommen."
"Sagt, Vater Dorofej, worin besteht das reine Gebet?" - "Es ist das
Gebet ohne Träumerei, wenn die Gedanken nicht durcheinander laufen, die
Aufmerksamkeit sich nicht zerstreut und Dein Herz wachsam ist, das
heißt in Furcht oder Liebe ergriffen ist. Wenn Du mit den Lippen
betest, Deine Gedanken aber weit weg sind - dann ist das kein Gebet."
"Wie kann denn das reine Gebet erworben werden?" - "Nur mit Mühe
natürlich. Haben Sie vom Jesusgebet gehört?" - "Ich habe davon gehört."
- "Haben Sie auch versucht es zu tun?" - "Ich habe es versucht." - "Und
wie gings?" - "Schlecht!" - "Verlieren Sie den Mut nicht. Sprechen Sie
es immer wieder und es wird zu seiner Zeit von selbst kommen." - "Ja,
aber wie weiß ich dann, daß ich das reine Gebet erreicht habe?"
Vater Dorofej hob langsam den Kopf und und schaute mich forschend an:
"Haben Sie schon etwas über den Starzen von der Moldau gehört?" -
"Nein." - "Der Mönch Parfenij schreibt über ihn in seinen
Reiseerinnerungen. Vielleicht haben Sie sie gelesen?" - "Nein."
"Lesen sie es, es ist sehr lehrreich und nützlich. Einmal hat ihn
Parfenij über das reine Gebet gefragt. Nun, auch Starez Ioann von der
Moldau antwortete, wie er sich anfangs im Jesus-Gebet nur mit großem
Zwang, dann aber immer leichter übte. Schließlich wurde es mit ihm
selbst ganz verbunden und es floß wie ein Bach, ja das Gebet wurde ganz
selbständig. Es fließt leise vor sich hin und ergreift das Herz.
Er begann dann, sich von den Leuten abzusondern und ging in die
Einsamkeit. Er empfing keine Laien mehr, ja auch Mönche nur noch
selten. Und es zeigte sich bei ihm ein unüberwindlicher Drang zum
Gebet. Als Parfenij den Starzen fragte: 'Was ist das unbezwingbare
Gebet?' - da antwortete Vater Ioann: 'Es besteht darin: Bei
Sonnenuntergang stelle ich mich zum Gebet hin und wenn ich aus dem
Gebet wieder zu mir komme, steht die Sonne schon hoch am Himmel und ich
habe es noch nicht bemerkt.' So ist das reine Gebet."
"Sagen Sie, Vater Dorofej, welche Bedeutung hat dann eigentlich das
reine Gebet für das aktive, praktische Leben, zum Beispiel für einen
Missionar?" - "Es ist sehr nützlich. Wenn ein Mensch sich im
Jesus-Gebet betätigt, dann gleicht er, nun sagen wir einer blühenden
Linde. Hat die Linde keine Blüten, dann fliegen ihr keine Bienen zu.
Aber sowie die Linde zu blühen anfängt, lockt der Duft ihrer Blüten von
überallher die Bienen an. So verhält es sich mit einem Helden, der
durch das Jesus-Gebet gestärkt worden ist. Der Wohlgeruch des Gebetes,
die guten Eigenschaften, die es bewirkt, ziehen von überall gute
Menschen in seinen Bann, die suchen, wo sie das Gebet lernen könnten.
Wer in Christus lebt, den trägt Gott auf seinen eigenen Händen. Er
braucht sich um nichts Sorgen zu machen. Von allen Seiten strömen zu
ihm gute Menschen und hüten ihn wie ihren Augapfel. Wer sich im wahren
Gebet betätigt, der ist ruhig im Schatten des Herren. Er macht sich um
nichts Sorgen. Alles kommt von selbst."
"Gibt es dann auch Leid?" - "Wie soll es das nicht geben, aber es
verwandelt sich in Freude. Dafür fehlt Euch jetzt noch das Verständnis,
aber es wird zu seiner Zeit kommen." - "Sagen sie, Vater Dorofej, kann
man in der Welt, außerhalb des Klosters, auch gerettet werden?" -
"Warum soll es nicht möglich sein? Das Reich Gottes ist in uns, wenn
wir in unserem Herzen vor dem Herrn niederfallen und zu ihm den
wohlriechenden Duft des reinen Gebetes aufsteigen lassen. Haben Sie die
'Erzählungen eines Pilgers gelesen?'" - "Ich habe sie gelesen!" - "Nun,
dann handeln sie ebenso. Nemytov aus Orel war ein reicher Kaufmann,
aber durch sein Gebetsleben setzte er sogar den Starzen Makarij aus
Optina in Erstaunen. Übrigens wurde auch er Mönch, als er die
Möglichkeit dazu hatte. Wer begonnen hat mit Gott zu leben und die
Herrlichkeiten des geistlichen Lebens erblickt hat, dem wird es schwer,
in der Welt zu bleiben. Wie ein Adler schwebt er hoch am Himmel und
kann nicht mehr dem Huhn ähnlich werden, das am Weg herumpickt."
Wir saßen auf einer kleinen Bank am Ufer eines stillen Sees. Über den
blauen Himmel zogen weiße, leichte Wolken. Die Stämme der schlanken
Hochwaldkiefern brannten wie purpurne Kerzen in den Strahlen der
untergehenden Sonne. Der See, umgeben vom grünen Rahmen der Wälder,
glänzte wie ein goldener Spiegel. Überall herrschte die Stille des
Hohen Nordens.
"Schau, mein Freund", sagte plötzlich Vater Dorofej, "wenn einmal Dein
Herz dem heutigen Abend ähnlich geworden ist, seiner Stille und seinem
Frieden, dann wird es das Licht jener Sonne durchdringen, die nicht
untergeht - dann wirst Du aus Erfahrung wissen, worin das reine Gebet
besteht."
Nach einer Weile des Schweigens begann ich wieder: "Vater Dorofej,
sagt, wie können wir den Willen Gottes für uns erkennen?"- "Die
geistlichen Väter sagen, daß die Fügungen des Lebens selbst ihn uns
zeigen, dann kann man mit Glauben einen Starzen oder überhaupt einen
weisen Menschen fragen, was man tun soll. Schließlich soll man auf die
Neigung des Herzens achten. Bitte dreimal den Herrn, Dir seinen Willen
zu zeigen, wie der Erlöser im Garten Getsemane gebetet hat - wohin sich
dann das Herz neigt, das tue."
(Das Buch kann bestellt werden im Verlag von Frau Dr. Herta Ranner, A-1070 Wien, Zeismannsbrunngasse 1)
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