Die gemordeten Kathedralen - ein Auszug -
von Anita Albus
Als Notre-Dame de Chartres am 11. Juni 1194 in Flammen aufging, befürchteten die Einwohner der Stadt das Schlimmste: die Vernichtung der kostbarsten Reliquie Frankreichs. Die Heilige Tunika, das von der Jungfrau im Augenblick der Verkündigung getragene Gewand, war einst vom Kaiser des Orients aus Byzanz an Karl den Großen gesandt worden. 876 hatte es Karl der Kahle der Kathedrale von Chartres vermacht. Solange die Trümmer rauchten, war das Schicksal der Reliquie ungewiss. Als am dritten Tag die Geistlichen mit dem kostbaren Schrein aus der Krypta stiegen, wo sie während des Brandes Zuflucht gefunden hatten, war die Freude unermesslich. Auch die prachtvolle Westfassade der Kathedrale mit den Königsportalen und den beiden Türmen war unversehrt geblieben. Gerührt vom Wunder der geretteten Tunika, taten die Menschen überall Buße und vergaben ihren Feinden.
Sogleich machten sich die Gläubigen daran, mit jener Begeisterung, der sich in den vierziger Jahren des zwölften Jahrhunderts die wie durch Zauber hochgezogenen Türme verdankt hatten, eine noch größere und prächtigere Kathedrale zu bauen. In großen Scharen zogen aus dem ganzen Land Männer und Frauen aller Stände ihre mit Steinen, Holz und Proviant beladenen Fuhrwerke auf rauhen und morastigen Wegen nach Chartres. „Unter ihnen herrschte eine perfekte Disziplin und tiefe Stille", berichtet ein Zeuge solcher Pilgerzüge, „während der Nacht bildeten sie ein Lager mit ihren Wagen, erleuchteten sie mit Kerzen und sangen Lobgesänge."
In wenigen Jahrzehnten war das Wunderwerk der Gotik mit zehntausend in Stein gemei-ßelten und in Glas gemalten Figuren vollbracht, ein Himmlisches Jerusalem für die zehntausend Einwohner der Stadt. Niemals habe es eine vergleichbare Anstrengung gegeben, den Menschen zu erheben, schreibt Emile Male 1948 und fragt sich „mit Grausen, was Frankreich wäre und was die Welt, wenn diese erhabenen Monumente, die eine so hohe Meinung von der Menschheit darbieten, eines Tages verschwinden würden".
Die Verheerungen des Ersten Weltkriegs waren noch nicht vorstellbar, als Marcel Proust im „Figaro" schrieb, die Zweckentfremdung von Kirchen und Kathedralen, wie sie im Ge-setz zur Trennung von Kirche und Staat vorgesehen war, wäre noch schlimmer als ihre Zerstörung. Proust hatte 1899 das „wunderbare Buch" „L`Art religieux du Xllle siecle en France" von Male gelesen. In diesem Meisterwerk der Verlebendigung mittelalterlicher Kunst erscheint die gotische Kathedrale als visuelle Summa der Scholastik, als heilige Schrift, Arithmetik und fixierte Musik und als Ganzes bis ins kleinste Detail von der gleichen Symbolik beseelt wie die Liturgie, die sich in ihr vollzieht. „Im Mittelalter ist alle Form das Gewand eines Denkens. Man möchte meinen, dieses Denken arbeite im Inneren einer Materie und gestalte sie."
Prousts Heiligtum ist die Kunst. Man kann sich vorstellen, welche Offenbarung dieses Buch für den künftigen Verfasser der „Recherche" gewesen sein muss. Die Kunst war für ihn „das Wirklichste, was es gibt, die strengste Schule des Lebens, das wahre Jüngste Gericht". Getreu der mittelalterlichen Devise: intra se ipsum quasi in libro scriptum attendat, fasste er sie als Entzifferung der in ihm schlummernden Hieroglyphen auf. Das Errichten eines Gebäudes und das Zusam-menheften der Teile eines Kleides bezeichnet im Französischen ein und dasselbe Wort: bätir. In der „Wiedergefundenen Zeit" erklärt Proust, er wage nicht in ehrgeiziger Weise zu sagen, er würde sein Buch bätir wie eine Kathedrale, sondern ganz einfach wie ein Kleid. Die Bescheidenheitsformel verschleiert die Einheit von Buch, Kleid und Kathedrale. Proust hat seine „Kathedrale" mit der gleichen Opferbereitschaft, Gewissenhaftigkeit und Liebe erbaut wie die Gläubigen des Mittelalters die ihren, und er hat, wie der letzte Satz der „Wiedergefundenen Zeit" uns lehrt, seine „Figuren" in die gleiche Dimension der Ewigkeit gestellt. In seinem Glanzstück über die Dorfkirche in „Combray" nennt er sie „die vierte Dimension der Zeit". Er hatte noch einen Monat zu leben, als er an Ernst Robert Curtius schrieb, die Wahrheit liege jenseits. Ohne die Perspektive der Unsterblichkeit, die sich ihm durch die „göttliche Speise" einer in Tee getauchten Madeleine offenbarte, wäre die „Recherche", wie die zweckentfremdeten Kathedralen, ihres Sinns beraubt.
„Wenn das Opfer von Christi Fleisch und Blut nicht mehr in den Kirchen zelebriert wird, werden sie ohne Leben sein", schreibt er gegen die von der Linken geplante Umwandlung sakraler in profane Räume. In der vollständigen Fassung von „Der Tod der Kathedralen" im „Figaro" vom 16. August 1904 geht dem zitierten Satz eine Passage voraus, in der die Bedeutung, die Proust der Einheit von Kirche und Kult beimisst, in einem grellen Licht erscheint: „Es gibt heute keinen Sozialisten von Geschmack, der die Verstümmelungen all der Statuen, die Zertrümmerung all der Glasfenster, die die Revolution unseren Kathedralen zugefügt hat, nicht beklagte. Ach, es ist immer noch besser, eine Kirche zu verwüsten, als sie ihrem Zweck zu entfremden. Solange man in ihr noch die Messe zelebriert, bewahrt sie, so verstümmelt sie auch sein mag, wenigstens noch ein bisschen Leben. Am Tag ihrer Zweckentfremdung ist sie tot, selbst wenn man sie als ein historisches Denkmal vor anstößigen Zwecken schützt, ist sie nichts weiter als ein Museum."
Als Bürger von Vezelay die Zweckentfremdung ihrer weltberühmten Basilika forderten, meinte Andre Hallay, der Antiklerikalismus rege zu großen Dummheiten an. Der Satz, den Proust in seinem „Figaro"-Artikel zitiert, kann ihm nur als Euphemismus recht gewesen sein. In seinen Augen war es ein Verbrechen, die Kirchen ihres inneren Lebens zu berauben, weshalb er der Sammlung seiner Kathedralen-Aufsätze den Titel „Zum Gedenken an die gemordeten Kathedralen" gab...
Am Ende seiner Verteidigung der lebenden Kathedrale lässt Proust die Glasfenster aufleuchten, in denen die Stifter verewigt sind: „Da erscheinen nicht nur die Königin und der Fürst, die ihre Insignien tragen, Krone oder Kette vom Goldenen Vlies. Die Wechsler haben sich darstellen lassen, wie sie den Feingehalt der Münzen prüfen, die Kürschner, wie sie ihre Pelze verkaufen ..., die Fleischer, wie sie Ochsen schlachten, die Ritter, wie sie ihr Wappen tragen, die Steinmetzen, wie sie Kapitelle bebauen."
Und dann schildert er, wie es denen, die es „verdient haben, dass ihnen auf Dauer ein Gebet zugestanden wird", in den toten Kathedralen ergehen würde: „Aus ihren Fenstern in Chartres, in Tours, in Sens, in Bourges, in Auxerre, in Clermont, in Toulouse, in Troyes werden die Küfer, Kürschner, Krämer, Pilger, Ackersleute, Waffenschmiede, Weber, Steinmetzen, Fleischer, Korbflechter, Schuhmacher, Wechsler, eine große stumme Demokratie, Gläubige mit dem festen Willen, am Gottesdienst teilzunehmen, die Messe nicht mehr hören, die sie sich gesichert hatten, als sie die glänzendste ihrer Münzen für den Kirchenbau stifteten. Die Toten leiten nicht mehr die Lebenden. Und die Lebenden, vergesslich, erfüllen nicht mehr die Gelübde der Toten."
Sollten in der heutigen Nacht bei der Ostervigil, dem größten Fest im Kirchenjahr, in Notre-Dame de Chartres die verheißungsvollen Kapitel aus dem Alten Testament - von der Erschaffung der Welt bis zu den Jünglingen im Feuerofen - wieder in alter Weise gesungen werden, wäre die Zeit im Säulenwald der Kathedrale aufgehoben wie im Blätterwald der siebenbändigen Kathedrale der „Recherche".
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