Am Tag, als sich die Hölle auftat
Von Walter Saller
(aus: "Süddeutsche Zeitung Magazin" vom 5.5.2000)
Im Zusammenhang mit den Angriffen der USA auf Afghanistan befürchteten
viele einen Ausbruch eines weltweiten Krieges, gingen sogar
etliche von der Gefahr eines Atomkrieges aus, auf den man sich
vorbereiten müsse... Kanister mit Wasser und Konserven müsse man
bevorraten... Ich sage Ihnen, ich habe keine Angst und stelle keine
Spekulationen an. Aber bange wird mir, wenn ich sehe, wie die Kinder
von ihren Eltern nicht mehr erzogen werden, sehe und erfahre, mit
welcher Brutalität die Kids aufeinander einschlagen oder ihre Lehrer
bedrohen... gerade kommt durch die Nachrichten, daß ein 19-jähriger
Schüler in Erfurt 14 seiner Lehrer erschossen hat: Jugend ohne Gott!
Der folgende Bericht handelt nicht vom Krieg, sondern vom alltäglichen
Bösen um uns herum, von der Brutalität grausamer Kinderherzen, handelt
von unserer Mitschuld, von unserem Versagen angesichts dieser
Schändlichkeiten, von der Gleichgültigkeit und der Feigheit... Er ist
häßlich, grausamer als Kriegsberichte und nicht gedacht für Leser mit
zarte Nerven, die sollten ihn nicht lesen. Aber ich veröffentliche ihn,
um Ihre Aufmerksamkeit zu schärfen, um sie abzuziehen von - meiner
Meinung nach - müßigen Spekulation um das ultimative Szenarium und um
sie auf Aufgaben zu lenken, die sich uns täglich stellen, so oder
anders... um zu helfen, unsere Welt ein wenig zu heilen. E.
H.
* * *
»Aber du hast es gewusst, wie? Dass ich, das Tier, ein Teil von euch
bin, von ganz tief drinnen?« (William Golding: »Herr der Fliegen«)
»Börde« heißt der fruchtbare Streifen schwarzer Erde im Westen von
Magdeburg. Bahngleise schneiden durch das Bauernland. Wolkenfetzen
verhängen den Himmel über nassen Feldern. Ein frostiger Wind kämmt die
Reihen der Wintersaat. Und in den Kronen nackter Eichen haben sich
Krähen versammelt.
Feucht und kalt und die Bäume kahl, so war es auch damals in der Börde.
Damals, als die »Sache« mit Saskia passierte und in Domersleben
irgendwie alles aus dem Ruder lief. Als Kinder und Jugendliche
urplötzlich eine Liturgie der Gewalt zelebrierten und das 14-jährige
Mädchen peinigten wie mittelalterliche Schergen eine Hexe. Mit aller
Brutalität, mit symbolischen und sexuellen Martern quälten sie Saskia.
Mitten im Dorf. Eltern und Nachbarn sahen einfach nur zu. Oder weg. An
jenem 7. März 1999. Es ist 14.40 Uhr, als Saskia die Dreiraumwohnung am
Bruno-Taut-Ring in Neu Olvenstedt verlässt. Dort lebt sie mit ihrer
Mutter und dem Stiefvater. Drei Treppen sind es hinunter zum Ring, der
die Plattenbauten am Rande Magdeburgs umgibt wie der Wassergraben eine
Zitadelle. Die Drogerie Drospa, das Bürogeschäft McPaper und die Kneipe
»Zur 3. Halbzeit« liegen auf Sas-kias Weg zur Bushaltestelle. Und all
die Wohnbehälter, bei deren Anblick man an monströse Schuhschachteln
denken muss. 1982 wurden sie nach dem Vorbild der Sowjetstadt Gorki in
die Wiesen betoniert.
Um 14.45 Uhr steigt Saskia in den Bus nach Domersleben. Der 7. März ist
ein Sonntag und der Bus so gut wie leer. 19 Kilometer sind es bis in
das Bördedorf. Nicht dass dort viel los wäre. Aber Julia und Andrea
haben Saskia eingeladen. Die 13- und 14 jährigen Schwestern aus
Domersleben sind ihre Freundinnen. Und mit Andi, dem älteren Bruder der
beiden, war sie einmal zusammen. Der Bus fädelt sich in den Verkehr auf
der B1. Neu Olvenstedt bleibt zurück. Der Ruf von Saskias Viertel ist
schlecht. Und die Leier der Sozialarbeiter von der allgegenwärtigen
Misere klingt wie überall im Osten, wo die Arbeitslosen in den
Schließfächern der »Platten« verwahrt werden als Konkursmasse der DDR:
jeder Vierte ohne Job, Alkoholismus, Jugendgewalt.
Saskia fährt vorbei an stillgelegten Fabriken und aufgegebenen
Produktionsgenossenschaften, an denen der Rost frisst. Die Landstraße
spaltet riesige Brachflächen, rinnt durch den Flecken Schleinitz und
die Kreisstadt Wanzleben. Gegen 15.20 Uhr ist Saskia am Ziel.
»Willkommen in Domersleben« haben Kids auf die Wände des Bushäuschens
gesprayt. Und einen Kopf mit Rastalocken und Joint.
Seit 7000 Jahren gibt es Bauern in der Gegend von Domersleben. Manchmal
holt der Pflug uralte Siedlungsspuren aus der Erde. Steinklingen,
Tonscherben, Keramiksplitter. Heute gehören zu Domersleben 1452 Hektar
Wiesen und Felder, eine Putenfarm, Kleingewerbe. Und 1190 Menschen, 598
Männer, 592 Frauen. Fast die Hälfte der Einwohner lebt in den neuen
Eigenheimen am Ortsrand. Zwei Minuten sind es von der Bushalte stelle
in der Dorfmitte bis zu den Grubers. Die Eltern von Saskias Freundinnen
haben neun Kinder und »Alkoholprobleme«. Die alteingesessene Familie
bewohnt ein Haus in der Friedensstraße. Der Bau verfällt. Der Dachstuhl
hat sich gesenkt und der Fassadenputz ist abgeplatzt. Früher, als sie
noch mit Andi ging, ist Saskia oft bei den Grubers gewesen. Manchmal
sogar über Nacht.
Saskia steigt die Stufen hoch zur Haustür. Julia und Andrea öffnen. Sie
freuen sich. Aber nicht, weil die »Freundin« gekommen ist, sondern weil
Saskia, in der sie längst eine Feindin sehen, den Schwestern blind wie
eine junge Katze in die Falle getappt ist. Sie haben schon einmal drei
Dinge bereitgelegt: einen Gürtel mit Nieten, eine Schere, eine Kerze.
Kaum ist Saskia im Haus, stellen die Gruber-Töchter sie zur Rede. Aber
warum? Wegen der Hose, die sie Julia geklaut haben soll? Oder weil sie,
Andis Ex, angeblich mit einem Skin »herumgepoppt« hat und in letzter
Zeit sowieso dauernd mit den Olvenstedter »Glatzen«
zusammenhängt?
Fest steht: Ein Streit bricht aus. Die Schwestern, die sich selbst zu
den »Bunten« zählen, irgendwo zwischen Punks und Ravern, ohrfeigen
Saskia. Dann reißen sie ihr die Jacke, die Hose vom Leib. Niemand von
den restlichen Grubers, die sich in der Wohnküche um den Fernseher
versammelt haben, greift ein. Weder die Eltern noch Andi. »Der hat auch
nur zugesehen«, sagt Saskia später.
Kurz vor 16 Uhr schubsen Julia und Andrea Saskia aus dem Haus. Mit dem
Nietengürtel peitschen sie das Mädchen, das nur noch Hemd, Slip und
Socken trägt, treiben es vor sich her. Das Thermometer zeigt zehn Grad
Celsius. Ein kühler Wind fegt die Wolken über dem Dorf zu Haufen. Die
Gruber-Töchter jagen Saskia vorbei an Haustüren, Fensterfronten, der
Gaststätte »Lindenkrug« und »Schwester Utes Pflegehof«, einem Heim für
Alte. Ein Hagel aus Hieben und Hassworten prasselt auf Saskia nieder:
»Nazischlampe! Drecksau! Fotze!«
Hinter Hoftoren schlagen Hunde an. Von Haus zu Haus springt das Gebell.
Der Gürtel trifft Saskias Rücken, die Arme, die Beine. Sie schreit um
Hilfe. Vergeblich. »War ja Sonntag um vier Kaffeezeit«, wird der Wirt
vom »Lindenkrug« nachher sagen. »Und wegen Kindergequieke läuft doch
keiner nach draußen.«
Die Schwestern hetzen Saskia zur Dorfeiche. Ein Stück hinter dem
mächtigen Baum ragt ein Findling auf, umgeben von einem Kreis aus
Steinen. Neben dem Kriegerdenkmal liegt der Fußballplatz. Ein Dutzend
Jungs und ein paar Mädchen bolzen auf dem Viereck umgewühlter Erde, als
Julia und Andrea mit der halb Nackten erscheinen. Julia kickt Saskia
die Beine weg. Das Mädchen fällt in den Dreck. Es ist fünf nach
vier.
Die Kids unterbrechen ihr Match und scharen sich um das Trio. Immer
noch schlagen die beiden Schwestern mit dem Gürtel auf die Liegende
ein. »Striemen, Nietenabdrücke, Hautabschürfungen«, wird die Ärztin
festhalten. Am Anfang sehen die Fußballer einfach nur zu. Doch mit
einem Mal tritt auch der eine oder die andere nach Saskia. Zuerst
tastend, beinahe vorsichtig. Vielleicht so, wie man bei einem
angefahrenen Hund prüft, wie viel Leben noch in dem Tier steckt.
Schließlich treten sie richtig zu. »Ausgedehnte Blutergüsse«, schreibt
die Ärztin.
Saskia krümmt sich, nimmt die Haltung eines Embryos an. Sie wimmert,
bettelt, dass man sie gehen lässt. Aber dafür ist es zu spät. Ein
Graben, alt wie die Menschheit, hat sich aufgetan zwischen der
Gemeinschaft auf der einen Seite und der Gepeinigten im Schlamm auf der
anderen. Nach den alttestamentarischen Regeln, nach denen ein Schaf zum
Sündenbock wird, hat sich Saskia in ein Opfer verwandelt. Und jede
Brutalität in eine rituelle Handlung. Das ist die archaische Logik
hinter dem Ausbruch der Gewalt an diesem kalten Sonntag in
Domersleben.
»Die Saskia geht jetzt schwimmen«, verkünden die Schwestern. Sie zerren
das heulende Mädchen hoch. Es ist 16.20 Uhr. Mit Schlägen, mehr
dirigierend als hart, treiben sie Saskia an. Die Kids folgen johlend.
Auch Markus ist dabei. Der Junge gilt als »sozial auffällig«,
»lernbehindert«.
Unterhalb der Eiche lenken die Gruber-Töchter Saskia in die
Lindenstraße. Akkurate Vorgärten, zu gehäkelte Fenster, geschmiedete
Eisentore säumen den Weg der lärmenden Meute. Nur Saskia ist stumm.
Vielleicht denkt sie, ohne Gegenwehr sei alles schneller vorbei. Die
Lindenstraße endet an einem Tümpel, in dem sich Ulmen und Wolken
spiegeln. Einst war der Dorfteich die Pferdschwemme von Domersleben und
das Paradies der Kinder. Zur Erntezeit badeten sie zwischen den Enten.
Und Weihnachten kratzten sie mit Schlittschuhen Schrammen ins
Eis.
Mit der Gürtelpeitsche zwingen die Schwestern Saskia an den Teichrand
und stoßen sie ins Wasser. Das Mädchen schreit auf. Das zwanzigköpfige
Rudel auch. Vor Begeisterung. Es ist halb fünf. Hilflos planscht Saskia
herum, verliert den Boden unter den Füßen, schluckt Wasser, taucht
unter und wieder auf, hustet, rudert hektisch mit Armen und Beinen.
»Schwimmen!«, plärren die Schwestern. »Schwimmen!«, echot der Chor.
Sieben oder acht Grad hat das Wasser. Bei diesen Temperaturen kann
schon eine Viertelstunde lebensbedrohlich sein. Aber das wissen die
Kids nicht. Und die Erwachsenen von Domersleben auch nicht.
»Wir sind vorbeigefahren am Teich«, sagt ein älterer Mann später. »Und
meine Frau wunderte sich noch: >Dass die bei der Kälte badet!<«
Aber das Paar unternimmt nichts. Hält nicht einmal an.
Gegen 16.40 Uhr krabbelt Saskia aus dem Teich. Sie tropft, ihre Zähne
klappern, ihr Atem dampft. »Massive Unterkühlung« wird die Ärztin
notieren. Das Hemd klebt an Saskia wie eine zweite Haut und betont ihre
Nacktheit mehr, als dass es sie verhüllen würde. Julia und Andrea
zerren die Schlotternde zu einer Kuhle, angefüllt mit brackigem Wasser
und fauligem Laub. Dann tritt Markus aus der Menge und schubst Saskia
in den Morast. »Wälzen!«, befehlen die Schwestern. Das Mädchen pariert.
Nach ein paar Minuten darf das lehmbeschmierte Opfer aufstehen. Aber
nur, um zu dem Misthaufen zu gehen, den Bauern neben dem Teich angelegt
haben. »Los! Eingraben!« kommandiert Julia. Saskia kriecht auf den
stinkenden Hügel, wühlt die Füße in den Dung. »Eingraben!« Der Gürtel
schnalzt. Das Rudel johlt. »Die hockte da im Mist«, wird später ein
Mann sagen, der hinter dem Teich Hasenfutter schnitt. »Und am Abend war
im ganzen Dorf Polizei. Doch wozu? War ja nur 'ne Mutprobe, das mit dem
Mädel.«
Saskia buddelt und scharrt, sinkt tiefer und tiefer in den Haufen. Aber
die Schwestern sind nicht zufrieden. »Auf den Kopf damit!« Beidhändig
fasst Saskia in den Matsch. Dann setzt sie sich eine Krone aus kaltem
Kot auf und wird endgültig zu dem, was die anderen längst in ihr sehen:
ein Stück Scheiße. So eine ist kein Mensch mehr. Mit so einer darf man
alles machen.
Kurz nach fünf wälzt sich der Zug der Kinder vom Teich in die
Sarrestraße. Die Schwestern und das schlammfarbene Mädchen mit dem Kot
auf dem Kopf an der Spitze. Saskia geht mechanisch, fast wie in Trance,
scheint nicht einmal mehr zu frieren. Vorbei an Wohnhäusern, dem
Minimarkt, den Zeitungskästen der Magdeburger Volksstimme und Schildern
mit dem Hundebild: »Hier wache ich!« Niemand stellt sich
dem Aufmarsch in den Weg. Niemand fragt, was da vor sich geht. Niemand
hilft Saskia. Es ist, als habe eine Lähmung die Männer und Frauen von
Domersleben befallen. »Am Sonntag war jeder zu Hause«, wird nachher
eine Rentnerin sagen. »Und alle haben sie nur gegafft.«
Um 17.15 Uhr, das Licht des trüben Märztages beginnt gerade zu
verblassen, erreicht die Prozession die Kirche Peter und Paul. Hinter
der Ruine, die Dachkuppel ist 1974 eingestürzt, beginnt das
Schulgelände. Sieben Stufen führen hinauf zum Gedenkstein für Katja
Niederkirchner. Vom Mahnmal für die Domerslebener Antifaschistin, die
von den Nazis ermordet wurde, sind es fünfzig Kin-derschritte bis zur
Schule. Neben dem Eingang klaffen zwei Kellerschächte. Je 1,20 Meter
lang, 60 Zentimeter breit, 1,70 Meter tief, gesichert mit
Eisenrosten.
Julia und Andrea manövrieren Saskia vor die Gitter. Das Rudel drängt
heran, bildet einen Halbkreis: die Starken in der Mitte, die Schwachen
am Rand. Markus deckt einen der Schächte ab. »Runter!«, bestimmt Julia.
Saskia gehorcht. Sie setzt sich, streckt die Beine in den Käfig aus
Beton und Moder, springt und kauert sich auf dem feuchten Boden nieder.
Markus wuchtet den Rost zurück. Saskia ist gefangen. Vom Turm neben der
Ruine hallen zwei Schläge. Halb sechs.
Die Kids lachen, werfen Steinchen in das Loch. Doch plötzlich ist es
still vor der Schule. Für einen Moment kann man das Gurren der Tauben
und den Wind hören, der sich in den Bäumen verfangen hat. Alle starren
auf Markus. Er hat sich auf dem Gitter postiert, genau über dem
Mädchen, die Hose aufgeknöpft. Und mit einem Mal stimmt die Horde ein
Geheul an wie ein Indianerstamm auf dem Kriegspfad.
Saskia erträgt die barbarische Taufe stumm. Sie befindet sich in jenem
Zustand, in dem alles unwirklich wirkt wie in einem Traum. Sie fühlt
nichts. Keine Nässe, keine Kälte, keine Schmerzen. Es ist, als würden
nicht ihr, Saskia Meier, sondern irgendeiner Fremden all die
Misshandlungen und Gemeinheiten zustoßen. »Die lungerten da an der
Schule rum«, wird später ein Bauer sagen. »Danach war Polizei im Dorf.
Wegen >unterlassener Hilfeleistung<. Aber ich bin raus aus der
Sache. Was hab ich denn schon gesehen?«
Das Licht hat einen müden Ton angenommen, als Saskia aus dem Schacht
klettert. Es ist kurz vor sechs. Wieder setzt sich der Pulk in
Bewegung. Der Gürtel schnalzt. Die Schwestern treiben Saskia, das
zitternde Geschöpf aus Kot und Pisse und Gestank, an den Rand des
Dorfes. Der Weg steigt an. Erst bleiben die Eiche, das Kriegerdenkmal,
der Bolzplatz zurück. Dann der Friedhof, der aus den Zeiten der Cholera
stammt. Schließlich endet die Lehmspur an einer Hecke. Durch eine Lücke
zwischen den Schlehenbüschen wird Saskia in den »Wiesenblick« gedrängt,
eine verwilderte Kleingartenkolonie. Fahles Gras, von Maulwürfen
aufgeworfene Erde, vertrocknete Lupinen, zerfallende Datschen,
Obstbäume. Der Wind ist eingeschlafen und der Geruch faulender
Vegetation liegt über der Anlage.
»Da rüber!« Andrea zeigt auf einen krummen Apfelbaum. »Hinknien!«
Saskia gehorcht und legt die Stirn an die raue Rinde des Stamms, bebend
vor Angst und Kälte. Unten im Dorf flackern die ersten Lichter auf und
flimmern in der Dämmerung. Es ist 18.15 Uhr.
»Haltet sie fest!«, befiehlt Andrea. »Die stinkt wie ein Haufen
Scheiße«, wehren die Kids ab. Aber schließlich treten vier Jungs vor
und umfassen Saskias Arme, zwei links, zwei rechts. Auch Markus ist
dabei. Andrea zückt die Schere. »Die Nazibraut kriegt jetzt ihre
Glatze.« Die Schere fährt in das schlammverkrustete Haar. Das erste
Büschel fällt zu Boden. Das Rudel johlt. Andrea schnippelt, Saskia
weint. Aber sie wehrt sich nicht.
»Aufstehen!«, herrscht Julia. Saskia richtet sich auf. Sie gleicht
einem grotesk zerrupften Igel. »Ausziehen!« Saskia schüttelt den Kopf.
Die Kids sind still geworden. Genau wie vor den Kellerschächten. In der
Ferne schlägt eine Tür, ein Hund bellt auf. Es ist halb sieben und fast
dunkel.
»Ausziehen! « Saskia schüttelt den Kopf. Dann geht alles sehr schnell.
Die vier Jungs packen sie, Julia reißt ihr den Slip herunter. Saskia
bäumt sich auf, strampelt, schreit. Es hagelt Schläge. Die vier zerren
Saskias Schenkel auseinander. Die Meute hält den Atem an, glotzt auf
die entblößte Scham. Julia hat die Kerze in der Hand. »Du schiebst dir
jetzt das Ding rein«, sagt sie. »Dann kannst du gehen.« Saskia
schüttelt den Kopf. Dazu ist sie nicht bereit. »Gut«, sagt Julia.
»Markus wird es tun.« Saskia, die Beine auseinandergerissen und so den
Blicken aller präsentiert, heult. Sie weiß: Markus wird parieren wie
ein abgerichteter Schäferhund. »Also?«
Schließlich nimmt Saskia die Kerze. Das Rudel grölt. Danach schlüpft
sie in ihren Slip. Einer der Jungs hängt ihr seine Jacke um. Die
bestialische Tortur ist zu Ende. Die Schwestern machen sich auf den
Heimweg. Mit Saskia. »War wohl nicht so schlimm«, wird später ein
junger Mann sagen. »Die ist ja wieder mit zu den Grubers.« Aber wohin
soll Saskia sonst schon gehen in ihrem Zustand? In einer Ortschaft, in
der ihr mehr als drei Stunden lang niemand geholfen hat? Im Haus der
Grubers darf sie sich trockene Sachen anziehen. Sie zittert am ganzen
Körper. Ihre Lippen sind blau. Und sie wirkt apathisch. Andi ruft den
Rettungsdienst Ackermann aus Wanzleben. Gegen 19.30 Uhr trifft der
Sanitäter Rainer Nothnagel in der Friedensstraße ein. »Vor dem Haus«,
berichtet er, »standen jede Menge Kinder und ein paar Erwachsene. »Die
kommt gleich«, sagten sie zu mir. Und alle waren sie glänzender Laune,
so als hätten sie gerade ein Dorffest besucht. «
Nothnagel wickelt das schlotternde Mädchen in eine Decke. »Die war
völlig unterkühlt und so ver-stört, dass sie nicht ein Wort
herausbrachte.« Der Sanitäter bringt sie ins Krankenhaus von Wanzleben.
Über Funk verständigt er die Polizei. Am nächsten Tag wird Saskia
entlassen. Das befürchtete Fieber ist ausgeblieben. Die Lunge hat sich
nicht entzündet. »Nur« die Seele.
Nachspiel
(...) In Domersleben hat die »Sache« mit Saskia tiefe Spuren
hinterlassen. Die Grubers sind fortgezogen, den Eltern wurde das
Sorgerecht für ihre Töchter entzogen und die Mädchen leben jetzt in
einem Erziehungsheim. (...)
Und die Domerslebener? Sie scheinen es selbst kaum mehr glauben zu
können, dass sich die Hexenjagd mitten in ihrem Dorf abgespielt hat.
Und dass die Täter keine Ungeheuer sind, sondern ihr eigen Fleisch und
Blut. Sicher, es hätte auch anderswo geschehen können. Hätte. Aber
jetzt müssen sich die Domerslebener fragen, warum sie mehr als drei
Stunden lang nur zugesehen und ihre Kinder nicht gebändigt haben. (...)
Acht Täter ermittelt die Polizei in der »Sache« mit dem Aktenzeichen 1
D S 452JS 868899. Zwei sind Kinder, darunter die 13-jährige Julia. Die
beiden Verfahren werden eingestellt. (...) Der Prozess gegen die fünf
verbliebenen Täter findet am 12. Januar 2000 vor dem Amtsgericht
Wanzleben statt. Die zweistündige Verhandlung nach dem Jugendrecht und
unter der Anklage »gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit
sexueller Nötigung« ist nicht öffentlich. Alle - Andrea und vier Jungen
- sind geständig. Saskia bleibt der Auftritt als Zeugin erspart. Die
Einsicht, wie sehr sie ihr Opfer physisch und psychisch gefoltert
haben, kommt den Tätern erst im Gerichtssaal. Richter Joachim Reichert
verhängt Bewährungsstrafen. Drei der Jungs erhalten je zwölf Monate,
der vierte zehn. Wie Andrea. Außerdem müssen sie an Saskia je 400 Mark
»Entschädigung« zahlen. Die meisten der Gaffer kommen ungeschoren
davon. Sechs Verfahren gegen Jugendliche wegen »unterlassener
Hilfeleistung« werden gemäß Paragraph 42, Absatz 2 Jugendgerichtsgesetz
nach einer Ermahnung durch den Staatsanwalt eingestellt. Zwei Verfahren
gegen volljährige Zuschauer laufen noch.
Und Saskia? Das Mädchen hat Magdeburg verlassen und lebt in einem betreuten Jugendhaus. Irgendwo am Rand des Harzes.
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