Häutungen - Der Konservativismus entdeckt seine Liebe zur Aufklärung
von Werner Olles
Hundert Jahre nach der Gründung des Instituts für Sozialforschung und mehr als ein halbes Jahrhundert nach der 68er-Revolte hat die Kritische Theorie – trotz oder vielleicht gerade wegen der pessimistischen Wende ihrer Väter Adorno und Horkheimer – nichts von ihrer intellektuellen Strahlkraft eingebüßt. Ihre Enkelschüler haben sich jedoch nicht nur in fanatische Verteidiger der sozialstaatlichen Massendemokratie verwandelt, als Kreuzritter der Aufklärung verkörpern sie auch den Weltgeist im Kampfbomber, der wahlweise in Serbien, im Irak, Afghanistan, Syrien und Libyen die Zivilgesellschaft samt Demokratie und westlichem Werte-Pluralismus herbeibombte, wobei auch eine halbe Million tote irakische Kinder den Preis wert waren, wie die damalige demokratische US-amerikanische Außenministerin Albright, auf deren Schoß es sich unser Außenminister Joseph Fischer gern bequem machte, stolz verkündete. Man sucht das Heil in der Aufklärung, ganz so, als hätte es deren langjährige Dekonstruktionsgeschichte nicht gegeben, und als hätten Horkheimer und Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ nicht gezeigt, daß der Irrationalismus nur die Rückseite der Aufklärungsvernunft ist, und das eine ohne das andere nicht zu haben ist.
Wo Adorno aber ganz nahe an die Entschlüsselung des Individualismus und der Metaphysik heranreichte, indem er einen entscheidenden Schritt über die Aufklärung und den traditionellen Marxismus mit seinem kruden Materialismus hinaus tat, rechtfertigen seine mißratenen Enkel in einem beispiellosen Akt des Verrats inzwischen jede nur denkbare „zivilisatorische Anstrengung“ , bestenfalls als Berater diverser grün-roter Parteigremien, schlimmstenfalls mit Bomben und Raketen, um solche logischen Subjekte der Aufklärung wie Assad, Gaddafi oder die Taliban im Sinne des unauflöslichen Bündnisses von Vernunft und Untat zu pazifizieren. Angesichts der Resultate hätten sich Adorno und Horkheimer, die die „Entzauberung der Welt“ als Programm und Dreh- und Angelpunkt der Aufklärung, als Entmündigung des Menschen, der in der Masse untergeht, als Vermarktung der Kultur (Kulturindustrie), Unterordnung humaner Interessen unter ökonomische Prioritäten und Reduktion der menschlichen Vernunft auf rein instrumentalistische Denkweisen scharf kritisierten, sicherlich mit Grauen abgewandt. Für sie stand fest, daß der Totalitarismus das rationale Denken aufgriff und genuin verkörperte.
Die intellektuelle Neue Rechte in Deutschland hat sich anders als in Frankreich, Spanien, Italien oder Lateinamerika – von wenigen rühmlichen Ausnahmen wie dem leider verstorbenen Ex-Kommunisten und Privatgelehrten Günter Maschke und seinem ältesten Freund, dem „Tumult“-Herausgeber Frank Böckelmann abgesehen -, mit der Aufklärungskritik und der Kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno nie wirklich auseinandergesetzt. Dabei wäre es doch nicht um eine unkritische Adaption, sondern einzig um bestimmte Fragestellungen gegangen: Welche Auswirkungen haben die Ideen der „Frankfurter“ auf die politische Entwicklung gehabt, und wie sind diese zu bewerten? Wo kann und muß Aufklärungskritik heute ansetzen? Kann die Kritische Theorie eine Erklärung der umfassenden Krise des modernen Menschen und der Gesellschaft leisten? Bedeutet Aufklärung nicht geradezu zwingend immer auch im doppelten Sinne Aufklärung der Herrschenden? Könnte eine neue Rezeption der Kritischen Theorie als Krisentheorie, die das Zerstörungsniveau des globalen Kapitalismus und seine weltweiten Barbareien nüchtern und illusionslos analysiert, nicht auch für die intellektuelle Rechte neue Erkenntnisse bringen und für ein wenig Unruhe und Konsensstörung in der fellachisierten und disneyfizierten Aufklärungsmoderne mit ihrem verlogenen Werterelativismus und –pluralismus sorgen? Daß die Kritische Theorie kaum Trost bringt, dafür aber umso mehr Unbehagen, und man in dem Unbehaglichsten etwas entdeckt, was einen Verstummen läßt, Resignation und Bescheidwissen eben, gehört zu den unumgänglichen Risiken, die man einzugehen hat, will man die grausame Wahrheit des Politischen enthüllen. Doch sollte dies nicht unsere eigentliche Aufgabe sein?
Im Windschatten des vom Westen (USA, die NATO als selbsternannte Sicherheitspolizei für 600 Millionen Bürger, die sich zu Tode erweiternde EU und deren gekaufte öffentliche und private Medien) provozierten und geradezu sehnsüchtig herbei geredeten und geschriebenen Ukraine-Rußland-Konflikts haben neuerdings auch Teile der verfassungstreuen Rechten in der AfD – von den Liberal-Konservativen (Tichys Einblick, Freie Welt, Ach gut etc.) ganz zu schweigen – ihre hemmungslose Liebe zur Aufklärungsideologie samt der berüchtigten „westlichen Werte“ (positive Diskriminierung, Critical Race Theory, Wokeness, Me too-Bewegung, Political Correctness, LGTBQ-Rechte, Geschlechtervielfalt, Gender-Wahn, Homo-Ehe, ideologisch versiffte Gleichstellungspolitik, Hypermoral, Schuldkult, Diffamierung und Verfolgung politischer Dissidenten, pseudo-moralischer Hedonismus, Zerstörung der staatlichen Institutionen, fortschreitende Islamisierung, Subjektivismus, Relativismus, Utilitarismus, abstrakte demokratische Prinzipien, schändliche Merkantilität, Gleichheitskult etc.) entdeckt, die gerade in Ungarn und Serbien eine vernichtende Wahlniederlage erlitten haben. Man könnte dies als peinliche politische Dummheit abtun, aber ganz so einfach ist die Sache dann doch nicht.
Vom christlichen Standpunkt aus hat sich der Mensch durch die antichristlich-freimau-rerisch-liberal inspiririerte Aufklärung von Gott gelöst, sich deren verlogene Phraseologie aufzwingen lassen und ist schließlich dem Wahn verfallen, er könne sich selbst aus eigener Kraft gestalten und entfalten. Ganz abgesehen davon, daß dies das Programm des Great Reset und der Neuen Weltordnung ist, hat er sich damit zugleich auch von seinem Seinsgrund gelöst und ist das Nichts und die Lüge selbst geworden. Als der wichtigste katholische Philosoph der jüngeren Generation, Vittorio Hösle, der schon mit 21 Jahren Universitätsdirektor war, Deutschland aus guten Gründen den Rücken kehrte, sagte er im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die deutschen Universitäten seien „völlig verrottet“ und floh in die US-amerikanische Elite-Universität Notre Dame. Und während die Aufklärungsphilosophie von angeblichen Menschenrechten daherredet, wird allein in Deutschland jährlich über 100.000 ungeborenen Menschen das einzig wahre Recht des Menschen, nämlich an der Prüfung, die das Leben darstellt, teilnehmen zu dürfen, gewaltsam verwehrt. Ähnlich verhält es sich mit der sogenannten „Würde des Menschen“, die sogar das geltende Grundgesetz anführt, über das Professor Carlo Schmid und der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer nun wirklich das Nötige gesagt haben, das von Bayern und der KPD aus sehr guten Gründen abgelehnt und bis heute dutzende Male geändert wurde, ohne jemals den Rang einer echten Verfassung zu erlangen.
Das Grundgesetz beginnt mit einer faustdicken Lüge, denn die Würde des Menschen wird tagtäglich im Sekundentakt verletzt, es müßte also korrekt heißen „Die Würde des Menschen sollte unantastbar sein!“ Ganz abgesehen davon, was ist eigentlich mit den viel zu vielen vollkommen würdelosen Menschen, bei denen es nun wirklich und wahrhaftig nichts mehr zu verletzen gibt?
Es war zu erwarten, daß die radikale Kritik der bürgerlichen Aufklärungsideologie auf breiten Widerstand beim linksliberalen, akademischen Publikum im „besten Deutschland, das es je gab“ (Steinmeier) stieß und weiterhin stößt. Umso verwunderlicher, daß in Bezug auf den realen Krisenprozeß der global-kapitalistischen Warengesellschaft und des massendemokratischen parlamentarischen Systems nun auch demokratische Rechte und Rechts-Konservative am Glasperlenspiel bürgerlicher Esoterik teilnehmen, und dies unter dem Eindruck fortschreitender Barbarei der westlichen Moderne und ihrer Krisengesellschaft, und während die USA faktisch die ganze Welt sanktioniert, außer sich selbst natürlich. Die sogenannte Aufklärung als Ausgangs- und Endpunkt des „erlaubten Denkens“ verbrüdert sich inzwischen völlig ungeniert mit der Warnung, sich ja nicht an den heiligen Kühen des Westens zu vergreifen und denunziert den Versuch den Ukraine-Rußland-Konflikt sachlich und ernsthaft zu analysieren und zu verstehen als „reaktionäre Komplizenschaft“ mit Rußland, als „irrationale Sehnsucht“ und „Rückfall in die Vormoderne“.
Diese rechts-bürgerliche Suada ist indes selbst nichts anderes als aufklärerisches Geschwätz im Endstadium, denn nicht einmal ansatzweise begreifen diese Arbeitsbienen der global-kapitalistischen Modernisierungsbewegung, die jeden Winkel der Erde kommerzialisiert, ausplündert und bedroht, daß Politiker wie Trump, oder Putin – so unzureichend und scheinbar unreflektiert ihre Worte und Taten auch bisweilen sein mögen – gegenüber den westlichen Ikonen der Aufklärung, die unsere Völker und Staaten von Grund auf zerstören, bewußt oder unbewußt als Aufhalter agieren. Es ist jedoch eine Variante der falschen Pietät der Aufklärungskritik die Rolle des Katechon in der Geschichte zu unterschätzen, zumal sich die Feinde der Aufklärungsideologie ständige Distanzierungsspielchen aus nahe liegenden Gründen überhaupt nicht leisten können. Die rechten und konservativen Fans der Aufklärung sind sich nicht einmal zu schade in die vor demokratischem Pathos nur so triefenden Leitartikel der Lückenmedien einzustimmen, wenn es gilt das „Reich des Bösen“ wieder aufleben zu lassen und dem (selbst) mörderischen, chauvinistischen ukrainischen Regime samt der korrupten (Pandora Papers) US-Marionette Selenskji in einem Anfall von manifestem Schwachsinn zu applaudieren, bei seinem perfiden Versuch, Europa in einen immer wahrscheinlicher werdenden atomaren Weltkrieg gegen Rußland zu hetzen.
Der heilige Kriegerwahn des Westens erscheint diesen Leuten plötzlich als große zivilisatorische Errungenschaft, die es gegen den „Iwan“, die kulturkritischen Pessimisten und Putin-Versteher zu verteidigen gilt. Zwar sind dem russischen Volk republikanische und westliche Ideen seit jeher fremd, und sein natürlicher volkstümlicher Instinkt fand von Beginn seiner Geschichte nur Ausgleich im monarchischen Rechtsbewußtsein eines nationalen Selbstgefühls, aus dem historisch die Staatsform des Volkes erwuchs. Es ist daher vollkommen gleichgültig, ob Putin oder irgendeiner seiner Nachfolger ein „lupenreiner Demokrat“ ist oder eher ein autoritärer Autokrat, vielmehr kann es nur darum gehen, daß der Westen nicht das geringste Recht hat, in einem blutigen Verfahren oder durch betrügerische und erpresserische Sanktionen einem Volk eine Staatsform aufzuzwingen, die nicht seinem Rechtsbewußtsein entspricht.
Es ist der große Irrtum des Westens, dieses quasi monarchische Rechtsbewußtsein der absoluten Mehrheit der Russen, das in der Personifizierung der Macht und des Staates, einer mystisch-organi-schen Staatsauffassung und des Patriarchalitätsprinzips zum Ausdruck kommt, zu unterschätzen beziehungsweise in der typisch westlich geistigen Beschränktheit nicht zu verstehen, und weit über 80 Prozent des russischen Volkes mit der kleinen Minderheit einer urbanen Intelligenzija und einigen Künstlern verwechseln, die eine Demokratie westlichen Zuschnitts mit totaler Freiheit und Selbstbestimmung gleichsetzen. Doch egal aus welchem Stall des Konservativismus oder der Rechten sie kommen, in ihrer Pferdepanik galoppieren sie alle schnurstracks zurück in die Kalte-Kriegs-Romantik und –Logik der frühen BRD und stottern fieberhaft die abgedroschensten Phrasen der global-kapitalistischen Konstitution daher.
Es hat etwas Gespenstisches an sich, mit ansehen zu müssen, wie die verbliebene konservative Intelligenzija mit den globalistischen Hardlinern darin wetteifert, wer die längst fad und abgeschmackt gewordenen Essentials der Aufklärung am lautesten und provokantesten hinausschreit. Was schon lange auf den Müll der Geistesgeschichte gehört, wird hemmungslos nachgeplappert, und seien es die am stärksten sedimentierten Begriffe des Aufklärungsdenkens. Der Grund dafür läßt sich leicht erklären: Man möchte sich endlich auch von der nicht standesgemäßen Gegenaufklärung und Antimoderne absetzen, von einem als reaktionär, irrational und elite-ideologischen Standpunkt, möchte endlich auf der richtigen Seite landen oder zumindest gedeutet werden. Tatsächlich gehört es jedoch seit jeher zu der innerrechten Schmutzkübelei Abweichler zu „Reaktionären“ zu erklären und das kritische Denken einzustellen, sobald es die Demarkationslinie der bürgerlichen Ordnung und Ontologie zu überschreiten droht. Doch genau damit wird der innere Zusammenhang zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung, Moderne und Antimoderne, den Adorno und Horkheimer bereits vor vielen Jahrzehnten erkannten, verdunkelt. Um den „Dunkelmännern“ der Reaktion nicht gänzlich zu verfallen, kriechen manche Rechte nun regelrecht zu Kreuze, was auch damit zu tun hat, daß sie die Herkunft und den Ursprung der bürgerlichen Aufklärung und der reaktionären Gegenaufklärung nie wirklich verstanden haben oder nicht verstehen wollten.
Mit den historischen Fakten hat diese modernisierungsideologische Heuchelei jedoch nichts zu tun. Die emanzipatorische Antimoderne verwirft hingegen in ihrer Meta-Kritik den abstrakten Universalismus und Internationalismus, die nach Botho Strauß „nicht von der Liebe zum Fremden, sondern vom Haß auf das Eigene geprägt sind“, und die heute im zerschlissenen Gewand des Global-Kapitalismus daherkommen, zugunsten der Nation, die abstrakten, atomisierten Individuen zugunsten der Völker, denn nach einem Wort Dostojewskijs sind die Völker „Gedanken Gottes“ und sie verwirft den repressiven Fortschritt zugunsten der sowohl transzendenten als auch immanenten Gegenaufklärung. In diesem Sinne hat man als Reaktionär der Aufklärung für keinerlei „zivilisatorische Mission“ zu danken, sondern sie entschieden zu bekämpfen, da ihr keinerlei positiver Sinn des Leidens abzugewinnen ist wie etwa der christlichen Religion. Verlieren wir diesen Kampf, wonach es derzeit leider aussieht, wird der zukünftige Kern unserer Freiheit darin bestehen, daß wir uns unsere Unfreiheiten dann selbst aussuchen dürfen. |