Sprachgewaltiger Universalist von zeitloser Bedeutung: Erinnerung an Gerd-Klaus Kaltenbrunner
von Magdalena S. Gmehling
Zehn Jahre nach seinem Tod soll eines schöpferischen Rechtsintellektuellen gedacht werden, der gerade heute eminent aktuell erscheint. Gerd-Klaus Kaltenbrunner, einer der bedeutendsten theoretischen Denker eines aufgeklärten Konservatismus, war eine vielseitige Natur. Der Essayist von internationalem Ruf, Ideenhistoriker und Polyhistor, galt zur Zeit des Kalten Krieges auch als Einzelgänger im geistigen Kampf gegen den linksrevolutionären Mainstream. Kaltenbrunner vertrat eine humanistisch-überkon-fessionelle und zukunftsoffene Theorie des Konservatismus. Universal gebildet und ein fast dichterischer Mensch von großer Anspruchslosigkeit, den man keineswegs auf einen politischen Denker reduzieren darf, verkörperte er den Typ des unbestechlichen Zeitdiagnostikers.
Spürsinn für die natürlichen und politischen Gegebenheiten, die Notwendigkeit eines neuen Geschichtsverständnisses und die Überzeugung, dass nur sinnstiftende Traditionszusammenhänge gegenwartsbedeutsam sind, durchziehen sein Werk. Der überaus produktive Publizist verfügte über die seltene Gabe, auf wenigen Seiten und in brillanter Sprache, historische Gestalten, Zeitalter, geistige Strömungen, Weisheiten, Verwerfliches wie Heiliges zu verlebendigen. Mit Jakob Burckhardt war er der Ansicht, dass ein Sich-aussprechen aller Kräfte echt europäisch sei und ein immerwährender Reichtum an Intelligenz, Energie und Schöpfertum europäischen Geist beseelt. Die Eigenart Europas gründet sich auf das griechische Denken, auf römischen Realismus und Tatsachensinn, sowie auf das christliche Erbe, welches den Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen, der Freiheit, der Brüderlichkeit, der geistbegabten Personalität, der Erlösungsbedürftigkeit und der erbarmenden Liebe vertritt. (vgl. Vom Geist Europas. 2019 S. 13) Das faszinierende Panorama abendländischer Kultur, welches im Werk des enzyklopädisch gebildeten Denkers und Ideenhistorikers mit großer erzählerischer Souveränität beschworen wird, verweist eindringlich auf jene Güter, welche europäische Humanität begründen: auf Freiheit, Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit und Rechtssicherheit.
Kaltenbrunner wurde am 23. Februar 1939 in Wien geboren. Er studierte Jura, Philosophie und Staatswissenschaften. 1962 übersiedelte er nach Deutschland, lebte in München und später im Schwarzwald. Zunächst arbeitete er als Lektor wissenschaftlicher Verlage, betreute 1968 als Cheflektor den Rombach Verlag und versuchte diesen konservativ auszurichten. Der junge Publizist machte früh mit zwei großen Anthologien auf sich aufmerksam. 1970 erschien „Hegel und die Folgen“, 1972 „Rekonstruktion des Konservatismus“ 1973 „Konservatismus international“ und 1975 „Der schwierige Konservatismus“. Von 1974 bis 1988 gab Kaltenbrunner im Herder Verlag die Taschenbuchreihe „Herder Bücherei INITIATIVE“ heraus. Der Editor – ein Befürworter lebenswichtiger alternativer Haltungen, die dem Schutt zeitgeistiger Vorurteile Andersartiges entgegenzusetzen vermögen, betrachtete die 75 von ihm betreuten Bände als Zeugnisse einer Art Geheimuniversität. Die von ihm beabsichtigte Tendenzwende, die immer mehr zu einem konservativen Schlagwort wurde, blieb allerdings aus. In den achtziger Jahren verlagerte sich das Interesse des Autors von der Politik zunehmend auf die Kultur. Immer häufiger erlaubte er sich den Luxus, seinem enzyklopädischen Wissen durch den Zauber des Subjektiven jene Brillanz zu verleihen, die seine Leser so entzückte. Drei Bände „Europa- seine geistigen Quellen aus zwei Jahrtausenden“ (1981-1985) mit insgesamt mehreren hundert monografischen Essays erschienen. Die Trilogie „Vom Geist Europas“ folgte (1987-92). Gestalten, Landschaften, Lebensformen der verschiedensten Länder und Zeitalter leuchten kometenhaft auf, sind Anlass und Rechtfertigung, die herausragende Stellung Europas als geistige Grundlage der Weltkultur zu befestigen.
Mit welch müheloser Leichtigkeit und unbestechlichem Wirklichkeitssinn der Literat über die ausgefallensten Themen zu plaudern wusste, beweisen die Aufsätze, welche er jahrelang monatlich im Forum für Kultur Politik und Geschichte, der Zeitschrift MUT, veröffentlichte. Die Spuren persönlichen Erlebens vermischen sich mit tiefschürfenden Betrachtungen, historisch bedeutsamen Geschehnissen und Lebensweisheiten. Immer wieder stoßen wir auf Spuren nostalgischer Erinnerungen. Seiner Heimatstadt Wien hielt Kaltenbrunner lebenslang die Treue. Ob er nun den „priesterlichen Harlekin“ und Wahlwiener Zacharias Werner genial verlebendigt oder die Wege Clemens Maria Hofbauers mit seinen eigenen Streifzügen durch die Stadt vergleicht, immer ist es die Phantasie als Grundprinzip des Weltprozesses, die ihn überwältigt. Dies schon in sehr frühen Jahren. „Gab es für mich als Kind überhaupt ein feineres Geschenk zum Geburtstag, eine erlesenere Belohnung für ein befriedigendes Schulzeugnis, als ein Theaterbillett? Schon die bloße Andeutung, dass eine solche Gabe winke... zeitigte bei mir sonst unerreichbare pädagogische Folgen. ...Sie fruchtete besser, als alle Versuche disziplinarischer Bändigung. ... Dem die Phantasie beflügelndem Ultimatum der Eltern... unterwarfen sich die andernfalls kaum bezähmbaren Gelüste des Raufens, Naschens oder Schulschwänzens.“ Das „Wintermärchen“ von Shakespeare erfüllt den Buben mit solch leidenschaftlicher Erregung, dass er noch Jahrzehnte später schreibt: „Aus der Erinnerung an die Träume der Jugend entstehen im Alter hintergründige Märchen, und raunender Märchenmund überliefert zeitenthobene Weisheit den nachgeborenen Jungen. Wie in den anderen Spätwerken gibt sich uns Shakespeare auch im Wintermärchen als eine eingeweihte Seele zu erkennen. Sie scheint mit empfindsamen Organen für die verborgene Harmonie einer zutiefst musikalischen und gnadenfähigen Weltordnung ausgestattet zu sein. Aus diesem erfühlten Wissen, das dem Geheimnis nicht feind, sondern hold ist, schöpft der Dichter die beglückende Zuversicht, dass alles, was sich der Errettung nicht von vornherein freventlich verschließt, auch gerettet zu werden vermag. Durch alle Irrungen und Wirrungen hindurch hat eine huldreiche, sozusagen mozartische Macht das letzte Wort. Ein Licht, wie es nur einer unvordenklichen, weltüberlegenen Wirklichkeit erstrahlen kann, umspielt barmherzig versöhnend das Irdische, das sich zwischen Königshöfen und Schäferkaten begibt.“ (MUT Nr. 317 S. 80 ff)
Seit Anfang der neunziger Jahre galt Kaltenbrunners Schaffen seinem religiös-mysti-schen Spätwerk. Stille, Betrachtung, Lesung und Gebet füllten seine Tage und Nächte. Mit dem Engelszeller Benediktinerabt Severin Ammerbacher war er der Ansicht, dass Einsamkeit die Heimat der Weisen sei und sogar ihr Schweigen reines Gebet und wortloser Hymnus. In Kaltenbrunners historischen Ideenroman „Johannes ist sein Name. Priesterkönig Gralshüter Traumgestalt“ (Die Graue Edition 1993), spiegeln sich meta-historische Wahrheiten und sinnbildträchtige geistige Strömungen variationsreich wider. Der Spürsinn für die Ganzheit christlichen Glaubensgutes ließ ihm die „neue“ nachkonziliare Kirche hochgradig verdächtig erscheinen. In seinem Opus magnum, dem letzten, 1385 S. umfassenden Werk „Dionysius vom Areopag. Das Unergründliche, die Engel und das Eine“ (Die Graue Edition 1996) geißelt er die Absicht, das Christentum umzugestalten in eine liebenswerte und angenehme, offene und weltangepasste Einrichtung. Die katastrophale Apostasie zu erleben, der wir heute schmerzlich ausgeliefert sind, blieb dem Eremiten erspart. Kaltenbrunner verstarb am 12. April 2011. Auf dem Friedhof in Perchtoldsdorf, nahe seiner geliebten Heimatstadt Wien, befindet sich seine letzte Ruhestätte. |