Teil II
Am 15. August traf das Grabtuch Christi schließlich in Konstantinopel ein und wurde vom Kaiser selbst begeistert empfangen. Dennoch ruhte es noch eine Nacht im sogenannten Blachernenviertel der Stadt in seiner Truhe, von Kerzen und Weihrauchschalen umringt. Am nächsten Morgen, dem 16. August und zukünftigen Feiertag des Grabtuches unseres Herrn im byzantinischen Kalender wurde das Grabtuch vor einer langen Prozession, die vom Kaiser angeführt war, vor den Toren der Stadt zur Porta Aurea, dem Großen Goldenen Tor der Stadt getragen, wodurch seit jeher die Triumphzüge der Kaiser Einzug hielten. Gesäumt von tausenden Bewohnern der Stadt, die dem Leinen zujubelten, führte der Zug zur Hagia Sophia, wo er vom Patriarchen von Konstantinopel, Theophylakt, empfangen wurde. In der Hagia Sophia ergriff dann der Archidiakon Gregorius das Wort. In seiner Predigt über das Leintuch aus Edessa stellte er fest, dass darauf eine geheimnisvolle Gestalt in seiner Gänze abgebildet sei, darüber hinaus Blut, welches, wie es den Anschein hat, zumindest an der Brustwunde mit Wasser vermischt gewesen sein muss. Instinktiv erkannte er, dass es sich hier sowohl um ein Körperbild des Heilands, als auch um Spuren seines Martyriums handelte. Bei diesen überlieferten Worten kann man sich fast bildlich vorstellen, welche Atmosphäre im goldenen Dämmer der Hagia Sophia herrschte, als den Zuschauern erstmals das Grabtuch in seiner ganzen Länge gezeigt wurde. Was danach folgte, ist von eindrücklicher Ergriffenheit geprägt. Nachdem Gregorius seine Predigt beendet hatte, formte sich erneut ein Prozessionszug, dieses Mal Richtung des kaiserlichen Viertels, genauer zum Thronsaal der byzantinischen Kaiser. Dort angekommen nahm Konstantin VII. seinen Purpurmantel ab – jenes von Rom geerbte Symbol höchster weltlicher Macht und Würde, niemand außer dem Kaiser war es gestattet Purpur zu tragen – und legte ihn sich über die Arme gleich einer Decke. Der Archidiakon Gregorius legte nun das heilige Leinen in die Arme des Kaisers. Der Kaiser wagte es nicht, das Mandylon mit bloßen Händen zu berühren und hielt es nur auf seinem Purpurmantel in den Armen. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass das kaiserliche Zeremoniell den Untertanen verbot, den Kaiser direkt zu berühren, ist es rührend, mit welch gebührender Ehrfurcht Konstantin VII. das Grabtuch behandelte. Die Umstehenden sahen wohl bewegt, wie der Kaiser sein Haupt in liebevoller Verehrung auf das Abbild legte. Noch heute existiert von dieser Szene ein altes Bild. Das Leinen empfangen, breitete er es nun auf seinem Mantel auf seinem Thron aus, sodass das Abbild Christi, der König der Könige gleich einem Kaiser mit königlichem Purpur ummantelt auf dem Thron saß. Diese Verehrung des Mandylons wurde von Konstantins Nachfolgern in der Folgezeit jährlich wiederholt. Auch wurde neben den hohen Thron des Kaisers ein zweiter, leerer aufgestellt: der Thron des „obersten und unsichtbaren Herrschers“. Nachdem die Zeremonie beendet war, wurde das Grabtuch in die Kirche St. Maria am Pharos übertragen, wo es in den kommenden Jahrhunderten in der Regel aufbewahrt wurde. Jeden Freitag, zu besonderen Gelegenheiten und jährlich am 16. August wurde es zur Verehrung hervorgeholt. In der Regel bekamen es aber nur hohe Würdenträger und geschätzte Besucher des Kaisers zu Gesicht. Zum Beispiel in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts dem Engländer Gervasius von Tilbury, einem hohen kirchlichen Würdenträger und Gast des Kaisers. Jener Engländer berichtete über seinen Aufenthalt, er habe ein Leinentuch gezeigt bekommen, das – „tam amplum et extensum“ – einen vom Kreuz abgenommenen Körper zeigt. (zit. SILIATO 1999, S. 211) Ein anders Beispiel ist jener erwähnte Diplomat aus Budapest, dessen Besuch die Abbildung im Codex Pray zu verdanken ist. Auch dem König von Jerusalem, Amalrich I. wurde diese Ehre bei einem Besuch in Konstantinopel 1171 zuteil. Wer konnte zu diesem Zeitpunkt schon ahnen, dass bereits 33 Jahre später die Kaiserstadt selbst zum Ziel eines blutigen Angriffs aus dem Westen werden sollte, in dessen Verlauf das Grabtuch von Unbekannten aus der Kirche in den Blachernen gestohlen wurde.
Im Jahre 1203 wurde der byzantinische Kaiser Alexios IV. von einem Rivalen entthront und aus der Stadt gejagt. Daraufhin wandte sich dieser Hilfe suchend nach Westen und stellte eine fürstliche Belohnung in Aussicht. Der vierte Kreuzzug, der ohnehin schon in voller Planung war, wurde nun – vor allem durch venezianischen Einfluss – umgeleitet, sodass das Heer der Kreuzfahrer kurzentschlossen nicht ins Heilige Land fuhr, sondern auf Konstantinopel die Segel setzten. So endete, was als Versuch begann, das Heilige Land den Sarazenen zu entreißen, in einer brutalen und schändlichen Plünderung und Brandschatzung der östlichen Kaiserstadt. Unter all den geklauten Reliquien war aber auch ein Tuch aus Leinen, jenes Tuch, etwa vier Meter lang, dass den Abdruck des gekreuzigten Christi trug und als größter Schatz der Kaiser galt. Wir wissen von diesem Tuch in Konstantinopel von einem französischen Ritter namens Robert de Clari, der in den Tagen und Wochen vor der Plünderung ausreichend Gelegenheit hatte, die große Fülle an Schätzen und Reliquien der Stadt zu bewundern. Es lässt sich kaum ausmalen, welchen Eindruck Konstantinopel, die Weltstadt der damaligen Zeit mit ihren Palästen schieren Ausmaßen und ihrem Reichtum auf einen einfachen Ritter aus dem französischen Landadel gemacht haben muss. Robert, ein gewissenhafter Beobachter, versuchte so viel wie möglich der dort zur Schau gestellten Reliquien zu beschreiben. Aus seinem Bericht ist vor allem eine Passage interessant: „Unter anderem gibt es da noch eine Kirche, die man Unsere Frau Maria von Blacherne nennt, worin das Leichentuch war, in das Unser Herr eingehüllt wurde, und das sich an jedem Freitag völlig aufrichtete, so daß man ganz deutlich die Gestalt darauf sehen konnte. Doch niemand, weder Grieche noch Franzose weiß, was mit diesem Leichentuch geschehen ist, als die Stadt eingenommen wurde.“ (zit. SILIATO 1999, S. 226) Vermutlich hat Robert de Clari nach dem Tuch gesucht. Gefunden hat er es aber nicht, so intensiv er auch danach forschte.
Wer das Grabtuch letztlich entwendete und aus der Stadt brachte, muss wohl immer ein Geheimnis bleiben. Der Weg des Tuchs führte es aus dem Morgenland und bis auf den heutigen Tag ist es niemals mehr dorthin zurückgekehrt. Nun sollte aber der wohl geheimnisvollste und verworrenste Abschnitt in der bisher 1.200-jährigen Geschichte des Leinens beginnen. Es senkte sich erneut der Schleier des Vergessens über das Grabtuch des Heilands und es sollte weitere 150 Jahre dauern, bis es endlich wiederauftauchte, nun an einem Ort, weit entfernt von Konstantinopel. Das Grabtuch Christi war im christlichen Abendland angekommen. Das Mandylon wurde, wie schon erwähnt, in der Kirche St. Maria in den Blachernen aufbewahrt. Und der erste Ritter, der während der Eroberung Konstantinopels in die Kirche eindrang, war der Franzose Othon de la Roche, welcher nach der Eroberung Konstantinopels Ende 1204 die Stadt Athen als Lehen bekommen hatte. Er nannte sich fortan Herzog von Athen. Bei seiner Plünderung des Blachernenkirche muss er sich irgendwie dem Grabtuch bemächtigt und es aus der Stadt geschafft haben. Dafür spricht zumindest ein Dokument, welches 1910 in einem Codex in der Nationalbibliothek von Palermo entdeckt wurde und dem lange Zeit keine Aufmerksamkeit geschenkt worden war. Obwohl der Codex bei der Bombardierung Palermos 1943 zerstört wurde, existieren bis auf den heutigen Tag glücklicherweise zwei Kopien, die im 19. Jahrh. auf Geheiß des Erzbischofs von Monreale angefertigt wurden.
Bei dem Dokument handelt es sich um die Abschrift des Bittgesuchs eines gewissen Theodoros Angelos Komnenos, eines Verwandten des letzten rechtmäßigen byzantinischen Kaisers, das am 1. August 1205 Papst Innozenz III. überreicht wurde. In diesem gibt es eine interessante Stelle: „Wir wissen, dass diese heiligen Gegenstände [Reliquien A.d.A] in Venedig, in Gallien und an anderen Orten der Plünderer aufbewahrt werden, das heilige Tuch aber wird in Athen verwahrt. (…) Sollen die Plünderer doch das Gold und das Silber behalten, das, was uns heilig ist, aber an uns zurückgeben.“ (zit. SILIATO 1999, S. 238). Wenn Theodoros Angelos Komnenos also gewusst hat, dass das Grabtuch von Othon de la Roche in Athen versteckt wurde, muss es irgendjemandem gezeigt worden sein. Und eine dieser Personen hatte geredet. Wenn aber sogar der Feind, also die Byzantiner, wussten, wo sich das Grabtuch befindet, war davon auszugehen, ein nicht kleiner Kreis von Menschen wusste um das Leinen in Athen. Wie dem auch sei, für Othon de la Roche wurde es mit jedem Tag gefährlicher, das Tuch in Athen zu verwahren, galt es doch als der größte Schatz des Kaiserreichs Byzanz und weckte bei allen, die darüber wussten Begehrlichkeiten. Zumal der Besitz des Leinens unter Androhung der Exkommunikation verboten war, war es doch widerrechtlich aus Konstantinopel entfernt worden. Auch der Papst schien davon zu wissen, der alles andere als erfreut darüber gewesen sein muss. So blieben de la Roche kaum noch Auswege, heil aus der Sache herauszukommen. Es war diese Situation, in der sich de la Roche womöglich den Tempelrittern anvertraute, die in ihrer Machtfülle sogar dem Druck aus Rom zu widerstehen vermochten? Hat also der Herzog von Athen sich seiner gotteslästerlichen Beute vielleicht gegen eine hohe Summe entledigt und sie in die Obhut jenes verschwiegenen und geheimnisumwitterten Ritterordens gegeben?
Wenn die Theorie stimmt, war das Grabtuch nun in Besitz der Tempelritter. Als diesen zwischen 1307 und 1314 von Phillip dem Schönen von Frankreich ein grausamer Prozess gemacht wurde, war einer der Anklagepunkte, die Templer würden ein geheimnisvolles bärtiges Antlitz anbeten. Der Tempelherr Raoul de Gizy legte unter der Folter der Inquisition das Geständnis ab, dieses Abbild angebetet zu haben, weil es ihm Angst machte. War dies das geisterhafte Abbild Christi auf dem Leinen, welches dem Templer Angst einjagte oder doch vielmehr das Wissen um seinen gotteslästerlichen Diebstahl, der mit Exkommunikation und Todesstrafe geahndet wurde? Nachweisen lassen wird sich diese Theorie freilich niemals zur Gänze, denn bei den Templern wurde nie ein solcher Gegenstand gefunden. Wäre es aber nicht möglich, dass die Tempelritter das Leintuch Christi, welches sie selbst vor 100 Jahren aus Athen schmuggelten, nun zu verstecken suchten, damit es den Franzosen nicht in die Hände fiele? Auf jeden Fall tauchte das Leinen 35 Jahre nach der Hinrichtung des letzten Großmeisters der Templer, Jaques de Molay im Besitz des Ritters Geoffroy de Charny auf. Und hier schließt sich der Kreis. Einer der Vorfahren jenes Geoffroys de Charny war der gleichnamige Charny, welcher zusammen mit Jaques de Molay den Scheiterhaufen bestieg. War jener Geoffroy de Charny womöglich der Verwahrer des Leintuchs und versteckte dies vor seiner Verhaftung bei seiner Familie? Aber nicht nur unser Ritter Geoffroy selbst, auch seine Frau Jeanne de Vergy könnte das Grabtuch in die Familie gebracht haben. Sie stammte nämlich in direkter Linie von Othon de la Roche ab, dem Plünderer der Blachernenkirche. Die Familie de Charny war also auf das engste mit den Vorgängen nach 1204 verbunden, wie auch immer diese im Einzelnen ausgesehen haben mögen.
Wissenschaftlich untersucht
Von Anfang an begleitete die Untersuchung des Leinens die Aura der Unerklärlichkeit. Schon die erste Fotografie des Tuchs durch Secondo Pia bestätigt dies. Zeigen doch die Aufnahmen, dass das Abbild auf dem Grabtuch das eigentliche Negativ-Bild ist, sodass das Negativ der Fotografie das Positiv-Bild „des Mannes auf dem Grabtuch“ darstellt. Auf diesem kann man auf diesem das Gesicht des Gekreuzigten in aller Klarheit erkennen: Lange, gewellte Haare, einen Bart und das edle Gesicht eines zu Tode Gefolterten. Das rechte Jochbein ist geschwollen, ebenso wie die Nase und das ganze Gesicht schien von Wunden bedeckt. Und obwohl Kritiker sogleich behaupteten, dieser Effekt sei auf einen Fehler Pias zurückzuführen, konnte 1931 der Berufsfotograf Giuseppe Enrie mit einer weiteren Fotoserie des Grabtuchs diesen Negativ-Effekt zweifelsfrei bestätigen. Heute kann man diesen Effekt übrigens mit jeder Handy-Kamera und einem digitalen Negativ-Filter sichtbar machen. Erstmals wissenschaftlich untersucht wurden die Bilder Pias durch einen Anatomen und Pathologen der Pariser Akademie der Wissenschaften zu Beginn des 20. Jh. Yves Delage, einem weltanschaulichen Agnostiker. Delage konnte zweifelsfrei nachweisen, dass das Abbild auf dem Tuch der Abdruck einer Leiche war. Dieser war durch eine Kreuzigung zu Tode gekommen, der eine Geißelung und eine Dornenkrönung vorausgegangen waren. Dabei stellte er fest, dass die Wunden anatomisch korrekt abgebildet waren. Das legte seiner Meinung nach den Schluss nahe, es handle sich hierbei keinesfalls um eine mittelalterliche Fälschung. Sein 1902 vorgelegter Bericht wurde von der Leitung der Pariser Akademie dennoch abgelehnt. Er sei abergläubisch verfärbt, weil er annimmt, das Grabtuch sei in der Tat das Grabtuch Jesu gewesen. Weitere Erkenntnisse über das Grabtuch stammen im Wesentlichen aus dem Jahr 1978, in dem einer Gruppe von 30 Wissenschaftlern (STURP-Team) erstmals erlaubt wurde, das Leinen mittels modernster Technik zu untersuchen. Es wurden unzählige Bilder gemacht, Proben von Fasern, Blutresten und anderer Substanzen, die sich auf dem Tuch befanden, mittels spezieller Klebestreifen entnommen und untersucht. Die Ergebnisse wurden 1981 vorgestellt. Weitere Untersuchungen folgten im Jahr 2002 die anlässlich der Restaurierung des Tuchs gestattet wurden. Wo immer das Grabtuch im Laufe der Geschichte ausgestellt wurde, wirkte es wie ein feinmaschiges Schleppnetz, das alle Substanzen in sich aufnahm, die zu dieser Zeit um es herum in der Atmosphäre waren. Demnach müssten auf der Oberfläche des Leinens Spuren zu finden sein, die den Weg des Leinens durch die Geschichte rekonstruierbar machen lassen sollten.
Unter den auf dem Tuch gefundenen Substanzen sind diesbezüglich vor allem Pollen aufschlussreich, denn Pollen lassen sich unterm Mikroskop sehr gut voneinander unterscheiden. Der Schweizer Kriminologe und Botaniker Max Frei hatte 1973 damit begonnen sich auf die Suche danach zu machen. Er konnte neben Pollen aus Frankreich und Italien zu seiner Überraschung auch Pollen identifizieren, die in der Gegend um Konstantinopel vorkommen. Weitere Pollenfunde deuten darauf hin, dass das Leintuch auch eine Zeit lang in der Nordtürkei aufbewahrt wurde. Ebenso entdeckte er 13 Pollenarten, die ausschließlich in der Gegend um das Schwarze Meer vorkommen. Daraus schloss er, dass das Tuch im Laufe seiner Geschichte in Palästina gewesen sein muss. Die Konzentration dieser Pollen wies zudem darauf hin, dass das Leintuch den Großteil seiner Geschichte dort und nicht in Frankreich oder Italien verbracht haben muss. Der Turiner Professor der Botanik Silvano Scannerini pflichtete einige Jahre später dem Urteil Freis zu, nachdem „die Pollen von Pflanzen aus dem Nahen Osten dazu angetan sind, die Reise des Grabtuchs aus dem asiatischen in den europäischen Raum plausibel zu erklären.“ (zit. nach WESSELWOW 2013, S. 151)
Überdies fand der Mineraloge Joseph Kolbeck 1983 auf den Klebestreifen, die Frei zur Entnahme der Pollen auf dem Tuch verwendet hatte, Gesteinsstaub und analysierte diesen. Er verglich den Staub mit Proben aus einem Grab bei Jerusalem. Die Ähnlichkeit zwischen beiden Proben war verblüffend. Proben von neun anderen Orten in Israel lieferten hingegen keine Übereinstimmung. Das Tuch muss also mit Kalkstein aus Jerusalem in Berührung gekommen sein. Womöglich lag es auf einer Bank aus Kalkstein in einem Grab nahe der Stadt? Nun kommen wir zu jenen Spuren auf dem Grabtuch, die so deutlich ins Auge fallen und eine Geschichte der Folter und Qualen erzählen. Jene dunklen Flecke, die allgemein für Blut gehalten werden und überall auf dem Abbild jenes Gemarterten zu finden sind. Zunächst einmal wären da die unzähligen Striemen, die sich über den ganzen Körper ziehen und vor allem auf Brust und Rücken besonders deutlich zu sehen sind. Mindestens 120 dieser Striemen wurden bei den Untersuchungen gezählt. Dann wären da noch die unregelmäßigen kleinen Einstichstellen im Kopfbereich zu erkennen. Aber vor allem stechen jene Wunden an den Handgelenken, den Füßen und nicht zuletzt jene große Wunde an der linken Seite des Brustkorbes hervor. Das STURP-Team konnte zweifelsfrei nachweisen, dass es sich hierbei wirklich um menschliches Blut handelte. Ein Fälscher hätte also nicht nur mit menschlichem Blut arbeiten, sondern auch sehr rasch und mit ständigem Nachschub arbeiten müssen. Denn menschliches Blut gerinnt nach ein bis zwei Minuten. Es gibt aber erstens keine Hinweise darauf, dass Maler im Mittelalter mit Blut gearbeitet hätten und zweitens würde es sich dann dabei um einen Anachronismus handeln, da es im Mittelalter ohnehin unmöglich gewesen wäre, die Reliquie darauf zu untersuchen. Zudem konnte der Pathologe Dr. Frederick Zugibe nachweisen, dass es sich hierbei um Blut post mortem handelt, beziehungsweise auf das Tuch gelangt sein muss. Der Leichnam wurde also vor der Bestattung gewaschen, was dem jüdischen Begräbnisritual um die Zeit Jesu entspräche. Auch ist der Bilirubinspiegel im Blut wegen einer Hämolyse deutlich erhöht, was auf schwere innere Verletzungen aufgrund grausamster Folter hinweist. Der Chemiker Adler im STURP-Team stellte schließlich fest: „Die Chemie sagt das Gleiche wie die Gerichtsmedizin. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie diese Chemie sich auf dem Tuch hat abspielen können: Das Tuch muss Kontakt mit dem Leichnam eines übel zugerichteten Mannes gehabt haben.“ (zit. nach WESSELWOW 2013, S. 140)
Was aber ebenso erstaunlich und für die folgenden Betrachtungen von großer Wichtigkeit ist, ist ein weiterer Umstand. Die Forscher haben bei der Untersuchung blutiger Leinenfasern feststellen müssen, dass das geheimnisvolle Abbild auf dem Tuch offenbar nicht unter den Blutflecken existiert. Unter diesen waren die Fasern nicht eingedunkelt. Das heißt aber, die Blutflecke müssen vor dem Abbild auf dem Tuch entstanden sein. Ein mittelalterlicher Künstler hingegen hätte diese, nachdem er das Abbild aufgebracht hätte, anbringen müssen. Stellt man sich hingegen vor, dass ein blutiger Leichnam in das Leinen gewickelt und in ein Grab gelegt wurde und in der folgenden Zeit das Abbild irgendwie auf dem Tuch entstand, ist die Reihenfolge durchaus logisch. Und damit auch zu dem geheimnisvollsten Aspekt des Turiner Grabtuchs: dem geisterhaften Abbild eines unbekleideten und gewaltsam zu Tode gekommenen Mannes. Um es gleich vorneweg zu sagen; bis heute ist es noch niemandem gelungen herauszufinden, wie genau das Abbild auf das Tuch kam. Es gar zu reproduzieren schon gar nicht. Man muss sich also unweigerlich die Frage stellen, wenn es heute mit den modernsten Methoden und dem Wissen um Bildentstehung nicht möglich ist, dieses Abbild zu erklären, wie soll es dann ein mittelalterlicher Künstler unbemerkt von aller Welt geschafft haben? Es wurde auf dem Tuch nach Farbe gesucht, aber keine gefunden, die beweisen würde, dass das Bildnis in irgendeiner Art gemalt war. Als sich einige Mitglieder des Teams mit Mikroskopen über das Linnen hermachten, wurde es nur noch mysteriöser. Das Leinen im Bereich des Abbildes sah unter dem Mikroskop wie normales Leinen aus. Rechtwinklig miteinander verwebte Fäden, die aus jeweils tausenden einzelnen Pflanzenfasern bestehen. Einige dieser Fasern wirkten aber nicht weiß, sondern goldbraun. Das changierende Körperbild bestand also aus solchen gefärbten Fasern. Als man einige der Fäden aufdröselte, stellte man fest, nur wenige der oberen Fasern waren gefärbt und nicht das ganze Faserbündel. Stellt man sich einen Faden wie einen Haarzopf vor, so waren nur einzelne wenige Haare gefärbt, der Rest hingegen war genauso farblos wie die Fasern außerhalb des Bildnisses. Zudem war die Verfärbung nur auf der Außenseite der Fasern zu erkennen. Auf der Innenseite waren diese auch weiß. Das Bildnis ist offensichtlich nur eine einzige Faser, den Bruchteil eines Millimeters tief, und dort wo sich die Oberfläche der gefärbten Faser nach unten wendet, verschwindet die Verfärbung. Ebenso dort, wo sich zwei gefärbte Fasern kreuzen, ist nur die obere erdunkelt. Die Fasern sind auch in keiner Weise miteinander verklebt. Dies gilt für die Vorderansicht und Rückenansicht gleichermaßen, was darauf schließen lässt, dass bei dem Bildgebungsprozess der Druck des aufliegenden Körpers keine Rolle gespielt hat, sonst wäre die Rückansicht ungleich deutlicher zu sehen. Eine Maltechnik, die das zustande bringt, gibt es aber nicht. Stattdessen hat man festgestellt, dass die Verfärbung der Fasern von einer stärkeren Oxidation des Gewebes herrührt. Die Fasern sind sozusagen vorzeitig gealtert und vergilbt. Die Intensität des Bildes indes ist immer nur von der Anzahl der getönten Fasern abhängig. Denn die Fasern sind alle gleichmäßig verfärbt. Merkwürdigerweise kann das Bildnis mit UV-Licht indirekt sichtbar gemacht werden. Denn beide Abdrücke fluoreszieren in keiner Weise, der Rest des Leinens jedoch schon. Was auch immer das Bildnis verursacht hat, löscht aus, was den Rest fluoreszieren lässt. Das bedeutet aber auch, das Abbild ich nicht mittels einer heißen Statue oder ähnlichem in das Leinen gebrannt worden. Dann würde das Abbild nämlich unter UV-Licht fluoreszieren.
Das Abbild ist auch kein Foto, sondern eine dreidimensionale Darstellung eines Leichnams. Mittels eines modernen Bildanalysegeräts (V8) konnten vom Abbild des Grabtuchs genügend Daten gewonnen werden, um ein dreidimensionales Bild des Mannes auf dem Grabtuch zu erzeugen. Das Tuch muss also direkten Kontakt mit dem Leichnam gehabt haben. Wie aber das gänzlich konturlose Bild, welches sich als detailliertes dreidimensionales Menschenbild präsentiert, auf das Leintuch gekommen ist, bleibt nach wie vor ein Rätsel. Und wenn sich am Ende doch rausstellen sollte, dass das rätselhafte Abbild eine Art materielles Überbleibsel des Auferstehungswunders sein sollte, dokumentiert das Grabtuch nicht nur das Leiden und Sterben, sondern auch die Auferstehung Jesu. Fakt ist auf jeden Fall, die Blutflecke sind definitiv vor dem Abbild selbst entstanden. Demnach müsste das Abbild in der dunklen Abgeschiedenheit der Grabeskammer durch einen bisher unbekannten Umstand entstanden sein. Vielleicht war Elektronenstrahlung dafür verantwortlich. Chemiker der Justus-Liebig-Universität in Gießen konnten zumindest eine dem Grabtuch ähnliche Verfärbung durch jene Strahlung dieser Art auf Leinen nachweisen. Und auch der renommierte US-amerikanische Chemiker Prof. Dr. Eberhard Lindner ist davon überzeugt, „dass das Auferstehungsgeschehen von einer elektrischen negativ geladenen Elektronenstrahlung von sehr hoher Dichte begleitet war. (…) Zunächst müssen nur die Protonen an der Oberfläche des Leichnams aus dem Dasein ins Nichts zurückgesunken sein, anschließend verschwand die gesamte Materie des Leichnams aus dem Dasein.“ (zit. HESEMANN, Michael: Das Bluttuch Christi. Wissenschaftler auf den Spuren der Auferstehung, München 2010, S. 282f.). Letztlich werden wir uns aber damit begnügen müssen, dass das Abbild auf dem Grabtuch wissenschaftlich gesehen nach wie vor als Wunder zu bezeichnen ist – was nicht gerade unpassend für ein außergewöhnliches Ereignis wie die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist.
Fälschungshypothesen
Trotz alledem; Fälschungshypothesen indessen sind mannigfaltig. So wurde behauptet, es sei gemalt oder mittels einer heißen Statue sei das Abbild auf das Leinen gesengt worden, oder es sei ein einzigartiges Beispiel von mittelalterlicher Fotografie. Auch wurde die Vermutung in den Raum gestellt, es sei eine lebendige Person in ein Leintuch eingewickelt worden, um dieses dann mit Schwefelsäure abzutupfen. Sogar Leonardo Da Vinci musste als genialer Fälscher herhalten. Es wäre reine Zeitverschwendung, an dieser Stelle genauer auf die einzelnen Hypothesen und Erklärungen einzugehen. Zu offensichtlich unhaltbar sind diese. Um aber zu verdeutlichen, in welche Lächerlichkeiten sich derlei Wissenschaftler verstricken, nur um nicht zugeben zu müssen, das Grabtuch könne womöglich echt sein: ein Beispiel. Erdacht hat sich dieses Dr. Michael Straiton, der die Hypothese in den Raum stellte, der Tote vom Grabtuch sei ein Kreuzfahrer aus dem Mittelalter gewesen, welcher von Mamelucken gekreuzigt wurde. Zwar mögen sich die Muslime zur Zeit der Kreuzzüge dieser abscheulichen und barbarischen Hinrichtungsmethode befleißigt haben, dennoch ist es mehr als lächerlich, diese Hypothese zu vertreten. Unsere historisch interessierten Muslime hätten demnach einen Mann mit einem römischen Flagellum geißeln müssen, das seit dem 4. Jahrhundert keine Anwendung mehr fand. Dann hätten sie den Mann mit dem Kreuzbalken beladen und ihn zur Kreuzigungsstelle treiben müssen, um ihm dort dann fachmännisch Nägel durch die Handgelenke und Füße zu treiben unter Verwendung eines römischen Suppedaneums, welches ebenfalls seit dem 4. Jahrhundert nicht mehr in Gebrauch war. Nachdem ihr unglücklicher Kreuzfahrer gestorben wäre, hätten sie seine Seite nach römischer Art mit einer römischen Lanze öffnen müssen, um ihn anschließend nach jüdischer Sitte geziemend zu begraben, statt ihn einfach zu verscharren. Sie hätten ihn von allem getrockneten Blut reinigen und nur das post mortale Lebensblut aussparen müssen, ihm den Unterkiefer hochbinden und in ein Leinentuch, nach antiker Technik hergestellt, wickeln müssen. Die Materialien, beziehungsweise das Tuch hätten aber dem Pollen- und Staubrestfund entsprechend aus der Gegend um Jerusalem stammen müssen. Zu guter Letzt hätten unsere eifrigen muslimischen Hobbyhistoriker das Begräbnisritual unvollendet gelassen haben und das Tuch nach einigen wenigen Tagen wieder entfernt haben müssen. Als historisches Szenario ist diese These spekulativ, unvernünftig, unlogisch und einzig von dem Wunsch beseelt, nicht wahrhaben zu wollen, was nicht wahr sein soll. Alle erhobenen Daten und Überlegungen hingegen weisen darauf hin, dass es sich hier tatsächlich um das Grabtuch Jesu handelt.
Die Radiokarbondatierung
Wenn doch aber alle Daten für die Echtheit des Grabtuchs sprechen und keine Fälschungshypothese auch nur annähernd eine zufriedenstellende Erklärung liefern kann, wie das Grabtuch gefälscht worden sein könnte, wieso weigern sich dann nach wie vor so viele, die Echtheit des Leinens anzuerkennen. Sicher liegt es mit dem Ergebnis der Radiokarbondatierung zusammen, die 1988 durchgeführt wurde, um das Alter des Leinens bestimmen zu können und seither immer wieder als „Ja, aber…“ herhalten muss. Demzufolge stammt das Leinen aus der Zeit zwischen 1260 und 1390. Interessanterweise gehörte zu den Wissenschaftlern, die die Untersuchung vornahmen kein einziger Archäologe. Doch wie jeder Archäologe weiß, ist dieser Test nur bedingt anwendbar, da er sehr störanfällig ist. Beispiele gibt es zuhauf: Ein eiszeitliches Mammut, das auf 3.600 v. Chr. datiert wurde oder eine Mumie, die 1.000 Jahre älter sein soll als die Leinenbinden, die sie umgeben. 1871 ließ das Britische Museum eine Schilfmatte aus dem Grab Tutanchamuns datieren. Das Ergebnis: 899-846 v. Chr. Tatsächlich starb der berühmte Pharao aber bereits 1323 v. Chr. Ein weiteres Beispiel für die Unzuverlässigkeit der Methode stammt aus dem Jahr 1989, wie der griechische Archäologe Spyros Iakovidis zu berichten weiß: „Ich hatte zwei verschiedene Labors in zwei verschiedenen Teilen der Welt eine bestimmte Menge derselben angekokelten Getreidekörnern geschickt. Ich erhielt zwei Altersangaben, die sich um 2.000 Jahre voneinander unterschieden; die fraglichen archäologischen Daten lagen genau in der Mitte dazwischen. Ich habe das Gefühl, dass dieser Methode nicht allzu sehr zu trauen ist.“ (zit. WESSELWOW 2013, S. 210f.).
Eine aus dem Jahr 1989 stammende Studie zur Genauigkeit der Radiokarbondatierung, in der 38 Institute das Alter von bereits datierten archäologischen Artefakten feststellen sollten, ist eigentlich Beweis genug. Nur sieben der Labors legten zufriedenstellende Ergebnisse vor. Der Rest lag meilenweit daneben. Im Falle des Grabtuchs gibt es sogar plausible Erklärungen dafür, warum das Ergebnis falsch sein muss. Neben vermuteten Verunreinigungen der Probe durch die Tausenden Hände, die das Grabtuch in seiner langen Geschichte berührten, lieferte der russische Biochemiker Dimitri Kutznetsov eine interessante Erklärung. Er nannte sie das „Fire Simulations Model“. Dieses basiert auf dem Umstand, dass ab einer Temperatur von 300 Grad Celsius ein Isotopenaustausch zwischen verschiedenen Materialien stattfinden kann. Dieser würde zu einer Verfälschung des Ergebnisses einer Radiokarbondatierung führen. Kutznetsov zufolge soll sich das im Brand von 1532 ereignet haben. Demnach war das Grabtuch bei den Löschversuchen einem wahren Wärmebad ausgesetzt, bestehend aus dem Leinen, Holz des Schreins und Seide, mit der das Grabtuch eingewickelt gewesen war. Zur Kontrolle wurde dieses „Model“ mit einem Stück Leinen aus der Zeit Jesu durchgeführt, welches aus dem Bestand des israelischen Amtes für Altertümer zur Verfügung gestellt wurde. Laut Datierung stammte die Probe aus der Zeit zwischen 100 v. Chr. und 100 n. Chr. Dann wurden die Bedingenden geschaffen, wie sie sich aus der Überlieferung in Chambéry gestaltete. Anschließend simulierte man den Brand und die Löschversuche. Eine anschließende erneute Datierung ergab, das Leinen war innerhalb weniger Stunden um viele Jahrhunderte jünger geworden.
Darüber hinaus existiert eine alternative Methode, das Alter von Leinen zu bestimmen. Diese Methode ist allerdings sehr ungenau, lässt aber immerhin den Schluss zu, dass das Tuch vor dem Mittelalter entstanden sein muss. In den Zellwänden von Flachs (aus dem Leinen gewonnen wird) ist Lignin eingelagert, was der Faser Stabilität verleiht. Lignin wird aber unter gewissen Umständen nach einiger Zeit zu Vanillin. Entsprechende Tests konnten nachweisen, dass sich ein Großteil des Lignins im Gewebe des Turiner Grabtuchs in Vanillin umgewandelt hat, vielleicht auch alles. Lagert man Leinen bei 25 Grad Celsius – so haben es Berechnungen ergeben – muss es mindestens 1319 Jahre alt werden, um 95 Prozent seines Lignins zu verlieren. Bewahrt man es bei 20 Grad auf sind es sogar 3095 Jahre. Vorsichtig geschätzt muss das Turiner Grabtuch also vor dem Jahre 700 entstanden sein. Leinenfunde aus der Zeit Jesu vom Toten Meer sind ebenfalls Lignin-frei. Leinen aus dem Mittelalter hingegen nicht. Würde die Radiokarbondatierung wirklich stimmen, so müsste aber noch 37 Prozent des Lignins nachweisbar sein. Vor diesem Hintergrund und den Gründen, die für ein höheres Alter des Leinens sprechen, sind die Ergebnisse von 1988 für Null und Nichtig zu erklären.
Die Passion geschrieben mit Blut
Wie bis jetzt festgestellt wurde, zeigt das Grabtuch die Abbildung eines toten Mannes, der offenbar gewaltsam zu Tode gekommen und nach jüdischem Begräbnisritual bestattet worden war. Durch gerichtsmedizinische Untersuchungen der Wunden des Mannes auf dem Grabtuch konnte zudem der Ablauf seines Sterbens rekonstruiert werden. Das Blut erzählt in schonungslos körperlicher Präsenz die Geschichte eines zu Tode Gemarterten. Der Mann wurde offenbar nach römischer Praxis gekreuzigt. Zuvor hatte er zudem eine Geißelung und eine Dornenkrönung über sich ergehen lassen müssen. Darüber hinaus spricht nichts dagegen, dass das Tuch auch wirklich das ist, was es zu sein vorgibt: das Grabtuch Jesu Christi. Das Grabtuch ermöglicht es uns also, jenen folgenschwersten Tod der Geschichte, die Kreuzigung Jesu Christi in einer Deutlichkeit nachzuvollziehen, wie es allein durch das Lesen der Leidensgeschichte in den Evangelien nicht möglich ist.
Vor allem die schlecht zu erkennenden Male auf der Rückseite der Abbildung sind faszinierend. Bilden sie doch etwas ab, was bisher kein moderner Mensch je gesehen hat: die Wunden einer Geißelung. Als 1978 im Zuge der ausführlichen Untersuchung des Grabtuches auch eine ganze Reihe von hochauflösenden Fotos gemacht wurde, konnten die Geißelhiebe in nie dagewesener Deutlichkeit sichtbar gemacht werden und offenbaren zugleich eindrücklich die furchtbare Marter, die dieser Verurteilte über sich hat ergehen lassen müssen. Es waren Reißwunden, die von zwei runden, circa 12 Millimeter großen Kugeln am Ende einer Geißel verursacht wurden. Diese zwei Kugeln waren offenbar mit einem kleinen Steg verbunden. Während die Kugeln immer jeweils zwei parallele, klar abgetrennte Wunden verursachten, wo sie die Haut aufrissen, sind die Wunden des Steges nur sehr schwach zu erkennen. Seit Jahrhunderten war es erstmals wieder möglich, die Wunden, die eine römische Geißelung auf dem Körper eines Menschen hinterließen in ganzer Schärfe zu betrachten. Die Spuren passen zu den Wunden, die ein Flagrum oder Flagellum, eine römische Geißel auf der Haut eines Menschen hinterlassen würde. Dieses Folterwerkzeug besteht aus einem Griff, an dem zwei oder drei Lederriemen befestigt sind, an deren Ende wiederum zwei durch einen Steg befestigte Bleikugeln hingen. Mit einem solchem Marterwerkzeug wurde auf Jesus eingeschlagen. Die Geißelwunden sind auf dem ganzen Körper verteilt und wurden mit erschreckender Konsequenz von erfahrener Hand ausgeführt. Es wurden mindestens 100 bis 120 Schläge gezählt. Vermutlich sind es aber weit mehr. Die einzigen verschonten Stellen waren die Unterarme, was darauf hindeutet, der Gemarterte muss mit über dem Kopf angebundenen Armen und nacktem Oberkörper dagestanden haben, während seine Folterknechte ihn schlugen. Der Anordnung der Wunden zufolge sind es vermutlich zwei Knechte gewesen, die abwechselnd von verschiedenen Seiten auf ihr Opfer einprügelten. Die Geißelung war eine beliebte Foltermethode im römischen Reich. Sie war aber so brutal, dass sie bei römischen Bürgern nur in Härtefällen angewandt werden durfte. Bei Nicht-Römern hingegen, wie Jesus einer war, spielten derlei Bedenken keine besonders große Rolle. Die Folterknechte, die diese Technik beherrschten und anwandten, nannte man Lictores, die Leibwache der Magistrate. Die Geißelung wurde in der Regel in aller Öffentlichkeit vollstreckt, wobei die Liktoren oft so lange unbarmherzig auf ihr Opfer einschlugen, bis dieses zusammenbrach, oft auch darüber hinaus. Dem enormen Blutverlust, dem Schock und der Wahrscheinlichkeit innerer Verletzungen erlagen die Gegeißelten zumeist entweder gleich vor Ort oder einige Zeit später. Die wenigsten überlebten, zumal der Körper nach einer Geißelung Krankheitserregern und Infektionen buchstäblich offenstand. Nach der Geißelung war der Blutdurst der Soldaten aber offenbar noch keineswegs gestillt. In schrecklicher Grausamkeit ersannen sie eine weitere Foltermethode, die es so eigentlich gar nicht gibt. Sie flochten eine Krone von Dornen und setzten sie Ihm aufs Haupt. Die zahlreichen unregelmäßigen Einstichwunden sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. Die Wundmale am Kopf Jesu, die auf dem Turiner Grabtuch zu sehen sind, deuten aber eher auf eine Art Dornenhelm oder Haube hin und nicht auf einen Kranz, wie er normalerweise dargestellt wird. Zudem weist die Fließrichtung der Rinnsale am Kopf darauf hin, dass Er zum Zeitpunkt der Abnahme dieser Dornenhaube schon vom Kreuz abgenommen worden war und in der Horizontalen lag. Doch all die Qualen waren nur ein Vorspiel zum eigentlichen Geschehen: die Kreuzigung. Im Römischen Reich war sie die gefürchtete und berüchtigte Hinrichtungsart. Seit den punischen Kriegen im zweiten Jahrhundert vor Christus hatten die Römer diese von den barbarischen Karthagern übernommen und wandten sie seither unzählige Male an. Sie war so grausam und schrecklich, dass römische Bürger nur bei bewaffneter Rebellion und Desertation damit bestraft werden durften.
Das Urteil, welches über Jesus ausgesprochen wurde, war so kurz wie unheildrohend: „Ibis in crucem.“ Bedeutung kam dabei nicht zuletzt dem „Ibis“ zu. „Du wirst gehen“, kann man es übersetzen. Der Gang zur Kreuzigungsstelle war also Teil der Bestrafung. Dem Verurteilten wurde ein Querbalken, das sogenannte Patibulum auf die Schultern gebunden, um ihn so – geschwächt von der Geißelung und dem Blutverlust einem Kollaps nahe – zum Ort seiner Hinrichtung wanken zu lassen. Dadurch, dass die Arme und Schultern fest an den Balken gefesselt waren, wurde der Oberkörper in eine zerreißende Spannung gezwungen. Die zwei großen Wunden an den Schultern, die auf dem Grabtuch zu sehen sind, belegen das. Die zuvor geschlagenen Geißelwunden waren durch das raue Holz aber nicht aufgerissen, wie als ob sie durch etwas geschützt wurden. In den Evangelien lesen wir, dass Jesus sein Gewand nach der Geißelung wieder angezogen bekommen hatte. Das ist zwar ein unübliches Handeln. Eigentlich wurden Verurteilte immer nackt oder nur mit einem Lendenschurz bekleidet durch die Straßen geprügelt. Das Turiner Grabtuch belegt aber, dass die Evangelisten diese Besonderheit richtig und zutreffend notiert hatten. Nun war Er den Schlägen und Stößen seiner Henker schutzlos ausgeliefert. Bei einem Sturz konnte Er die Arme nicht zur Hilfe einsetzen, sodass Er ohne Schutz immer wieder auf Sein Angesicht fiel. Das Gewicht des Patibulums wird die Qualen noch verschlimmert haben. Die Verletzungen im Gesicht, die Hämatome an der Stirn und am Augenbrauenbogen, das verletzte Jochbein und die zertrümmerte Nase: Zeugen Seiner Stürze auf Seinem Weg nach Golgota. Auf den Knien der Abbildung auf dem Grabtuch hat man Staub vermischt mit Blut gefunden. Der Staub wurde analysiert und es stellte sich heraus, er war der Gegend von Jerusalem zuzuordnen. Wird es jener Straßenstaub gewesen sein, der an Seinen blutigen Knien haften blieb, nachdem er sich nach einem Sturz auf Seinem Kreuzweg mühsam wieder hochkämpfte? Ein weiteres Detail, welches den Betrachtern der letzten Jahrhunderte nicht bekannt gewesen war und dennoch von einem mittelalterlichen Maler angebracht worden sein soll? All diese Qualen! Lassen sie jene anderen Details der Schilderung Seines Kreuzweges nicht glaubwürdig erscheinen? Seine Mutter, die von Schmerz zerrissen mitansehen muss, was ihrem Kind angetan wird. Die weinenden Frauen am Rande Seines Weges. Der Bauer aus Zyrene, der Ihm das Kreuz tagen half, damit Er nur irgendwie auf jenem kleinen Hügel ankommen konnte und wenn auch nur auf Knien rutschend.
Dort angekommen wurde Er mit Nägeln durch die Handgelenke an den Querbalken mittels grausamer Hammerschläge genagelt. Anschließend wurde dieser Querbalken den Stamm des Kreuzes, dem Stipes hochgezogen und festgebunden. Die Marter und Pein, die in dieser Beschreibung liegen, sind fast unbeschreiblich. Die Nägel wurden durch die Spalte zwischen der Elle und der Speiche getrieben. Bei diesem Vorgang wurde jedoch der zentrale Nerv, der die Hand steuert, stark verletzt. Die Folge sind unmenschliche Qualen und der Daumen zieht sich in die Handfläche. Daher ist dieser auf dem Grabtuch auch nicht zu sehen. Die Nagelwunden präsentieren sich auf dem Turiner Grabtuch als viereckige Löcher mit circa einem Zentimeter Kantenlänge. Ein solcher Nagel war also von Nöten, einen lebendigen menschlichen Körper anzunageln. Auf fast allen Kreuzesabbildungen sind die Nägel durch die Handflächen geschlagen worden. Versuche verschiedener Pathologen haben aber ergeben, dass die weiche Handfläche das Gewicht eines Körpers niemals gehalten hätte. Die Hände wären im wahrsten Sinne des Wortes durchgerissen. Nur das Handgelenk vermag den Körper zu halten, da hier ein natürlicher Schlitz zwischen Elle und Speiche klafft, durch den man einen Nagel treiben kann. Erstaunlicherweise sind die Nagelwunden der Hände auf dem Turiner Grabtuch ebenfalls nicht an den Handflächen, sondern an den Handgelenken. Ein Fälscher hätte diese anatomischen Kenntnisse haben müssen und sich zudem noch über alle gängigen Konventionen seiner Zeit bei der Darstellung der Kreuzigung hinwegsetzen müssen. Der Annagelungspunkt widerspricht auch keineswegs den Schilderungen der Evangelien. Das lateinische „manus“ ist unbestimmter als das deutsche Wort „Hand“ und meint neben der Hand an sich auch noch das Handgelenk und den unteren Teil des Unterarms. Nun liegt Er also da, an Händen angenagelt. Jetzt wird der Querbalken hochgezogen. Dadurch hängt Er nur noch an den Nägeln, die ihm durch Sein Fleisch getrieben wurden. Die Schmerzen sind so groß, dass das Er fast die Besinnung verliert und sich windet wie ein Fisch an der Angel. Von einem römischen Dichter wurde ein Gekreuzigter auch einmal als Fahne bezeichnet, die am Mast des Kreuzes wehen würde. Nachdem der Verurteilte hochgezogen und befestigt wurde, ist es nun an den Folterknechten, seine Beine zu fixieren. Die Position der Wunden der Füße auf dem Grabtuch sprechen dafür, dass Jesu Füße übereinandergelegt wurden und dann direkt mit einem einzigen großen Nagel an das Stipes angenagelt wurden. Das Blut des linken Fußes scheint ganz normal nach unten abgelaufen zu sein, während das des rechten Fußes verwischt ist. Das lässt sich dadurch erklären, dass der linke auf den rechten Fuß genagelt wurde. Dadurch stand der Gekreuzigte nur auf diesem Nagel.
So überaus schmerzhaft eine Annagelung auch sein mag, sie war letztlich nicht die Todesursache. Vier zentimetergroße Löcher vermögen das nicht. Hängt ein angenagelter Körper in senkrechter Position an einem Kreuz, so sackt er nach unten. Der Brustkorb dehnt sich. Und auch die Arme dehnen und die Knie beugen sich. Der Kopf fällt nach vorne zwischen die Schultern. Eben die Position, die der Leichnam auf dem Turiner Grabtuch einnimmt. Durch die Nägel bleibt Er aber fest am Kreuz. Wie medizinische Untersuchungen ergaben, fällt durch diese Position der Blutdruck rapide ab. Der Delinquent leidet unter Atemnot, da seine verrenkte Position und der gedehnte Brustkorb das Ausatmen unmöglich machen. Dadurch wird das Herz über die Maßen belastet. Eine Kreislaufinsuffizienz ist die Folge. Um wieder Luft zu bekommen, muss sich der Gekreuzigte aufrichten. Die dadurch entstehenden Schmerzen sind unbeschreiblich, weil einzig der durch die Füße getriebene Nagel einen Halt für das Aufrichten gibt. Hat Er sich in eine aufrechtere Position gekämpft, bleibt gerade genug Zeit, um kurz verzweifelt nach Luft zu schnappen. Danach fällt der Gemarterte erschöpft zurück in die Ausgangsposition. Nun kann Er wieder nicht atmen. Also muss Er sich erneut aufrichten. Diese Agonie wird dann so lange wiederholt, bis der Verurteilte keine Kraft mehr hat und erstickt. Ein Todeskampf im wahrsten Sinne des Wortes. Die Belastung für den Kreislauf ist während dieser Prozedur unglaublich hoch. Aufgrund des Sauerstoffmangels verfärbt sich die Haut violett oder wird totenblass. Auch fängt der Gekreuzigte an stark zu schwitzen, sodass Schweiß den ganzen Körper bedeckt. In den 40er-Jahren wurden im Konzentrationslager Dachau „Experimente“ durchgeführt, die darin bestanden, Lagerinsassen an den Händen aufzuhängen, sodass ihre Beine in der Luft baumelten. Sie zeigten die hier beschriebenen Symptome.
Der andauernde Wechsel der Position am Kreuz ist auch auf dem Grabtuch nachzuvollziehen. Die Rinnsale an den Nagelwunden der Hände verlaufen in unterschiedliche Richtungen, wie als ob der Körper am Kreuz in ständiger Bewegung gewesen wäre. „Die von einem sie durchbohrenden Fremdkörper gequälten Glieder konnten nur durch einen noch zwingenderen Impuls auf vegetativen Niveau zu solchen Bewegungen veranlasst worden sein: die Notwendigkeit zu atmen.“ (SILIATO 1999, S. 311) Dadurch, dass die Arme in einem unnatürlichen Winkel an das Kreuz genagelt sind, entsteht jedes Mal, wenn der Gekreuzigte nach dem Einatmen wieder zurückfällt ein schmerzhafter Zug im Schultergelenk. Ist Er wieder in sich zusammengesunken, sind seine Arme so verdreht, dass der Zug auf die Schultergelenke nicht abnimmt. Kämpft Er sich dann wieder in eine aufrechtere Position, wird dieser Zug verstärkt. Durch diesen aus drei Richtungen entstehenden Zug auf die Gelenke quittieren diese irgendwann den Dienst. Die Folge: beide Schultern sind ausgerenkt, was nach und nach durch das Reißen der Bänder und das Heraustreten des Gelenkknorpels verschlimmert wird.
Wie aber ist Jesus gestorben? Auch darüber gibt das Grabtuch Auskunft. Er hatte durch die Geißelung, Dornenkrönung und Kreuzigung sehr viel Blut verloren. Zudem war Er durch Schweiß und Feuchtigkeitsmangel stark dehydriert. Das hat zu einer Verringerung der Blutmenge im Kreislauf und zu einer Verdickung des Blutes geführt, was nach und nach zu einem hypovolämische Schock führte. Dieser äußerte sich unter anderem durch schrecklichen Durst, wie im Johannesevangelium beschrieben: „Danach, da Jesus wußte, daß schon alles vollbracht war, daß die Schrift erfüllt würde, spricht er: Mich dürstet! (Joh. 19,28) Zusammen mit der Position am Kreuz resultierte daraus eine mechanische Herzinsuffizienz. Auf einen hypovolämischen Schock reagiert der Körper damit, dass er die Blutzufuhr auf die Organe eingrenzt, die unmittelbar zum Überleben notwendig sind, vor allem auf das Gehirn. Es kommt daher nicht selten vor, dass Unfallopfer auch mit starken Verletzungen bis zum Schluss klar und deutlich mit den Ärzten kommunizierten, bis sie dann plötzlich versterben.
Die Zeugnisse aus den Evangelien, die diese letzten Momente im Leben Jesu beschreiben, sind erstaunlich exakt und lebensnah. Der Gekreuzigte rang mit dem Ersticken, verlor aber Sein Bewusstsein nicht. Er sprach in kurzen und abgerissenen Sätzen mit dichtestem Gehalt, bevor Er wieder Luft schöpfen musste. Letztlich war das Ergebnis unausweichlich. Der allgemeine Zustand des Körpers, die zahlreichen Verletzungen, der Blutverlust, die Atemnot und die sich daraus ergebende Herzinsuffizienz führten zu einem schnellen und plötzlich eintretenden Tod durch Herzversagen. In dem Moment aber, in dem das Herz stehen bleibt, zerreißt ein letzter großer Schmerz den Körper, weil sich der Herzmuskel noch ein letztes Mal krampfhaft zusammenzieht: „Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.“ (Mt. 27,50). All das wurde niedergeschrieben, als die medizinischen Vorgänge, die zu Jesu Tod führten noch gänzlich unbekannt waren. Dennoch sind sie korrekt, was ein Beweis für die Historizität jener Texte ist.
Nachdem aber Jesus gestorben war, so schreiben die Evangelien, öffnete einer der Soldaten Seine Seite mit einer Lanze „und sogleich floss Blut und Wasser heraus.“ (Joh. 19, 34) und damit kommen wir zu der letzten und wohl auffälligsten Wunde, die auf dem Grabtuch zu sehen ist. Auf der rechten Seite des Brustkorbes klafft sie deutlich erkennbar. Etwa viereinhalb Zentimeter lang und eineinhalb Zentimeter breit. Die Maße passen zu den Klingenblättern römischer Lanzen, wie sie zur Zeit Jesu in Gebrauch waren. Unter der Wunde befindet sich ein ungefähr 15 Zentimeter langes Blutrinnsal, was darauf hindeutet, dass die Wunde dem Gekreuzigten zugefügt wurde, als er noch aufrecht am Kreuz hing. Gerichtsmediziner konnten nachweisen, dass die Lanzenwunde post mortem zugefügt wurde. Dafür spricht die relativ geringe Blutmenge die ausgetreten ist, ohne dass es Anzeichen dafür gibt, dass es sprudelnde Aktivität gegeben hätte, wie als ob das Herz noch geschlagen hätte. Sie hat nichts mit den eleganten Wunden gemein, wie sie unzählige Male auf den Bildern Christi am Kreuz gemalt wurde in den Jahrhunderten. Es ist eine klaffende Wunde mit ausgefransten Rändern, eine gewaltsame Öffnung des Brustkorbes zwischen der fünften und sechsten Rippe. Auch ergoss sich das Blut keinesfalls kunstvoll über den Leichnam, es floss einfach heraus und besudelte den Körper des Gekreuzigten. Ebenso befand sich die Wunde an einer Stelle, dass falls sie von einer Lanze stammte, durch die Muskeln schnitt und unter Garantie das Herz treffen würde. Derjenige, der die Lanze führte, wusste also genau, was er tat und hatte dies wahrscheinlich schon öfter gemacht.
Nun gibt es aber auch Schilderungen von Kreuzigungen, wo die Verurteilten langsam und nicht plötzlich wie Jesus verschieden. Ein Beispiel sind die beiden Schächer, die zur Seite Jesu mitgekreuzigt wurden. Diesen wurden die Beine zerbrochen, womit sie in sich zusammensackten und erstickten. Jesus aber ist nicht den Erstickungstod gestorben, sondern an Herzversagen. Dafür spricht auch der pathologische Befund des Blutes an der Brustwunde auf dem Grabtuch. Die Zusammensetzung des Blutes legt als Todesursache ein massives Trauma nahe. Die Haltung des Abbildes auf dem Grabtuch zufolge hatte die Leichenstarre schon am Kreuz eingesetzt. Daher wirkte der Körper auch so seltsam verrenkt. Zumal die Hände gekreuzt über dem Geschlecht sind und damit eigentlich viel zu tief liegen. Nur wenn man die Arme durchstreckt, kommen die Hände so weit runter, was allerdings sehr unbequem und bei entspannten Armen nicht möglich ist. Wenn aber die Leichenstarre bereits am Kreuz eingesetzt hatte, und sich demnach die Arme noch in einem gestreckten Zustand befunden haben, ergibt dieses Detail Sinn. Auch die Haltung des Kopfes deutet darauf hin. Dieser muss in einem Winkel von 45 Grad geneigt gewesen sein, als die Starre einsetzte. Denn auf dem Grabtuch hat der Leichnam scheinbar keinen Hals, was auf eine derartige Kopfposition schließen lässt.
Darüber hinaus scheint der Unterkiefer mittels eines Tuchs, das um den Kopf geschlungen war, zusammengebunden worden sein. Das würde zumindest auch den weißen Streifen von circa 15 Zentimeter Breite zwischen der Vorder- und Rückansicht des Kopfes erklären. Das stimmt aber wiederum wunderbar mit den jüdischen Begräbnisritualen im ersten nachchristlichen Jahrhundert überein.Nachdem Jesus in das große Leintuch eingewickelt worden war, das wir heute als das Turiner Grabtuch kennen, wurde Er ins Grab gelegt. Was nun geschah, wie Sein Abbild auf das Tuch kam, geschah nicht ohne Grund in der Abgeschiedenheit des Grabes und in aller Stille. Bleibt es so doch jenes Mysterium, das die Menschen seit nunmehr 2.000 Jahren mit Staunen erfüllt, gewahrt.
Was bleibt…
Ist das Grabtuch von Turin also das Leintuch, in das Jesus nach seinem Tod am Kreuz an jenem Freitag im April des Jahres 30 n. Chr. eingehüllt wurde? Nun, immer wird es jemanden geben, der die Echtheit anzweifeln oder leugnen wird. Gründe für die Authentizität gibt es indes nicht wenige. Sowohl die Herstellung des Leinens spricht für seine Echtheit als auch der Pollenbefund auf dem Tuch. Die roten Flecke wurden als Blut identifiziert und passen laut medizinischen Gutachten exakt zu den Spuren, die eine römische Geißelung und eine Kreuzigung hinterlassen würde. Und dann wäre da noch jenes nicht zu erklärende Bildnis eines nackten Mannes auf dem Leinen, das ebenfalls deutlich und anatomisch korrekt die Spuren einer Kreuzigung aufweist. Im Gegensatz dazu spricht für die landläufige Hypothese, das Grabtuch sei eine Fälschung aus dem Mittelalter einzig die Radiokarbondatierung aus dem Jahr 1988, welche aber zu Recht angezweifelt werden darf. Zu viele Unstimmigkeiten und Fehlerquellen sind auszumachen, als dass die Richtigkeit des Ergebnisses unhinterfragt hingenommen werden müsste. Darüber hinaus ist das Leintuch als mittelalterliche Fälschung einfach nicht zu erklären und einzuordnen. Der Fälscher hätte sich zunächst ein Leintuch besorgen müssen, das sich eine gewisse Zeit in Jerusalem, in Edessa und in Konstantinopel hätte befunden haben müssen. Dann hätte das unbekannte Genie die Blutflecke anatomisch und pathologisch korrekt auf das Tuch malen müssen. Dazu hätte er aber keine herkömmliche Maltechnik verwenden dürfen, da sich in dem Blut keine Pinselstriche finden. Zudem hätte das Blut von einem an einem schweren Trauma verstorbenen sein müssen, um danach noch in einige Blutflecke Steinstaub aus den Straßen Jerusalems zu streuen. Anschließend hätte der Fälscher jenes nicht zu erklärende Abbild eines gekreuzigten Mannes auf das Leinen auftragen müssen, mittels einer Technik, die Wissenschaftler bis heute vor Rätsel stellt. Und alles so, damit der antiken jüdischen Bestattungsart Genüge getan gewesen wäre. Darüber hinaus hätte er das Bildnis als Negativ und als dreidimensionales Bild malen müssen. Beides war im Mittelalter aber noch nicht bekannt. Und wäre das noch nicht genug, hätte er diese bahnbrechende Meisterleistung völlig unbemerkt von der Welt entwickeln müssen, um sie dann genau ein einziges Mal anzuwenden und dann für immer zu vergessen. Es ist müßig zu erwähnen, dass einige dieser Punkte bis ins 20. Jahrhundert hinein verborgen blieben, da sie mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind. Wieso sollte also ein mittelalterlicher Künstler derartiges tun, wenn es doch keinem seiner Zeitgenossen auffallen konnte?
Und dann wäre da noch der Umstand, dass die Darstellung Christi auf dem Tuch in allen Punkten in eklatanter Weise von allen anderen mittelalterlichen Darstellungen abweicht. So resümiert der Kunsthistoriker Thomas Wesselow treffend: „Aus kunsthistorischer Warte ist die Überlegung, das Körperbild auf dem Grabtuch könne kurz vor 1356, dem angenommenen Datum seiner ersten Ausstellung in Lirey, gemalt worden sein, ist unhaltbar. Das Bildnis auf dem Grabtuch ähnelt in nichts irgendeinem anderen Gemälde aus der Zeit.“ (WESSELOW 2013, S. 176). Bilder des gestorbenen Christi aus dem Mittelalter bilden ein Ideal ab. Im Gegensatz dazu zeigt das Turiner Grabtuch einen gemarterten Mann mit gebrochener Nase und geschwollenem Auge, mit verrenkten Gliedern und über und über bedeckt mit grausigen Wundmalen. Kein Maler des Mittelalters hätte sich getraut, Christus in einem solchen Zustand zu malen. Man nehme doch nur einmal die Augen Jesu auf dem Grabtuch. Sie sind als undeutliche leere Augenhöhlen dargestellt, die von innen heraus zu leuchten scheinen. Keine fein gemalten, mandelförmigen Augen, keine Augenlider, keine Pupillen. Kein Maler des 14. Jahrhunderts hätte sich Christi Blick so leer vorgestellt. Es ist schwer zu glauben, dass ein mittelalterliches künstlerisches Genie, das keiner kennt, ein Abbild des Erlösers geschaffen hätte, das so diametral den damaligen Schönheitsidealen in der Kunst gegenübersteht.
Da also aus naturwissenschaftlicher und historischer Sicht das Leintuch als auch die Spuren der grausamen Folter darauf dermaßen überzeugend sind, bleibt nur die Annahme, er handelt sich bei dem Leintuch wirklich um das Leichentuch eines Juden, der von der römischen Staatsmacht zur schrecklichsten aller Strafen, der Kreuzigung verurteilt worden war und in Jerusalem begraben wurde. Anzunehmen, dieses pathologisch und historisch korrekte Bildnis eines Gekreuzigten sei von mittelalterlicher Hand mit Blut gemalt, ist absurd. Wie der jüdische Historiker Ernst Kitzinger treffend feststellt: „Es gibt kein Gemälde mit Blutspuren wie denen auf dem Grabtuch. Sie können suchen, wo Sie wollen, aber Sie werden keine finden.“ (zit. WESSELOW 2013, S. 173). Nach heutigem Wissensstand ist uns aber nur ein einziger von den Römern gekreuzigter Jude bekannt, der mit Dornen gekrönt wurde. Der historischen und archäologischen Beweislast zufolge bleibt eigentlich nur ein Schluss: Es ist das Grabtuch des Jesus von Nazareth. Das heißt aber auch, jener Zimmermann aus Nazareth, dessen Leben und Sterben in den vier Evangelien des Neuen Testaments beschrieben wird, hat zweifelsfrei existiert und starb so, wie es von Christen auf der ganzen Welt seit nunmehr zwei Jahrtausenden geglaubt wird!
Vor diesem Bündel an hier nachgezeichneten Möglichkeiten, die Echtheit des Grabtuches zu ermitteln, sind die Datierungen jener Labors bedeutungslos. Sie dienen höchstens als anschauliches Beispiel wissenschaftlicher Hybris. Das Tuch wurde chemisch, medizinisch, historisch und archäologisch untersucht. Letztlich spricht also alles dafür, dass das Leinen 2.000 Jahre alt sein muss und damit das, was es scheint: das Tuch, in welches unser Herr Jesus Christus nach seinem schrecklichen Tod am Kreuz gewickelt wurde. Und er wäre auch darin verblieben, hätte sich nicht drei Tage nach Seinem Tod etwas ereignet, was jenes Leinen zu einem der größten Schätze der Christenheit machte. Das Grab war leer und das Leinen barg von nun an jenen geheimnisvollen Abdruck des Gekreuzigten. Der Leichnam aber war verschwunden und der Gekreuzigte auferstanden. Doch wird es auch in Zukunft genug Menschen geben, die der letzteren Option zuneigen werden. Nicht umsonst hat das Grabtuch von Turin wie kein anderer archäologischer Fund in der Geschichte des Abendlandes auf jede neue wissenschaftliche Auskunft eine solche Flut von Gegenhypothesen, eine solche Kette von wildesten Phantastereien ausgelöst. Kein Gegenstand wurde jemals so heftig und ausdauernd diskutiert und zerredet. Eigentlich sollte es nicht verwundern, dass Jesus von Nazareth als historische Persönlichkeit Spuren in der Geschichte hinterlassen hat. Doch darf hier offenbar nicht sein, was nicht sein soll – zumal das Grabtuch durch die darauf befindliche Abbildung ungebrochen der Glanz eines Wunders umstrahlt. Und spätestens hier scheiden sich die Geister, denn „Er wird zum Heiligtum werden, zum Stein des Anstoßes und zum Felsen, an dem man strauchelt (…). Viele werden darüber straucheln, fallen und zerschellen; sie werden sich verstricken und verfangen.“ (Jes. 8, 14f.)
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